»Lass es für heute einfach sein, Ausländerin«, blaffte Einar beim Vorbeigehen Elyon zu. »Alle anderen sind schon längst nach Hause gegangen.«
Elyon behielt ihre Augen geschlossen und konzentrierte sich auf ihren rechten Arm. Sie war nun schon seit zwei Wochen offiziell eine Schülerin der Gestaltwandler. Sie hatte jede Lektion aufgesogen wie ein Schwamm, konnte bereits ihre Hand für ein paar Augenblicke in eine Wolfspfote verwandeln und ihren Gehörsinn wie das von Valka schärfen. Dennoch wurde sie von den Lehrern und ihren Mitschülern wie ein ungebetener Fremdkörper behandelt. Jede Anweisung wurde schnell herunter gerattert und in einem abfälligen Ton gegeben.
Auch jetzt machte einer ihrer Lehrer, ein junger Mann ein abfälliges Geräusch und verließ die Trainingshöhle. Es war schon früher Abend und Elyon war nun ganz alleine in der riesigen Höhle, wo die Gestaltwandler ihre Lektionen abhielten. Diese befand sich tief in einem Berg. Sie war nicht gerne hier, da die Umgebung keinerlei Tageslicht hineinließ und sie durch Fackeln nur spärlich beleuchtet war.
Doch es war ihr nicht erlaubt woanders ihre neuen Fähigkeiten zu üben. Ihr Ziel war es, ihren Armstumpf zu einem Tierbein zu verwandeln. Da Valka ihr als Seelentier gleichzeitig auch ihre Fähigkeiten verlieh, fokussierte sie sich momentan darauf, es wie ein Wolfsbein aussehen zu lassen. Es kostete sie so viel Konzentration, dass Elyon in der ersten Woche jeden Tag stechende Kopfschmerzen bekommen hatte. Diese Woche ging es ihr schon besser. Nicht nur das, es kostete sie auch Körperkraft und Ausdauer. Elyon hatte seit langem wieder Muskelkater gespürt, wie damals als sie als Kind Schwertkampf gelernt hatte.
Jetzt wo die riesige Höhle still war, fiel es ihr leichter ihre ganze innere Aufmerksamkeit auf ihren Arm zu richten. Sie hatte nicht viel Zeit, um ihre Fähigkeiten zu üben, sie musste so schnell wie möglich wieder zurück zur Wächterstadt, um mehr über die Drachenkorruption zu lernen.
Ihr ganzer Körper verspannte sich, während sie versuchte ihren Armstumpf mit einem neuen Körperteil zu erweitern. Sie spürte die kribbelnde Wärme, die ihr anzeigte, dass etwas begann zu wachsen. Ein Druck baute sich in ihrem Kopf auf, ihre Stirn und ihre Nase begannen zu schmerzen und sie hatte das Gefühl, dass ihr gleich der Kopf platzen würde. Sie schob die kribbelnde Wärme weiter ihren Arm hinaus, als in ihr buchstäblich der Knoten aufplatzte. Die Wärme sprudelte aus ihrem Arm heraus. Elyon öffnete ihre Augen, ließ etwas von der Wärme darin fließen, um ihre Sicht zu schärfen und starrte einem brandneuen, mit fellbedecktem Arm entgegen.
Ihre Brust ging auf und Elyon konnte den Blick nicht mehr von dem Arm lassen. Sie biss sich auf die Lippen, um sich ein breites Grinsen zu verkneifen.
»Elyon! Hör sofort auf!«, hallte Hildas Stimme laut und streng durch die Halle.
Elyon schrak zusammen, sofort zerfloss die Kraft in ihrem Arm und ihre Augen und sie sah sich mit zusammengekniffenen Augen um, ohne Hilda sehen zu können. Ein stechender Schmerz schoss ihr durch den Schädel, der so heftig war, dass Elyon laut aufstöhnte und ihre Faust fest gegen die Stirn drückte.
»Elyon!«, rief Hilda, rannte auf sie zu und zog ihren Kopf hoch. »Verdammt, wie ich es mir dachte, du blutest.« Hilda murmelte wütend ein paar Worte vor sich, die Elyon nicht verstand, dann spürte sie ein raues Tuch vor ihrer Nase. Erst jetzt merkte sie den warmen Strom, der herausfloss, zusammen mit dem metallischen Geruch von Blut.
»Bist du völlig von Sinnen, Kind? Du kannst doch nicht einen ganzen Arm erstehen lassen, den du nicht hast! Weißt du, wie viel Kraft das kostet?! Noch etwas länger und du wärst ohnmächtig gewesen! Vielleicht sogar tot! Zum Glück hab ich nach dir gesucht.«
Hilda beugte Elyon im Sitzen leicht nach vorne und drückte ihre Nase mit dem rauen Tuch zu. Elyon atmete durch den Mund während Wellen von Schmerzen von ihrem Kopf aus ihren ganzen Körper durchdrangen. Sie waren so heftig, dass es ihr Tränen in die Augen trieb.
»Jetzt bringt dir Weinen auch nichts. Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Hast du denn nicht aufgepasst? Warum bist du überhaupt hier alleine? Wo sind deine Lehrer? Egal wie stur du bist, sie hätten dich hier nicht alleine zurücklassen dürfen!«
Hilda fluchte noch weiter vor sich hin, doch Elyon hörte nicht mehr zu. Die Schmerzen übermannen sie und es brauchte tiefe Atemzüge, damit sie nicht vor Schmerzen ohnmächtig wurde. Hilda hielt sie weiter fest, bis das Nasenbluten nachließ.
Hilda sagte etwas, doch ein lautes Piepsen und Klingeln in ihren Ohren verhinderte, dass Elyon sie hören konnte.
»Valka?«, rief Hilda lauter.
»Im Wald. Jagen«, als Elyon sprach, zogen weitere Schmerzen durch ihren Kopf. Ihr ganzes Gesicht zog sich zusammen und Übelkeit machte sich in ihrem Magen breit.
Hilda ging ein paar Schritte von ihr Weg, pfiff zweimal und wartete.
Kurz darauf tapsen schnelle, samtene Pfoten auf den steinernen Pfoten. Vinja schnurrte so laut, dass selbst Elyon es durch die klingelnden Geräusche in ihren Ohren hörte.
»Kannst du aufstehen?«, fragte Hilda.
Elyon nahm tief Luft und streckte mit geschlossenen Augen ihre Hand aus. Ihre Finger trafen auf warmes Fell, dass sich so weich wie Flaum anfühlte.
»Ich helfe dir beim Aufsitzen. So kriegen wir dich schon nach Hause.« Hildas Stimme war viel weicher und leiser als sonst. Sie setzte Elyon wie ein kleines Kind auf die Berglöwin und ging neben ihnen her, um sie nach Hause zu führen.
Elyon lehnte sich nach vorne, um die Magenkrämpfe etwas durch die gebeugte Haltung zu erleichtern. Ihre einzige Hand brauchte sie, um sich an Vinja festzuhalten.
»Lass dir das eine Lehre sein, Kind. Sobald du einen starken Druck im Kopf oder Nacken spürst, musst du sofort aufhören. Andere vor dir haben den gleichen Fehler getan und haben mit ihrem Leben bezahlt. Das kannst du dir nicht leisten. Hast du schon vergessen, wofür du hierhergekommen bist?«
Erneut traten Tränen in Elyons Augen. Nicht nur wegen den Schmerzen, sondern wegen den seltsamen Gefühlen in ihrer Brust, die sie einengten und sich wie eine ätzende Säure in ihrem Rumpf anfühlten. Ihr Magen krampfte sich noch mehr zusammen und Elyon konnte nicht verstehen, warum sie sich so fühlte.
Als sie aus der Höhle traten und der eiskalte Wind ihnen entgegenblies, war Elyon zum ersten Mal dankbar für die Kälte. Die Schmerzen in ihrem Kopf schwächten sofort ab und die Kälte trieb die unangenehmen Gefühle weg.
Hilda zündete ihre Öllampe an und begann durch den Schnee zu stapfen.
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»Wir haben übrigens einen Gast zuhause, der schon länger auf dich wartet. Es ist der Wächter, den ich erwähnte, der blind ist. Sein Name ist Wotan. Wenn wir ankommen, begib dich gleich nach dem du dich ausgezogen hast ins Wohnzimmer und begrüße ihn.«
»Ja«, sagte Elyon. Sie hatte in den letzten Wochen gelernt, dass Hilda es zwar schätzte, wenn man nicht viel sprach, doch Elyon durfte nicht zu wenig sagen. Wenn Hilda etwas sagte, dann wollte sie meistens ein Ja hören, um anzuzeigen, dass man verstanden hatte.
Als sie Zuhause ankamen, war nur noch ein leichtes Pochen in ihrem Kopf übrig, dass sie mit Leichtigkeit ignorieren konnte. Selbst in der Dunkelheit konnte Elyon nun ohne Probleme den Weg zu ihrem Zimmer finden. Schnell zog sie sich um, kämmte sich einmal kurz durch das Haar, dann gesellte sie sich zu dem Besucher und Hilda ins Wohnzimmer.
»Ah, das muss sie sein. Diese Schritte habe ich noch nie gehört«, sagte eine helle Männerstimme fröhlich und drehte sich um. Der Raum war nicht nur durch den Kamin, sondern auch durch mehrere Kerzen beleuchtet, sodass die schwarze Silhouette des Mannes deutlich auf dem Sofa zu erkennen war. Da sein Haar nicht so leuchtete wie die meisten Bewohner in diesem Land, vermutete Elyon, dass er dunkelblondes, oder sogar braunes Haar hatte.
Ein leises Fiepen unterbrach das Knistern des Feuers. Sie wandte Kopf hoch zu den Balken, woher das Geräusch gekommen war.
»Das ist nur Wotans Seelentier«, erklärte Hilda.
»Oh, da hat jemand gute Ohren«, sagte der Mann freundlich.
Sein Gesicht war zu verschwommen, um mehr als einen blassen Fleck zu erkennen. Durch seine schwarze Kleidung sah er schlank aus. Obwohl sie seinen Körper nur schwammig sah, hatte er eine grazile Form, nicht starr und grob, wie die meisten in der Oberger-Sippe.
»Ich habe gehört, dass du dein Augenlicht verloren hast.«
Elyon machte ein zustimmendes Geräusch. »Ich kann grobe Umrisse erkennen. Aber alles ist unscharf. Manchmal habe ich blinde Flecken.«
»Ich verstehe. Das ist trotzdem bestimmt herausfordernd, wenn das noch nicht vor allzu langer Zeit geschehen ist.«
Elyon hielt ein Seufzen zurück.
»Ich hatte gehofft, dass du vielleicht Elyons Lehrer werden könntest. Die anderen haben sie heute sitzengelassen«, warf Hilda ein.
»Ja, als ich gestern an den Höhlen vorbeigegangen bin, hab ich so einiges aufgeschnappt, dass ich am liebsten nicht gehört hätte.«
Elyon hatte kein Interesse am Gerede der anderen. Sie wusste, dass sie von ihnen nicht gemocht wurde. Sie bangte eher um Wotans Zustimmung. Er schien ein perfekter Lehrer für sie zu sein, durch den sie ein Reichtum an Wissen erlangen konnte.
»Ich bin die nächsten Wochen ja noch hier und kann dich unterweisen, wenn du damit einverstanden bist, Elyon.«
Elyon nickte, bis ihr einfiel, wie unsinnig es war. Mit hitzigen Wangen öffnete sie ihren Mund. »Ja, bitte.«
Wotan lachte. »Du wohnst eindeutig schon etwas länger bei Hilda. Mit mir musst du nicht so förmlich reden.«
»Pah«, machte Hilda empört. »Bring ihr keine Frechheiten bei. Ich kenne dich gut, du Lausbub. Denk ja nicht, dass ich deine alten Streiche vergessen habe.«
Wotan kicherte in sich hinein.
»Du musst streng mit Elyon sein, sie hat sich heute die Nase blutig gewandelt.«
Wotans Lachen brach ab. Eine schwere Stille breitete sich im Raum ein.
»Kind«, sagte er langsam und in einem viel tieferen Ton. »Damit ist nicht zu spaßen, du kannst sogar sterben, wenn du nicht aufpasst.«
»Gut das wir da wenigstens einer Meinung sind. Aber jetzt lasst uns in die Küche gehen, die Suppe müsste jetzt fertig sein.«
Elyon wartete, bis Hilda aufgestanden war und folgte ihr erst dann in die Küche.
Hinter sich hörte sie leise Schnalzgeräusche.
»Oh, warum bist du stehen geblieben?«, fragte er Elyon.
»Tsk«, machte sie ihm nach.
»Mein Schnalzen? Es hilft mir, mich ohne Sicht zu orientieren. Das solltest du unbedingt auch lernen. Was ist dein Seelentier?«
»Wolf.« Elyon ging weiter Richtung Küche.
»Ah, auch sehr nützlich. Gutes Gehör. Wenn du Glück hast, kannst du dir auch die Sicht deines Tieres borgen.«
Sie traten in die Küche ein. Ein herzhafter Geruch wehte ihnen entgegen, die Luft war warm und leicht dampfend. Elyon schnupperte. Sie kannte diesen Geruch. Es war eine Fleischsuppe. Endlich kein zu Tode gekochtes Gemüse.
»Elyon hat nicht nur irgendein Seelentier, sie hat eine Bergwölfin ergattert.«
Wotan hielt inne. »Was? Moment, du meinst einen normalen Wolf?«
»Ich dachte, du wärst blind, nicht taub. Du hast schon richtig gehört.« Mit einem lauten Schlag landeten die Schüssel auf dem Tisch. Das plötzliche Geräusch brachte Elyon zum Zucken. Wotan stieß ein Schreckgeräusch von sich.
»War das deine Vergeltung für meine ganzen Streiche?«, fragte Wotan, während er sich an den Tisch setzte. Man hörte das Lächeln in seiner Stimme.
Elyon tat es ihm nach und tastete nach ihrem Platz.
»Sieh es, wie du willst. Hauptsache, du glaubst uns, dass Elyon tatsächlich einen Bergwolf hat. Ich hab es zuerst auch kaum geglaubt.«
»Das ist ausgezeichnet. Wir sollten uns morgen in der Früh für eine Lehreinheit in der Höhle treffen und bring dafür unbedingt deine Fähe mit.«
»Was hast du vor?«, fragte Hilda. Mit einem dumpfen Schlag setzte sie den Eintopf auf eine dicke Korkmatte auf den Tisch und verteilte etwas davon in den Schüsseln.
»Einen Gast schlecht zu behandeln, nur weil dieser anders aussieht, passt mir nicht so in den Kram.«
»Hmpf, aber treib es nicht zu bunt. Nicht, dass wir am Ende noch Leute verarzten müssen«, sagte Hilda, dann setzte sie sich ächzend neben Elyon hin. »So, und jetzt wird zu Abend gegessen.«
Elyon schöpfte schweigend Suppe aus ihrer Schüssel. Hilda mochte es nicht, Gespräche am Tisch anzufangen. Und Wotan schien dies auch zu wissen, da er während der Mahlzeit nur Schlürf- und Schluckgeräusche von sich gab.
»Danke für das Abendessen, aber ich muss jetzt gehen. Fifi braucht Auslauf und es ist ihre Jagdzeit.«
Elyon musste nicht nachfragen, wer Fifi war, denn von der Ferne erklang bereits das Flattern von ledernen Flügeln, begleitet von einem leisen Fiepen.
»Elyon, begleite ihn bitte zur Tür hinaus.«
»Jawohl«, sagte Elyon leise. Obwohl sie den Weg kannte, tastete sie aus Gewohnheit an den Wänden entlang. Am Abend war der Flur sehr dunkel ohne Beleuchtung und Elyon mochte die Dunkelheit in Gebäuden nicht. Hier hatte sie nicht den Geruch von Waldharz in der Nase oder das Geräusch der Tiere in den Ohren. Es gab nur das leise Knarzen von Schritten auf dem Boden. Das glatte Holz der Wände. Der dampfende Geruch der beheizten Luft, gepaart mit dem Geruch von Menschen, Wäsche und alten Teppichen.
»Tsk. Tsk tsk«, machte Wotan hinter ihr. »Elyon? Hast du nur einen Arm?«
Elyon erstarrte und drehte sich langsam in Richtung seiner Stimme um.
»Woher weißt du das?«
»Mit Fifi an meiner Seite, ist meine Schallsicht gestärkt. Warte mal, ich habe dir noch gar nicht erklärt, was eine Schallsicht ist, oder? Hm, ich erzählte es dir morgen, wir können das gleich ausprobieren, wenn du dein Seelentier dabei hast. Wie viel ist von deinem anderen Arm übrig oder ist alles weg?«
»Oberarm ist noch da.« Elyon blieb stehen, da sie nun vor der Tür standen. Sie hörte das Rascheln von Stoff und das Steifen von ledernen Schuhen.
»Ah, lass mich raten, du hast dir die Nase blutig gewandelt, weil du versucht hast, dir einen Arm wachsen zu lassen?«
Elyon presste die Lippen aufeinander. Sie nickte, doch da kam ihr wieder zu Bewusstsein, dass Wotan sie nicht sehen konnte. »Ja.«
Wotan lachte. »Das kann ich dir nicht verübeln. Ich hab das auch gemacht, ich hab versucht mein Augenlicht zurückzuholen, aber nicht so weit, bis meine Nase geblutet hat. Das ist äußerst gefährlich und solltest du das wieder versuchen, werde ich mir eine Strafe für dich überlegen müssen.«
»In Ordnung.«
Wotan lachte wieder. »Du bist so ernst, wie Hilda es mag.« Er lachte weiter in sich hinein. Das Rascheln und Streichen hatte aufgehört. Harte Ledersohlen trafen auf dem Holzboden. Wotan drückte die Türklinke herunter.
»Nun denn, schlaf gut, ruh dich aus. Morgen treffen wir uns dann in der Höhle. Und nicht vergessen, bring dein Seelentier mit. Bis dann!«
Ein kalter Luftzug blies Elyon die Haare vom Gesicht, dann ging die Tür zu und Elyon atmete erleichtert aus. Sie hatte einen neuen Lehrer. Endlich.
Elyon wollte wieder zurück in die Küche, doch sie hielt inne. Warum war sie so erleichtert? Es war doch eigentlich egal, wie sie behandelt wurde. Elyon schüttelte innerlich den Kopf, dann kehrte sie zurück in die Küche, um Hilda beim Abwasch zu helfen.