Janne brachte sie später zu einer großen Halle, in dessen Mitte ein Sandplatz stand. Die Spuren von Pferden und großen, vogelähnlichen Füßen waren auf dem Sand zu erkennen. Doch jetzt lag allein Jesko auf dem Sand und nahm fast die Hälfte des Platzes ein. Nicht weit von ihm stand Heidrun, die eifrig etwas auf ihrem kleinen Schreibpult kritzelte, den sie an ihre Bauchdecke lehnte.
Jesko nieste, als er sie sah und tapste zu ihnen hin. Seine Augen waren klar und ruhig. Manchmal fürchtete Finan sich davor, dass sein Ziehonkel wieder den Verstand verlieren könnte. Das er nicht mehr er selbst war.
»Und? Kann man ihm helfen?«, fragte Janne die schwarzbekleidete Frau.
»Ich wüsste nicht wie. Dies ist eine uralte Korruption, viel zu tief, als das ich versuchen könnte, sie zu brechen. Tut mir leid, aber er ist ein faszinierendes Wesen. Ich würde ihn gerne weiter beobachten, falls das erlaubt ist.«
»Ich muss bei ihm bleiben. Damit er nicht den Verstand verliert«, erklärte Elyon.
Janne nickte. »Wir werden ihn bald mitnehmen müssen, ich reise mit Elyon zu meiner Sippe.
Heidrun stöhnte laut. »Musst du mich jedes Mal daran erinnern, dass du einer der wenigen bist, die das Privileg besitzen, die Valkinen Berge betreten zu dürfen? Ich würde alles dafür geben, eure Sippe zu besuchen, um die Flughunde zu sehen. Und zwar in ihrem natürlichen Lebensraum.« Die Frau stöhnte laut. Dann nahm sie ihr Schreibpult in eine Hand und nahm es unter ihre Achsel. »Aber das gibt mir noch ein bisschen Zeit, meine Befunde zusammenzustellen. Und bis James Harlow und Bojing Cheng hier sind, seid ihr bestimmt wieder da, oder?«
»Erwarten wir ihren Besuch? Davon wusste ich noch gar nichts.« Janne wandte sich zu ihnen um.
»Beide sind Gelehrte aus unseren benachbarten Ländern. James Harlow kommt aus dem nördlichen Combroland und Bojing Cheng aus dem östlichen Goldenen Kaiserreich. Sie kommen regelmäßig zu uns n die Stadt, um sich mit unseren Gelehrten auszutauschen und beide studieren hauptsächlich Korruptionen. Sie werden sicher neue Erkenntnisse mitbringen und vielleicht können sie auch Jesko helfen.«
Elyons Augen leuchteten auf. Finan stöhnte leicht und Janne lachte.
»Ich sehe es schon, ich werde wohl eine Ausfragstunde mit Elyon verbringen müssen. Aber zügele deine Neugier noch ein wenig. Wir müssen Jesko erst mal wegbringen. Dann müssen wir noch eure neue Kleidung und eure Waffen abholen, Finans Eintrag in die Feuerschule genehmigen lassen und unsere Reise zu den Valkinen planen. Wir haben also noch einiges vor uns.«
Nun war es Finan, der aufleuchtete und Janne entgegentrat. »Hast du gerade Kleidung gesagt?«
»Ja, habe ich.«
»So was Ähnliches wie du und die anderen Wächter tragen? So rein zufällig?«
Janne lachte wieder. »Ja, rein zufällig kriegst du endlich die Stiefel, die du schon so lange bewunderst.«
»Hurra! Endlich! Los, kommt schon, wir haben keine Zeit zu verlieren! Ich will endlich aus diesen kratzigen Klamotten raus!«
Mit all den Erledigungen, die zu tun waren, verging der Morgen wie im Flug. Finan merkte gar nicht, dass es bereits Mittagszeit war. Nicht nur, weil der Winter hier dafür sorgte, dass er sein Zeitgefühl verlor, sondern weil er zu sehr damit beschäftigt war, durch die Gegend zu stolzieren, seine neuen Stiefel zu bewundern und einzulaufen und die weiche Kleidung auf seiner Haut zu genießen. Seine Stiefel waren so gut gefüttert, dass er kaum etwas von der Kälte durch seine Sohlen spüren konnte. Und obwohl er überglücklich über seine neuen Schuhe war, das, was Finan am meisten begeisterte, war sein roter Mantel und seine dunkelrote Hose. Es war nicht gerade seine Lieblingsfarbe, doch die Stoffe waren von so guter Qualität und die Rottöne so gut aufeinander angepasst, dass es seinem Stilgespür schmeichelte. Nun konnte er ohne Scham durch die Wächterstadt laufen, ohne dass ihm kalt war oder seine Haut kratzte. Und all dies hatte ihn keine einzige Münze gekostet. Die Wächter hatten ihnen die Kleidung geschenkt.
Elyon trug Gewänder, die in verschiedene gedämpfte Töne gefärbt waren. Hauptsächlich Grau, Braun und Grün. Dies waren die Farben der Gestaltwandler, so hatte Janne es ihnen erklärt. Bis jetzt waren sie noch niemanden begegnet, der die gleiche Uniform trug und wohin sie auch gingen, Elyon zog mit ihrer Kleidung alle Blicke auf sich. Janne hatte ihnen die verschiedenen Farben und die zugehörigen Farben erklärt und wenn Finan nun jemand mit den gleichen Farben sah, die er trug, wusste er, dass sie ebenfalls die Feuergabe hatten. Dunkelblau hatte mit Wasser zu tun. Grün, so wie Jannes Kleidung, bedeutete eine Pflanzengabe.
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Hoffentlich durfte er seine eigene Kleidung mit ins Kaiserreich nehmen. Er musste sie unbedingt seinen adligen Bekannten vorführen.
»Morgen, wenn wir aufbrechen, wird es noch dunkel sein, wir müssen fliegen, um den Geistkorruptionen zu umgehen«, erzählte Janne gerade an Elyon gerichtet.
»Moment mal«, rief Finan und die beiden anderen hielten mitten auf dem Kiesweg an, der sie zurück zu ihrer Unterkunft bringen würde. »Ihr reist schon morgen ab?«
Janne nickte. »Wir müssen uns beeilen. Du hast selbst gesagt, dass dein Bruder so schnell wie möglich Hilfe braucht. Und wir sollten zurück sein, ehe die zwei Gelehrten aus den beiden anderen Ländern hier ankommen. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Finan starrte den vereisten Boden an und presste nachdenklich die Lippen aufeinander. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er sich so schnell von Elyon und Jesko trennen musste. Selbst Janne würde nicht hier sein.
»Bist du dir wirklich sicher, dass es keine Möglichkeit gibt, euch zu begleiten?«
»Also wenn du unbedingt durch die eisige Kälte reisen möchtest, nur um dann wieder rausgeschmissen zu werden, kannst du gerne mitkommen, aber ich rate dir dringend hierzubleiben. Meine Familie ist leider streng und wir haben keine Zeit, um ihre Erlaubnis zu bitten.«
»Und du bist dir sicher, dass sie Elyon annehmen werden?«
Janne nickte. »Sie haben einen Eid geschworen, alle, die die Gabe des Gestaltwandelns besitzen, zu unterweisen. Egal woher sie stammen. Sie werden Elyon sicher unter sich aufnehmen. Ich werde sie dorthin bringen und gleich wieder hierher zurückreisen.«
Finan nickte nur. Er musste sich geschlagen geben. Ein Blick auf Elyon verriet zunächst nicht, was sie dachte. Doch er hatte gelernt, dass er auf andere Dinge achten musste. Wie zum Beispiel ihre zusammengeballten Fäuste. Er musste nur noch lernen, genauer zu deuten, was ihre Körpersprache genau aussagte. Ihre Fäuste konnten einiges bedeuten. Angst, Wut, Nachdenklichkeit. Doch er würde erst mal keine Gelegenheit dazu haben.
»Was sind Geistkorruptionen?«, fragte Elyon.
»So etwas Ähnliches wie Jesko, nur ... bösartiger und gefährlicher. Es sind dunkle Wesen, die oft in von Menschen verlassenen Gegenden lungern. Die meisten waren mal Menschen, dessen Gaben so korrupt geworden sind, dass sie sich in Unwesen verwandelt haben. Sie kommen oft zur Wolfsstunde raus, wenn die Tiere nachts jagen.«
»Und, was macht ihr mit ihnen?«, fragte Finan leise.
Janne seufzte. »Solange sie keine zu großen Schäden machen, lassen wir sie einfach in Ruhe. Sollten sie jedoch Menschen oder der Natur zu gefährlich werden,... dann müssen wir sie beseitigen.«
Finan schluckte. Auch Elyon fragte nicht weiter.
Sie gingen zurück ins Haus und aßen dort zu Mittag, gleich danach waren Elyon und Janne damit beschäftig, alles für die morgige Reise vorzubereiten und zu packen. Finan begleitete die Prinzessin und half, wann immer es nötig war. Bevor Janne seiner eigentlichen Arbeit als Wächter nachging, gab er Finan noch ein paar Anweisungen und Ratschläge für seinen ersten Ausbildungstag, dann verabschiedete er sich. Elyon verschwand in ihr Zimmer, wahrscheinlich um ihr Gepäck zu überprüfen. Finan verbrachte seine Zeit im Stall bei Jesko. Dort lehnte er sich gegen den warmen Drachenkörper und kraulte sein struppiges Fell.
»Benimm dich, Onkel Jesko. Ich will nicht, dass du dich wieder selbst verlierst. Am liebsten wäre es mir, dass du als Mensch wieder von deiner Reise mit Elyon zurückkehrst.«
Jesko brummte leise, als würde er Finan zustimmen.
Die Stalltür ging auf und Elyon trat ein. »Essen ist bald fertig«, sagte sie.
»Das war ja schon fast ein ganzer Satz«, bemerkte Finan spöttisch.
Doch Elyon war noch nicht so weit, um Scherze zu treiben. Wenigstens kassierte er keinen finsteren Blick von ihr ein. Stattdessen stellte sie sich neben Jeskos Kopf und kraulte seine Stirn.
»Bist du aufgeregt, wegen morgen?«
Elyon hielt inne und starrte in die Leere. Dann schloss sie die Augen und seufzte leise.
»Bauch tut weh. Nacken ist angespannt. Aber bin neugierig. Will mehr erfahren.«
Finan sagte zunächst nichts, sondern beobachtete das Stroh unter seinen Füßen.
»Wenn du diese Nacht wieder nicht schlafen kannst, komm zu mir. Ich verspreche, ich beschwere mich nicht mehr.«
Damit stand Finan auf und ging ins Haus, um sich an warmen Eintopf satt zu essen. Später, als er kaum die Kerze gelöscht hatte und sich ins Bett zu legen, klopfte es leise an der Tür.
»Herein.«
Elyons kleine Gestalt schlüpfte hinein, schloss die Tür und kletterte auf das Bett. Wenigstens brachte sie immer ihre eigene Decke und das Kissen mit, dachte Finan seufzend und schloss die Augen.