Am nächsten Morgen saßen Finan und Elyon wieder in der Klinik, doch dieses Mal nicht im Warteraum in der Nähe des Eingangs. Man hatte sie ein Stockwerk höher geschickt, wo sie in einem viel kleineren Wartezimmer saßen. Niemand sonst saß in dem Raum, den man mit kleinen Nadelbäumen in Töpfen geschmückt hatte, sowie einem hellblauen, großen Teppich. Zusätzlich versank Finan einen weichen, gepolsterten Sessel, was eindeutig dafür sprach, dass man hier länger auf seinen Termin warten musste.
Sie hatten einen Platz neben dem Fenster ergattert und Elyon starrte schweigsam in die Leere. Sie hatte seit gestern kaum noch gesprochen. Selbst als Wotan sie zum Essen in die Stadt eingeladen hatte, hatte sie während ihrer Gespräche kaum ein Wort gesagt, was nicht überraschend war, doch sie hatte auch eindeutig kaum zugehört.
Ihre Miene hatte auch jetzt nicht die übliche grimmige und forsche Finsternis, stattdessen war ihr Gesicht mit Sorgenfurchen verzerrt. Finan wagte es nicht ihr irgendeinen Trost, außer seiner Gegenwart anzubieten. Er konnte sich nicht vorstellen, was es bedeutete, eine korrupte Gabe zu haben. Er hatte von den Schattenwesen gehört, die dank korrupten Gaben entstanden waren. Seine Feuerkameraden hatten Geschichten miteinander geteilt. Es endete üblicherweise damit, dass sich die Betroffenen als wahnsinniges Ungeheuer alleine um ihr Schicksal in den Wäldern kämpfen mussten. Und wenn sie den Menschen zu gefährlich wurden, mussten sie mit ihrem Leben bezahlen.
Das würde Elyon nicht passieren. Es durfte ihr nicht passieren. Sie mussten noch nach einer Lösung für den Fluch finden, bevor er Nevin endgültig verlor. Und so stachelig sie manchmal war, Finan fand ihre Gesellschaft immer noch viel angenehmer als die von den meisten Adeligen, die er bis jetzt getroffen hatte. Elyon war nie aufgesetzt oder heuchlerisch. Das war selten zu finden, zumindest im Kaiserreich.
»Elyon?«, rief eine der Krankenpfleger. Die junge Frau hatte ihre Haare zu einer komplizierten Flechtfrisur zusammengebunden. Finan zählte mindestens sieben Stränge. Alle Pfleger in der Klinik trugen einfache hellgraue, langärmlige Hemden und Hosen. Die Ärzte trugen über dieser Kleidung noch einen Überwurf, der fast an einer Schürze erinnert, oder einen der langen Mäntel, wie sie die Gelehrten trugen. Ihre Kleidung war jedoch nicht edel genug, als dass Finan ihnen lange seine Beachtung schenkte. Und selbst wenn sie es gewesen wären, Aufregung machte sich in seinem Magen breit und er war zu sehr von dem klammen Gefühl abgelenkt, um an etwas anderes zu denken.
Sie wurden in ein kleines aber langes Zimmer geführt. Ganz hinten auf der anderen Seite stand ein kleiner Schreibtisch vor einem breiten, mit Büchern vollgestopftes Regal. Nicht weit davon stand eine Gruppe von drei hellblauen Sesseln, um einen kleinen Tisch platziert. Auf einem von ihnen saß die Ärztin, gekleidet mit einem der besagten Mäntel. Augen die fast so grau und hell waren wie der Winterhimmel sahen sie über fingerdicke Brillengläser hinweg an. Sie stand lächelnd auf und legte ihr Schreibpult auf den Tisch.
»Ah! Ihr seid unsere verehrten Gäste aus dem Geschlossenen Westen! Es ist mir eine Freude, euch kennenlernen zu dürfen.« Die Ärztin trat auf sie zu, legte ihre Hände gekreuzt ineinander und verbeugte sich leicht. Elyon und Finan wiederholten die Begrüßungsgeste der Wächter.
Sie bedeutete ihnen, sich hinzusetzen, während sie selbst zurück zu ihrem alten Platz kehrte und ihre Schreibutensilien in die Hand nahm. Sie hatte einen dieser edlen aus poliertem Holz gemachten Füller, die Finan sich auch noch anschaffen wollte, ehe er die Wächterstadt verließ.
»Mein Name ist Erda, ich habe jahrelang Korruptionen studiert und bin für die Gesprächseinheiten verantwortlich, die wir mit Patienten führen, deren Korruptionen noch am Anfang stehen.« Sie sprach langsam und betont, ihre Stimme war klar und passte zu dem noch jugendlichen Gesicht. Nur ihr weißes Haar verriet, dass sie bereits um einiges älter war als ihre Gäste. »Ich versuche zusammen mit meinen Patienten herauszufinden, was die Korruption verursacht hat. Wir haben festgestellt, dass es oft schon hilft, wenn man über vergangene oder auch gegenwärtige Probleme und Schwierigkeiten spricht, um die Korruption wieder loszuwerden. Deswegen bist du hier.«
Finan wagte es nicht, irgendetwas zu sagen. Er löste den Blick von dem weißen Füller und beobachtete Elyons Gesicht. Sie sah blasser aus. Viel blasser als vorhin.
»Es wird empfohlen, dass jemand Vertrautes im ersten Gespräch dabei ist, aber wenn es dir lieber ist, Elyon, alleine mit mir zu sprechen, können wir das auch gerne einrichten.«
Elyon neigte leicht den Kopf nach unten, während sie überlegte, ehe sie antwortete: »Finan kann bleiben.«
Ein warmes Gefühl blühte in seiner Brust auf, doch nur ganz kurz, Finan wollte es nicht wagen, sich irgendwelchen freundschaftlichen Gefühlen hinzugeben, ehe er nicht wusste, wie Elyon zu ihrem Verhältnis stand. Sie begann gerade auf ihrer Lippe zu beißen. Erst jetzt bemerkte er die kleinen Wunden auf ihrer Unterlippe. Die waren neu. Überhaupt hatte Finan noch nie gemerkt, dass Elyon sich auf die Lippen gebissen hatte.
»Gut. Dann beginnen wir doch mit deiner eigenen Geschichte. Erzähle mir bitte etwas über deine Kindheit, deine Eltern, dein Verhältnis zu ihnen, wichtige Erinnerungen, alles was dir so einfällt.«
Elyon nickte und begann zu erzählen. Finan kannte ihre Kindheit, er hatte genug Verbindungen den verschiedensten Personen auf den Sturminseln gehabt und Bedienstete tratschten äußerst gerne.
Doch er hatte sie nie von der Prinzessin selbst gehört. Und es traf ihn mehr, als er erwartet hatte. Ihr dabei zuzuhören, dass ihre Mutter sie als Jungen hatte großziehen müssen, nur um ihr Leben zu retten, während Elyon ihre Finger in ihren Oberschenkel so fest hinein grub, dass ihre Knöchel weiß heraustraten wiegte ihm schwer im Magen und er musste schnell den Blick abwenden. Am Anfang hatte ihre Stimme noch fest geklungen. Doch mit jedem weiteren Wort, klang sie so, als würde Elyon sie aus einer zugeschnürten Kehle herausquetschen.
»Mein Vater ... er fand heraus, dass ich kein Junge bin, ich war noch sehr klein, jemand sah mich draußen im Wald, als ich mich erleichterte und ... dann ...« Elyon brach ab, ihre Lippe zitterte. Sie schloss die Augen und nahm tief Luft. Erda sagte nichts, sondern beobachtete nur und schrieb zwischendurch etwas auf ihrem Papier. Der weiße Füller kratzte und klopfte leise.
»Meine Mutter versuchte zu fliehen. Doch mein Vater holte uns ein, ehe wir das Boot erreichten, mit dem sie fliehen wollte. Er ...« Elyons Stimme zitterte und brach mehrmals ab. Wieder atmete sie tief ein und aus und versuchte weiter zu erzählen. Finan biss sich auf die Lippen und musste sich selbst daran erinnern, nicht die ganze Zeit die Luft anzuhalten. Elyons Hand griff nun nach ihrem Kragen, an dem sie sich zitternd festhielt.
»Er holte auf und brachte meine Mutter um, dann ... warf ...« Schweiß rann Elyons Schläfen herab, sie sah kreidebleich aus, ihre Lippen zitterten, sowie ihre Lider. Ihre Stimme war nur noch ein Flüstern.
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»Wasser ... er warf uns ins ...« Etwas überkam sie. Elyon riss die Augen auf, die restliche Farbe wich von ihrem Gesicht und ihre Schultern, gefolgt von ihrem restlichen Oberkörper zitterten so stark, dass es den Sessel verrückte.
Elyon schnappte nach Luft. Immer und immer wieder. Sie legte ihre Hand um ihre Kehle und beugte sich nach vorne. Sie bekam keine Luft.
Erda war mit einem Sprung vor Elyon, packte ihren Kopf und klopfte mit ihren Handflächen auf Elyons Wangen.
»Komm zu dir, Kind, du bist sicher. Du bist sicher, du ertrinkst nicht, du bist hier in Gerwenen, ganz weit weg von deinem Vater.«
Doch es brachte nichts, Elyon keuchte und keuchte und als Finan meinte, sie konnte keine Farbe mehr verlieren, bewies ihr Gesicht das Gegenteil.
»Finan, nimm Elyon und lege sie vorsichtig auf den Teppich.«
Erda schob Tisch und ihren Sessel zur Seite, um Platz auf dem blauen Teppich freizumachen. Finan packte Elyon um die Oberarme und trug sie hinunter auf den Boden, wo er sie in den Teppich hineindrückte, da sie sich freiwillig nicht hinlegen wollte.
»Finan, nimm ihre Hand und drück sie immer wieder, ich versuche mit ihr zu reden.«
Finan folgte ihrem Befehl und nahm Elyons eiskalte, nassgeschwitzte Hand in seine. Ihr ständiges Keuchen gab auch ihm langsam das Gefühl, als würde die Luft in seinen Lungen knapp werden.
»Elyon, versuche so gut es geht auf meine Stimme zu hören, ja? Ich beweise dir, dass du in Sicherheit bist. Schau, du spürst doch den weichen Teppich unter dir, oder? Und riech mal in der Luft. Es riecht nach Holz, alten Büchern, wahrscheinlich auch leicht staubig. Oh, und vielleicht riechst du ja auch noch die warmen Kekse, die ich vor unserem Gespräch gegessen habe. Du kannst es alles wahrscheinlich nicht sehen, aber ich habe sehr viele Bücher in meinem Zimmer. Ich habe gar keinen Platz mehr für neue. Und aus dem Fenster sehe ich die verschneiten Dächer des Eispalast. Du kannst dich doch sicher noch an das Gefühl zurückerinnern, wie deine Schritte auf dem Schnee auf dem Gehweg geknirscht haben, während ihr hierhergelaufen seid? An die frische Luft und an die vielen Wächtern aus Gerwenen, an denen ihr vorbeigelaufen seid?«
Erda redete immer weiter mit Elyon, erzählte ihr von ihrer Mittagspause und dass sie eine Katze hatte. Nach und nach beruhigte sich Elyons Atem. Finan drückte ihre Hand nicht mehr, sondern rieb sie zwischen seinen warm, bis ihre Fingerspitzen endlich wieder mehr Farbe bekamen.
Irgendwann setzte sich Elyon von alleine wieder auf und suchte mit ihrer Hand nach dem Sessel. Finan half ihr auf und führte sie zu dem Sitzplatz, während Erda den Tisch und ihren eigenen Sessel wieder zurückschob.
»Elyon, bist du in der Lage, mir zuzuhören? Ich habe ein paar Gedanken zu unserer ersten Sitzung. Ich denke, wir könnten dadurch schon einigen Fortschritt schaffen.«
Elyon nahm tief Luft, dann nickte sie.
Finan ließ nicht die Augen von ihr ab. Farbe kehrte in ihren Wangen zurück, doch ihr Blick wirkte leblos und erschöpft. Ihr Mund war leicht geöffnet und wirkte so, als hätte er jegliche Spannkraft verloren.
»Ich kann bereits erahnen, dass du durch viele schwere und herausfordernde Umstände in deinem Leben gegangen bist und meine weitere Vermutung ist, dass all diese Dinge wahrscheinlich einen Einfluss auf deine Gabe haben könnten. Ich weiß, dass es schwer ist über diese Dinge zu sprechen, aber ich bin zuversichtlich, dass es dir sehr viel bringen könnte, wenn du weiterhin zu unseren Gesprächsstunden kommst und über deine Erlebnisse sprichst. Ich habe das Gleiche mit vielen anderen Patienten gemacht und erlebt, dass durch die Gespräche ihre Korruptionen sich gebessert haben. Was hältst du davon, wenn wir dir einen Tag Ruhe geben und du übermorgen wieder hier erscheinst? Gerne wieder in Begleitung von jemanden, dem du vertraust, falls es dir lieber ist.«
Elyon gab nicht sofort ihre Antwort. Ihre matten Augen starrten in die Leere, ob sie noch nachdachte, oder sie tatsächlich so erschöpft war, dass sie keine Antwort geben konnte, konnte Finan nicht deuten. Doch Erda sagte nichts und gab Elyon Zeit.
»Einverstanden. Ich komme übermorgen«, sagte sie nach einer Weile.
Erda schrieb ihr ein Pass, den sie am Empfang vorzeigen musste, dann verließen Finan und Elyon das Gebäude.
Als sie draußen in der kalten Luft standen und ihr Atem wie weißer Nebel gen Himmel stieg, blieben beide mitten im Gehweg stehen, ohne sich weiterzubewegen.
»Bitte, keine Fragen«, wisperte Elyon in ihrer Muttersprache.
Finan seufzte. »Keine Sorge. Ich hatte nicht vor welche zu stellen.«
»Danke«, sagte Elyon und setzte sich in Bewegung. Elyon ging nicht zurück in ihr Zimmer. Sie schlenderte stattdessen in Richtung der Park- und Gartenanlagen dahinter, wo sie ziellos an den mit schneebedeckten Beeten und Büschen vorbeiwanderte.
Finan ließ sie nicht alleine. Er würde erst gehen, wenn Elyon ihn darum bat. Sie sagte nichts.
Als die Glocken des Eispalastes die Stunde vor der Mittagszeit ankündigten, ging Elyon zurück zu ihren Schlafgemächern. Sie hatte ein Einzelzimmer bekommen, da sie noch ihr Seelentier unterbringen musste. Statt sich von ihm zu verabschieden, hielt sie ihre Zimmertür offen und Finan trat hinein in den geheizten kleinen Raum und streichelte Valka, die Elyon im Zimmer zurückgelassen hatte. Die Fähe wirkte noch größer in dem winzigen Zimmer und winselte leise, als Elyon an ihr vorbei zu ihrem Bett stapfte und aus dem Fenster starrte. Elyon setzte sich auf das Bett und starrte durch das Fenster. Valka wandte sich von Finan ab und wollte zu ihrer Herrin laufen, doch sie hielt mitten im Schritt inne, ihre Augen starr nach vorne gerichtet, als würde sie etwas hören. Am Ende wandte Valka sich ab und gesellte sich zu Finan, der sich auf dem Schreibtischstuhl gesetzt hatte und ließ sich von ihm streicheln. Ihr weiches, schneeweißes Fell war eine willkommene Ablenkung, denn die Stille im Raum wurde erst unterbrochen, als jemand eine Stunde später an ihrer Tür anklopfte.
»Herein«, rief Elyon.
»Ich bin es Janne, ich habe gute Neuigkeiten.« Der rothaarige Wächter schlüpfte in den Raum hinein und zog hastig die Tür hinter ihm zu, damit die Kälte des Flurs nicht in den beheizten Raum hinein driftete.
»Oh, ist es unpassend? Geht es euch nicht gut?«
Finan biss sich auf die Lippe. Elyon starrte wieder auf das Fenster.
»Es war ... ziemlich herausfordernd. Das Gespräch in der Klinik«, antwortete Finan.
Janne nickte, in seinem Blick lag Verständnis und er hakte nicht weiter nach, sondern warf stattdessen einen kurzen, mitleidigen Blick auf Elyon.
»Habt ihr schon Mittag gemacht? Falls nicht, könnten wir zusammen Essen, danach soll ich euch in die Gralahalle bringen. Unser ausländischer Besuch ist da und haben heute am frühen Nachmittag für euch Zeit.«
Elyon sah endlich vom Fenster weg in Richtung Janne und stand langsam vom Bett auf.
»Kann Valka mit?«, fragte Elyon.
»Valka kann fast überall hin, solange sie ihr Halsband trägt.«
Elyon nickte, schnalzte leise mit der Zunge und lief zum Tisch, auf den ein schwarzes Lederhalsband lag. Schwarz war die Farbe der Gestaltwandler. Anders als die anderen Wächter, trugen sie jedoch auch immer noch die Farbe ihres Seelentieres als Verzierung an ihren Gewändern. Elyon hatte einen schwarzen Mantel mit weißen Stickereien auf den Schultern und am unteren Saum bekommen, die stilisierten Schnee und Wölfe zeigten. Auch Valkas Halsband war mit weißen Verzierungen bestickt worden. Es trug ein silbernes Wappen, das Abzeichen der Gestaltwandler wodurch jeder unter den Wächtern erkennen konnte, dass sie zu jemanden gehörte.
Finan war dankbar für Jannes Gesellschaft. Seine lockere Art schien auch Elyon immer zu entspannen, da er nie aufdringlich war und dennoch immer interessiert blieb. Er brachte sie in die Stadt, um Mittag zu essen, eine weitere willkommene Abwechslung für Finan, der die täglichen Mahlzeiten im übervollen Speisesaal der Wächter langsam satthatte und die gemütliche Atmosphäre schätzte, die nicht weit von den Toren die zum Palast führte, in einer kleinen Gasse ihre Gäste mit viel gebratenem Fleisch, Eintöpfen und warmen Getränken bediente.
Elyon fasste kaum etwas vom Mittagessen an, obwohl sie ihr noch halbrohes Elchsfleisch bestellt hatten. Sie gab den Rest Valka zum Fressen, ehe sie sich wieder auf dem Weg zurück machten und zum ersten Mal in ihrem Leben Menschen aus einem noch ferneren Osten zu begegnen.