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4.2 Der dritte Monat

Am nächsten Morgen war die Katze verschwunden. Elyon war mit dem Krähen des Hahns aufgewacht und schwang sich aus dem Bett. Jetzt, wo sie neue Kleidung bekommen hatte, die viele Magnetknöpfe hatte, verlor Elyon nicht mehr so viel Zeit damit, sich anzuziehen.

Sobald sie ihr Gesicht in dem Badezimmer neben ihrem Schlafzimmer gewaschen hatte, tastete sie sich zur Küche. Als sie eintrat, wurde sie fröhlich von Jannes Cousine begrüßt.

»Guten Morgen, Elyon! Hast du gut geschlafen?«

Elyon machte ein zustimmendes Geräusch, dann setzte sie sich hin.

»Ich kann verstehen, warum meine Großmutter dich mag«, sagte Jana lachend. »Hast du auf was Bestimmtes Hunger? Ich mache gerade ein paar Eier mit Brot. Magst du etwas davon haben?«

Elyon nickte. Alles war besser als Haferschleim. Die breiige Masse war eine Beleidigung für ihre Zunge. Leider saß ihr das Frühstück schwer im Magen. Selbst das Trockenfleisch, dass sie mitgenommen hatte, sorgte für ein unangenehmes Brennen in der Brust. Sonst war ihr Verdauungstrakt nie so empfindlich. Nach einem schnellen Frühstück ging Elyon zurück in ihr Zimmer und rieb sich den brennenden Bauch. Das Frühstück wiegte mit jedem Augenblick schwerer und Elyon biss verärgert die Zähne zusammen, während sie sich für den Gang nach draußen zurechtmachte.

Für die Stiefel, hatte Hilda ihr einen hölzernen Schuhlöffel gegeben, doch für die Jacke, brauchte Elyon länger, da diese die normalen Knöpfe hatte. Es dauerte eine Weile, ehe sie diese einhändig und mithilfe ihres Armstumpfes zugemacht hatte. Als sie die Jacke zugeknöpft hatte, stapfte Elyon Richtung Tür, begleitet von der schnurrenden Katze.

»Gut, du bist schon angezogen«, begrüßte sie die Matriarchin. »Ich habe die anderen bereits zusammengetrommelt.«

Mit dem Spazierstock in der Hand, folgte Elyon der alten Dame hinaus. Die Sonne und der weiße Schnee blendete in ihren Augen. Sie musste sich mit dem Spazierstock für die ersten Schritte orientieren, horchte dabei genau auf die Schritte der alten Dame vor ihr. Bald legte sich das Stechen und sie konnte mit Tränen in den Augen Hildas Umrisse erkennen. Die Wege in der Siedlung waren zum Glück breit angelegt und einige Häuser hatten rote Wände, die sich Elyon gut merken konnte, um sich später alleine zurechtfinden zu können, sollte sie niemanden haben, der sie führen konnte. Zusätzlich versuchte sie ihre Schritte zu zählen und wann sie nach links oder rechts abbogen.

Hilda führte sie zur anderen Seite der Siedlung, wo eine Gruppe von Menschen vor den hölzernen Toren aufgeregt miteinander plauderte. Als sie näher kamen, verstummten sie. Ihre Köpfe waren zu ihnen gerichtet. Elyon ignorierte ihr Starren, indem sie sich alleine darauf konzentrierte, der alten Dame zu folgen.

»Es scheinen ja alle bereits hier zu sein. Nun denn, ihr sollt heute alle als Zeugen einer Waldprobe dienen, um zu bestimmen, ob Elyon als neuer Lehrling der Gestaltwandler anfangen darf, oder nicht«, verkündete Hilda.

Keiner sagte ein Wort, stattdessen wandten sie sich wortlos dem Tor zu und verließen die Siedlung.

»Elyon, nimm meinen Arm, der Weg ist voller Wurzeln und Steine.«

Elyon folgte der Empfehlung, auch wenn es mit ihren dicken Handschuhen um so schwieriger war, den Arm der alten Dame zu greifen, da dieser durch mehrere Kleidungsschichten und der dicken Felljacke noch viel wuchtiger war.

»Sind Augen kein Problem als Gestaltwandler?«, fragte Elyon. Diese Frage hatte ihr schon gestern im Herzen gelegen. Sie wusste nicht, wie diese Ausbildung anfangen sollte mit fehlendem Augenlicht und einem fehlenden Arm.

Es dauerte eine Weile, bis Hilda antwortete, wahrscheinlich, weil Elyon sich nicht gut in der Sprache ausgedrückt hatte.

»Ah, weil du nicht gut sehen kannst? Nein, das ist kein Problem. Einer unserer stärksten Gestaltwandler ist blind geboren worden. Sein Glück war es, dass sein Seelentier eine Fledermaus ist. Durch sie hat er auch gelernt, sich ganz ohne Hilfe zurechtzufinden. Zurzeit ist er auf einem wichtigen Einsatz in den Nachbardörfer, doch er sollte in den nächsten Tagen zurückkehren. Es wäre gut, wenn du dir von ihm einige Tricks beibringen lässt.«

»Hm«, sagte Elyon zustimmend.

Der Weg war uneben, mal ging er leicht bergauf, dann wieder bergab. Zwischen der weißen Decke, die den Boden bedeckte, lagen immer wieder größere Steine, hoch genug um aus dem Schnee herauszuschauen. Es dauerte nicht lange und die ersten Nadelbäume tauchten auf. Diese wurden zahlreicher, bis die Luft nicht mehr nach Schnee roch, sondern nach würzigem Harz.

Kurz bevor der Wald so dicht wurde, dass Elyon nicht mehr die Umrisse der einzelnen Bäume erkennen konnte, hielten sie an.

»Geh in den Wald hinein, warte auf die Tiere und sobald eins oder mehrere sich dir genähert haben und dir folgen, führe es zu uns. Du hast bist zur Mittagssonne Zeit, wenn du es bis dahin nicht geschafft hast, wird einer von uns dich aus dem Wald führen und du wirst die Prüfung nicht bestanden haben.«

Elyon nickte und drückte ihre Finger fester um den Spazierstock, ehe sie sich weiter durch die hohe Schneedecke kämpfte. Er reichte ihr fast bis zu den Knien. Sie stocherte mit dem Stock herum und wann immer er gegen eine Wurzel oder einen Stein stieß, machte Elyon einen Bogen oder einen besonders weiten Schritt. Gleichzeitig musste sie auch immer wieder den Stock über den Schnee ausstrecken, da es mit den vielen Bäumen schwer war zu erkennen, wann ein Stamm anfing und wann der nächste wieder aufhörte.

Es dauerte, bis sie tiefer in den Wald gedrungen war. Elyon hielt in einer Lichtung an, als der Schweiß ihren Rücken hinunterströmte und sie kaum noch die kalte Luft einatmen konnte.

Sie wartete, bis ihr Atem sich beruhigt hatte, dann konzentrierte sie sich darauf, ihre Umgebung auszuhorchen. Ein Zweig raschelte in der Nähe, begleitet von einem leisen Flattern. Ein Vogel. Links von ihr, vielleicht etwa fünf Schritte weit. Bald raschelte es weiter und weiter. Immer mehr Vögel gesellten sich zum Schwarm in der Lichtung.

Ein leises, kurzes Knirschen lenkte ihre Aufmerksamkeit hinter ihr. Elyon kniff die Augen zusammen und meinte, eine Bewegung zu erkennen. Doch sie wusste nicht was es sein konnte. Von der Leichtigkeit der Schritte vermutete sie ein rehähnliches Tier. Dies würde auch erklären, warum sie es nicht in dem braunen Hintergrund sofort erkennen konnte.

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Elyon wagte keinen weiteren Schritt mehr. Ein paar Tiere hatten sich bereits versammelt. Sie musste darauf warten, dass sich ihr eins näherte. Dafür musste sie so still verharren, wie möglich, um ihnen deutlich mitzuteilen, dass sie keine Gefahr für sie war.

Doch obwohl sie die leisen Schritte, das regelmäßige Rascheln und Knirschen weiterhin hörte, ab und zu sogar noch ein Huschen zwischen den Baumstämmen entdeckte, näherte sich ihr kein Tier.

Elyon hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war, doch es war genug, um ihre Unruhe zu entfachen. Ihr Magen verkrampfte sich.

Doch dann, schwappte ein anderen Gefühl in ihr, überkam ihre Brust wie eine Welle. Ihr Blick wurde wie ein Magnet nach vorne gezogen, wo zwischen den Bäumen deutlich eine große, weiße Gestalt zu sehen war. Sie brauchte keine scharfe Sicht um zu wissen, was es war. Sie kannte die Form, die Bewegungen, nicht nur dass, sie spürte es tief in ihrem Wesen, als hätte eine Stimme es ihr gesagt, ihr vergewissert, dass ein weißer Wolf gerade auf sie zu schritt.

Und er hielt nicht am Waldsaum an. Das riesige Tier trat geradewegs auf die Lichtung zu, die schwarze Schnauze auf sie gerichtet.

Üblicherweise würde ihr Instinkt Elyon dazu bringen wegzulaufen und auf einem Baum zu klettern. Unbekannte Wölfe sollte man nie direkt begegnen, vor allem, wenn sie im Rudel unterwegs waren. Doch Elyon blieb wie erfroren auf der Stelle, während ein warmes Gefühl sich in ihr ausbreitete. Zunächst sprudelte es in ihrer Brust, dann in ihren Bauch hinunter. Sie ballte die Faust zusammen, während das Bild ihrer Ziehmutter blitzte vor ihrem inneren Auge und Elyon musste mehrmals blinzeln, damit keine Tränen entschlüpften.

Der weiße Wolf stand nun vor ihr. Sein Kopf lag auf ihrer Augenhöhe. Er schnupperte an ihr. Elyon ließ es geschehen.

Freund. Meins.

Elyon blinzelte und sah sich um. Hatte sie gerade eine Stimme gehört?

Freund. Gib Name. Dann deins, sagte die Stimme wieder in einer sanften, tiefen Frauenstimme.

Ein Schauer fuhr über ihren Rücken. Die Stimme war da, doch sie hörte sie nicht über ihre Ohren, sondern in ihrem Kopf. Wieder sah sie sich um. Doch außer dem Wolf, stand kein Wesen nahe genug, damit sie Stimmen hören konnte. Elyon starrte den Wolf an und ein Gedanke blühte in ihrem Kopf auf. Doch er schien so unmöglich zu sein, dass Elyon die Schamröte ins Gesicht stieg.

Gib Name. Freunde.

Mit brennenden Wangen, räusperte Elyon sich leise, ehe sie den Mund öffnete. »Hast du ... hast du gerade zu mir gesprochen?«

Der Wolf nieste.

Ja.

Elyon stolperte zurück, dann erstarrte sie, ohne den Wolf aus den Augen zu lassen. War das üblich bei Seelentieren? Niemand hatte ihr etwas gesagt.

Der Wolf näherte sich ihr und winselte leise. Elyon atmete tief ein und aus. Sie konnte sich nicht von ihren eigenen Zweifeln und Gefühlen ablenken lassen. Sie musste ein Seelentier finden bevor es Mittag wurde. Das war ihre Hauptaufgabe. Jetzt wo sie nachdachte, fiel ihr ein, dass die Stimme in ihrem Kopf weiblich geklungen hatte. Ein Name. Wenn sie der Fähe einen Namen gab, würde diese ihr hoffentlich folgen. Elyon überlegte nicht lange.

»Valka«, sagte sie leise. »Ich nenne dich Valka.« Der Name bedeutete in diesem Land stark und entschlossen.

Die Fähe gab ein tiefes Geräusch, fast jaulendes Geräusch von sich, dann begann sie Elyons Gesicht abzuschleppen.

Valka! Name! Meins! Name, deins? Die Stimme klang so aufgeregt wie ein Kind, dass gerade ein Spielzeug geschenkt bekommen hatte.

Elyon konnte sich kaum vor der feuchten Zunge retten, auch wenn sie ihr Gesicht abwandte und ihre Hände zum Schutz davor hielt. Ihre Finger griffen an der großen Zunge vorbei nach dem Kopf des weißen Tieres und begann sie zu kraulen. Sofort ließ die Fähe ihre Zunge hängen und machte ein zufriedenes, brummendes Geräusch.

»Elyon ist mein Name. Würdest du mich begleiten?«

Sie ließ von ihrer neuen Gefährtin ab und ging ein paar Schritte zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Hechelnd tapste Valka ihr hinterher.

Zusammen bleiben. Ein Rudel. Festhalten. Elyon Augen. Schlecht.

Auch wenn Valkas Worte nur sehr gebrochen in ihrem Kopf auftauchten, konnte sie doch die Bedeutung ihres ganzen Satzes erfühlen. Die Fähe brummte, bis Elyon ihren rechten Armstumpf ausstreckte. Sie lehnte sich an Valka, die ihr während des Marsches durch den Schnee vor jedem Stein und jeder Wurzel warnte. Sie entpuppte sich als bessere Blindenführerin als Finan. Während sie durch den Wald stapften ließ das warme Gefühl in ihrem Körper nicht nach.

Ihre Glieder pulsierten und Elyon spürte wie ihre Mundwinkel sich nach oben ziehen wollten. Dieses Gefühl war so unbekannt und es fühlte sich völlig fremd an, dem Lächeln einfach nachzugeben. Doch ihre Gesichtsmuskeln gewannen ihren Willen. Elyon fragte sich während dem Marsch, wie alt die Fähe war. Ihre Stimme klang wie die einer älteren Frau. Zumindest in ihrem Kopf. Doch sie verhielt sich wie ein Wolf, dass gerade erst die Welpenjahre hinter sich gelassen hatte. Elyon wollte Valka gerade danach fragen, doch der Wald lichtete sich und sie konnte Stimmen hören.

»Ganz ruhig, es sind Bekannte«, sagte Elyon, auch wenn sie spürte, das Valka sich kein bisschen vor ihnen fürchtete. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie friedlich sich dieser Wald anfühlte. Kein Tier floh erschrocken vor ihr, es waren keine verängstigten Vogelrufe zu hören, um die anderen vor einer Gefahr zu warnen. Als wären sie bereits an Menschen gewöhnt mit dem Wissen, dass sie diese nicht zu fürchten brauchten.

Ein Raunen erreichte ihre Ohren. Wieder spürte sie das Starren der anderen. Doch die Stimmen waren zu leise, als dass Elyon ausmachen konnte, worüber sie sprachen. Eine einsame Figur marschierte direkt auf sie zu. Anhand der festen Tritte im Schnee, wusste Elyon, dass es Hilda war.

»Wie um alles in der Welt ...«, begann sie verwundert, als sie vor Elyon stand. »Ein Bergwolf? Kind! Wie hast du es geschafft, dich mit einem Bergwolf zu verbinden?« Ihre Stimme klang streng und aufgelöst. Hatte Elyon einen Fehler gemacht?

Valka bleibt. Valka geht nicht weg.

Elyon streichelte Valkas Bein und die Fähe lehnte sich an Elyons Körper an.

»Sie ist auf mich zugekommen. Und hat zu mir gesprochen.«

Stille. Selbst der Wald schien den Atem anzuhalten.

»Was?«, wisperte Hilda. »Was hast du gerade gesagt?«

Wieder fürchtete Elyon, dass sie einen Fehler begangen hatte.

»Sie ... sie hat zu mir gesprochen. Um einen Namen gebeten.«

Die anderen flüsterten aufgebracht miteinander.

»Kind, du bist die erste, die es jemals geschafft hat, einen Bergwolf als Seelentier zu bekommen. Ich vermute, dir ist nicht bewusst, was für eine seltene Ehre das ist.« Hilda seufzte. »Sie gelten zusammen mit unseren Flughunden als die seltensten Tiere im ganzen Land, da sie nur hier auf den Obergen leben. Der einzige Unterschied ist, dass sich Bergwölfe nur äußerst selten zeigen. Vor allem mitten am Tag. Und in diesem Wald.« Hilda sagte nichts weiter, eine nachdenkliche Pause entstand. Elyon kraulte Valka weiter und ein neues Gefühl schwoll in ihrer Brust an. Vor lauter Stolz wollten sich ihre Mundwinkel wieder bewegen, doch Elyon presste die Lippen zusammen und versuchte stattdessen zu horchen, ob Valka ihr noch irgendetwas sagen wollte.

»Bist du dir sicher, dass die Fähe zu dir gesprochen hat?«, fragte Hilda schließlich.

Elyon nickte.

Hilda lachte laut auf, Elyon zuckte zusammen, da sie nicht damit gerechnet hatte. Dann drehte sich die Matriarchin zu den anderen um. »Das sollte Beweis genug sein. Elyon hat ihr Seelentier, somit darf sie offiziell ihre Ausbildung als Gestaltwandlerin beginnen!«, verkündete sie in ihrem üblichen strengen Ton.

Die anderen tuschelten untereinander, dann gingen sie zurück zur Siedlung. Niemand sagte etwas gegen Valkas Gegenwart und Elyon war dankbar, dass sie ihre neue Gefährtin mitnehmen durfte.