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Elyons Erwachen Band 2 (German)
7.2 Der sechste Monat

7.2 Der sechste Monat

Nach einem späten Frühstück, waren Finan und Elyon mit den anderen verabredet, um über das zu sprechen, was zwischen Elyon und Jesko vorgefallen war. Bo Cheng und James waren Gäste im Eispalast und warteten auf sie in dem riesigen Foyer, das den Eingangsbereich des weißen Gebäudes ausmachte. Heute war der Raum noch voller als sonst. Das Gerede der Menschen war wie eine riesige Meereswelle, die auf Elyon herab prasselte. Selbst mithilfe der Echoortung fand Elyon sich nicht zurecht. Überwältigt von der Masse griff sie, ohne nachzudenken, nach Finans Ärmel. Dieser nahm sofort ihre Hand und legte sie um seinen Oberarm. Er führte sie zu den Treppen, wo James und Cheng sich angeregt mit ein paar Wächtern unterhielten, einer Frau und zwei Männern, in weißen langen Roben.

»Ah! Da seid ihr ja«, sagte James und Elyon begrüßte sie mit einem Beugen ihres Kopfes.

»Warum ist es hier heute so voll?«, fragte Finan.

»Heute findet eine wichtige gerichtliche Anhörung statt«, erklärte Cheng. »Ein berüchtigter Verbrecher aus Gerwenen wurde gefasst. Er besitzt eine sehr starke und gefährliche Erdgabe. Die Geschichten seiner Untaten haben sich sogar im Goldenen Kaiserreich verbreitet.«

»Wird er zu Tode verurteilt?«, fragte Finan.

»Oh nein, hier in der Wächterstadt gibt es keine Todesstrafe. Sie möchten jedem Menschen die Möglichkeit geben, ihr Leben wieder in bessere Bahnen zu lenken«, erklärte James. »Doch wenn sich die Straftäter nicht bessern wollen, werden sie in die nördliche Wildnis dem Urteil der Natur überlassen. Was so gut wie eine Todesstrafe ist, selbst wenn man sehr starke Gaben besitzt.«

Elyon wollte fragen, wieso der Norden so gefährlich war, als der ganze Raum in Stille verfiel.

»Hier kommt er«, wisperte Cheng.

Die Türen wurden aufgerissen. Kräftige Schritte hallten durch den Raum. Elyon vermutete mindestens zehn Wächter. Sie versuchte mit der Echoortung den Verbrecher ausfindig zu machen, doch es waren zu viele Menschen um sie herum. Die Gruppe lief durch den Eingangsbereich und als sie direkt vor ihnen vorbeimarschierten, schnappte Finan nach Luft.

Elyon sah zu ihm auf und für einen kurzen Augenblick, griff sie auf ihre Gabe zurück, mit der sie sich Vinjas Sehkraft borgte. Finans Gesicht war vor Schreck erstarrt, als hätte er ein Ungeheuer gesehen.

Ein stichartiger Druck baute sich in Elyons Augen auf und sie ließ von ihrer Gabe ab.

Langsam breitete sich aufgeregtes Wispern im Eingangssaal aus.

»Finan?«, fragte Elyon und sie tastete nach seinem Arm.

Doch Finan drehte sich von ihr weg.

»Warum hatte der Mann ein blau tätowiertes Ohrläppchen?«, fragte er und obwohl sie hörte, wie er versuchte seine Stimme unter Kontrolle zu behalten, war das Zittern trotzdem noch da. Sein Arm spannte sich an unter ihrem Griff an.

Da tauchte eine Erinnerung auf und Elyon wusste sofort, warum er fragte. Ein Gefühl wie eine eiskalte Hand packte ihr Herz und zerdrückte es. Aik.

»Das ist eine lange Tradition hier in Gerwenen. Alle, die sehr üble Verbrechen begangen haben und als große Gefahr für andere gelten, werden so markiert«, erklärte James, seine Stimme klang verwundert.

Elyon schluckte schwer und packte Finans Mantelärmel umso fester.

»Selbst wenn sie sich die Ohrläppchen abschneiden, wissen trotzdem alle in Gerwenen Bescheid, dass es sich um jemanden gefährliches handelt. Wieso? Finan, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen!«, sagte Cheng. »Ist alles in Ordnung?«

Finan stieß eine ganze Reihe an deftigen Flüchen in ihrer Muttersprache aus.

»Das klingt gar nicht gut. Was ist los?«, fragte James.

»Wir sind jemanden aus Gerwenen in Rovis begegnet. Er hat ebenfalls ein blau tätowiertes Ohrläppchen.«

Stille. Die Last des Schweigens war so schwer, dass sich die Luft um sie herum stickig anfühlte. Elyon schluckte wieder schwer und zwang sich dazu, endlich Finans Ärmel loszulassen.

»Das ... klingt eigentlich unmöglich. Alle Wege ins Kaiserreich sind unpassierbar«, wisperte Cheng.

»Sein Name ist Aik«, sagte Finan.

Wieder Stille. Das erdrückende Gefühl in ihrer Brust wurde stärker und Elyon konnte nicht anders, als wieder ihre Gabe zu benutzen, um in James' und Chengs vor Furcht verzerrte Gesichter zu blicken. Beide Männer tauschten einen kurzen Blick aus, ehe James mit gepresster Stimme sagte: »Kommt mit, wir müssen das sofort dem Ältesten Rat mitteilen.«

-

Es dauerte nur ein kurzes Gespräch mit einem Boten und sie wurden fast sofort in ein großes Wartezimmer im vierten Stock geführt. Sie nahmen Platz auf den weichen Sesseln. Finan, der neben Elyon saß, wackelte unruhig mit einem Bein. Rauf und runter. Rauf und runter. Elyons Magen verknotete sich noch mehr und sie versuchte ihm mit strengen Blicken anzudeuten, dass er damit aufhören sollte. Doch ohne Erfolg.

James und Cheng hatten nichts weiter gesagt, sie waren zu beschäftigt gewesen, jemanden zu finden, dem sie die Kunde weitergeben konnte. Doch sie schienen sofort zu wissen, um wen es sich handelte. Die Stimmung war so angespannt, dass Elyon es nicht wagte, Fragen zu stellen.

Sie hatte jedoch mittlerweile genug von Finans Gezappel und bohrte ihren Zeigefinger in seinen Oberschenkel, woraufhin er endlich aufhörte.

Die Tür wurde gleich danach aufgerissen. Elyon hörte, wie alle anderen aufstanden und tat es ihnen nach. Durch die lauten Schritte des Ankömmlings, wagte Elyon es ein leises Ticken von sich zu geben. Mithilfe der Echoortung erkannte sie einen Menschen, hochgewachsen. Wotan würde auch wahrscheinlich noch erkennen können, ob es ein Mann, eine Frau, jemand Altes oder Junges war. Doch soweit konnte sie noch nicht ihre Gabe nutzen. Auch wenn sie es dringend brauchte. Und wollte. Doch Elyon war schwach. Viel zu schwach. Ein saures Gefühl breitete sich sofort in ihrem Magen aus. Immerhin konnte sie erkennen, dass er helle Gewänder trug. Sie war sich nicht sicher, ob es nur weiß war oder auch grau und hellblau.

This text was taken from Royal Road. Help the author by reading the original version there.

»James, Cheng, danke für eure Nachricht«, begann eine kratzige, altklingende Männerstimme. »Prinz Finan, Prinzessin Elyon, es ist eine Ehre, Euch endlich persönlich kennenlernen zu dürfen. Mein Name ist Gustaf und ich bin Mitglied im Ältestenrat der Wächterstadt. Mir wurde mitgeteilt, dass ihr Aik in eurem Heimatland begegnet?«

Finan bejahte es.

Wieder schwere Stille. Gustaf seufzte schwer.

»Setzt euch«, sagte er. »Bitte erzählt mir alles, was Ihr über ihn wisst, wie Ihr ihm begegnet seid und was er bis jetzt in eurem Land getan hat.«

Elyon überließ Finan das Wort, der in seinem noch etwas gebrochenen Gerwenisch zusammenfasste, wie Aik eines Tages plötzlich Kontakt zu seinem Vater bezüglich des Drachenfluchs aufgenommen hatte und schon bald als sein Berater arbeitete. Er berichtete auch über das persönliche Treffen mit Elyon, was er gesagt und getan hatte.

»Das ist eine Katastrophe«, sagte Gustaf. »Wir müssen sofort etwas unternehmen, jeder Augenblick zählt.«

Elyons Kehle schnürte sich zu und ihr Magen brannte so heftig, dass sie vor Krämpfen immer schwerer aufrecht sitzen konnte.

»Warum? Wer ist Aik? Was hat er getan?«, fragte Finan atemlos.

Gustaf nahm tief Luft, als wäre es eine schwere Last, auch nur darüber sprechen zu müssen.

»Aik stammt aus dem östlichen Gebiet unseres Landes. Dort gibt es nur sehr wenige Menschen, die besondere Gaben haben, also zum Beispiel die Menschen, die natürlichen Elemente steuern oder ihre Gestalt verwandeln können. Es ist ein Gebiet mit talentierten Handwerkern, Bauern, Künstlern und vielem mehr. Leider haben die Bewohner in Ostgerwenen eine ziemlich starke Abneigung gegen bestimmte Gaben entwickelt, die sich schnell in Feindschaft und auch Gewalt äußern kann. Aik ist ein Betroffener. Man nennt ihn den Vierer. Weil er mehrere Naturgaben in einem vereint und er das Wetter um ihn herum beherrschen und verändern kann. Als würde er die Kraft der Vier Jahreszeiten in sich tragen.«

Eine düstere Stimmung breitete sich im Zimmer aus und löste ein Frösteln in Elyon aus.

»Aik wurde von seiner eigenen Sippe bedroht und verfolgt, so wie viele andere, die ebenfalls ähnliche Gaben wie er hatten. Das hat in ihm einen großen Hass ausgelöst und dafür gesorgt, dass er seine Gabe lange und sorgfältig geübt und gestärkt hat, um alle aus seiner Sippe auszurotten, die ihn und seinesgleichen verfolgt haben.«

Sie hörte, wie Finan schwer schluckte. Er ahnte wahrscheinlich bereits wie sie, dass Aik nicht bei einer Sippe aufgehört hat.

»Sein Hass war jedoch zu groß und er schmiedete Pläne, um nach und nach jede Siedlung, jedes Dorf und jede Stadt zu erobern und alle hinzurichten, deren Gaben für ihn nicht hoch genug waren. Und er war so erfolgreich, dass wir verzweifelt um Hilfe gebeten wurden, um ihn zu fassen.«

Das Frösteln ließ nicht mehr nach und verwandelte sich in ein Zittern, dass Elyon kaum zurückhalten konnte. Verzweifelt drückte sie ihren Arm um ihren Bauch, in der Hoffnung, dass sie es so besser maskieren konnte. Ein sauerer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus und darauf folgten noch heftigere Bauchschmerzen. Elyon ahnte es bereits. Sie spürte die weitere Bürde, die auf sie zukommen würde.

»Da Aik viele Anhänger hatte, mussten wir eine ganze Armee aussenden, um ihn zu überwältigen. Die meisten von seiner Seite sind im Kampf gestorben. Wir konnten ihn fassen, doch er ist vor ungefähr vier Jahren geflohen und spurlos verschwunden. Jetzt wissen wir, warum wir ihn nicht finden konnten. Und ich fürchte, dass er seinen Plan, alle auszurotten, die keine höheren Gaben haben, im Kaiserreich fortsetzen wird.«

Wieder Stille. Gustafs Worte hallten in ihrem Kopf. Sie begriff sie und doch, waren seine Aussagen so belastend, dass sie nicht wusste, wie sie ihre eigenen Gedanken und Gefühle beruhigen konnte, um zu bestimmen, wie sie reagieren sollte, was sie nun zu tun hatte. Es fiel ihr allein schon schwer, ihre Magenkrämpfe nicht zu beachten. Jetzt fühlte es sich auch so an, als würde die Luft in ihren Lungen immer knapper werden.

»Warum? Warum um alles in der Welt, wurde ein so grausamer Mensch nicht hingerichtet?«, fragte Finan mit gepresster Stimme. »Wenn er so viele Menschenleben ausgelöscht hat? Jetzt ist er entflohen und wird Schaden in einem anderen Land anrichten! Ein Land, das nichts mit euren Streitigkeiten zu tun hat!«

Der alte Mann seufzte schwer. »Eure Hoheit, ihr habt jedes Recht, wütend zu sein. Wir hätten uns nie ausmalen können, dass er ins Kaiserreich fliehen würde. Der Pass zu den Bergen ist selbst mit Gaben äußerst gefährlich zu überqueren, davon mal abgesehen, dass er wahrscheinlich immer noch streng von Höhental bewacht wird. Die Seewege sind ebenfalls zu gefährlich, um ins Kaiserreich zu gelangen.«

Dunkel erinnerte Elyon sich daran, dass sie einst gelernt hatte, dass die Meere Richtung Osten mit unzähligen Hindernissen gespickt waren. Von riesigen Kraken und Killerwale, die jedes Schiff zerstörten bis zu gefährlichen Wasserstrudel und Stürmen, gab es keine Möglichkeit, bis nach Gerwenen zu fahren. Was ihre Bauchschmerzen und das Zittern in Elyon nur verschlimmerten. Der Mann hatte genug Macht, um eins dieser Hindernisse, die Berge oder die See zu überwinden, um in ein fremdes Land zu gelangen.

»Wir müssen so schnell wie möglich Wächter ins Kaiserreich senden, um Aik wieder einzufangen, ehe er wieder eine große Anhängerschaft ansammeln kann«, verkündete Gustaf.

Finan schnappte hörbar nach Luft. »Ihr könnt Höhental nicht betreten, nicht ohne von Elyon begleitet zu werden«, sagte Finan bestimmt, fast schon blaffend.

»Das sollte kein Problem sein, solange unsere Wächter gemeinsam mit Elyon nach Höhental reisen.«

Ihr Bauch krampfte so stark zusammen, dass sie zu Schwitzen begann und kaum ein Stöhnen zurückhalten konnte.

Finan sprang von der Couch auf. »Nein! Ihr habt versprochen, uns zu helfen! Wir haben immer noch keine Lösung für den Fluch gefunden! Tausende von Menschenleben sind davon getroffen! Täglich befällt er mehr und bringt unendlich viel Leid!«

Der alte Wächter wollte gerade wieder ansetzen, doch Elyon wollte nichts mehr hören. Ihr Magen fühlte sich so an, als würde er sich vor lauter Säure auflösen und ein Beben packte ihren Körper, das sich so anfühlte, als wollte er ihre Glieder zersprengen. Sie sprang auf und stolperte Richtung Tür.

»Elyon! Warte!«

Jemand packte ihre Schulter und die Berührung zerriss ihre letzte Willenskraft. Ein Knurren brach aus ihrer Kehle heraus, so laut, dass es selbst die Hand auf ihrer Schulter zum Beben brachte. Hitze strömte durch ihre Glieder und Elyons Körper streckte und verrenkte sich. Ihre Gedanken lösten sich auf und alles, woran Elyon noch denken konnte, war Flucht. Sie musste fliehen, musste laufen, so schnell und so weit weg wie möglich. Also riss sie sich von Finan los, der sie erschrocken anstarrte, drehte sich um und galoppierte auf vier Pfoten davon.