Sie brauchten zwei Tage, um die Berge zu erreichen, die zum Gebiet von Jannes Sippe gehörten. Diese lagen etwas höher als das Wächtertal, somit war die Luft dünner und Elyon verbrachte den größten Stück der Reise auf Jeskos Nacken, um nicht außer Atem zu kommen. Auch wenn sie wegen Jesko nicht lange fliegen konnten, kamen sie schneller mit dem Galopp der Flughunde an, als mit Pferden.
Janne fand mitten auf ihrer Reise eine Höhle und zündete schnell ein Lagerfeuer an. Elyon konnte nichts tun. Nur ihm dabei zuhören, wie er getrocknetes Fleisch in einen Topf gab, es mit Wasser und Gemüse auffüllte und zum Kochen brachte. Als das Wasser brodelte, erzählte er ihr die uralte Geschichte über die Gründung des Landes.
»Um es mal so zu sagen, unser Gerwenen war eigentlich mal gefüllt von blutrünstigen Barbaren. Die vielen Sippenkriege waren brutal. Ich schaudere bis heute wenn ich mich an all die Beschreibungen in unseren alten Schriften erinnere. Die Kriege haben so lange angedauert, dass es am Ende kaum noch Männer oder Frauen gab. Nur noch ein paar Greise, die sich um die wenigen lebenden Kinder kümmern konnten. Und nicht nur Menschen wurden gnadenlos abgeschlachtet. Auch unsere Felder, Wälder und Tiere mussten dran leiden. Unsere Vorfahren haben buchstäblich fast das ganze Land zerstört.«
Elyon nippte an ihrem Wasserschlauch. Dank Jeskos Körperwärme, war das Wasser darin nicht gefroren. Sie schluckte so leise wie möglich, um kein einziges Wort seiner Erzählung zu verpassen.
»Am Ende gab es in im Tal, das heute das Wächtertal ist, nur noch eine kleine Gruppe an sehr jungen Frauen und Männern, die übrig geblieben waren. Alle Erwachsenen waren entweder tot oder mitten im Kampf. Alle im Tal entschlossen sich dazu, nicht an den Kämpfen teilzunehmen, sondern ihre Gaben zum Schutz der restlichen Kinder zu benutzen und um das Land wieder zu heilen. Sie entwickelten ihre Gaben weiter, ohne die Hilfe der Älteren und mit dem Ziel zu behüten statt zu bekämpfen. Dies führte dazu, dass sie eine tiefe Verbundenheit zur Natur, ihrer Gabe und Luoja entwickelten und mit dem Alter zu den stärksten Gabenträgern im ganzen Land wurden. Als andere aus den übrigen Sippen, die ebenfalls müde vom Kampf waren, von ihnen hörten, schlossen sie sich den jungen Wächtern an.
Einige blieben in der Wächterstadt, andere kehrten zurück zu ihrer Heimat, um sie wieder aufzubauen. Sie erzählten den Kindern über die Schrecken und Folgen der vielen Sippenkriege und hielten sie dazu an, es den Älteren nicht nachzumachen. Seitdem gab es in unserem Land keine Kriege mehr. Wir haben sogar Gesetze, welche diese verbieten. Wie du dir denken kannst, sind die Menschen in Gerwenen mit der Zeit wieder zahlreicher geworden, die Sippen haben sich zu Siedlungen, Dörfer, Städte und Königreiche entwickelt und irgendwann haben sie sich alle zu einem Land zusammengeschlossen. Das ist grob erzählt, die Geschichte unseres Landes.«
»Wie löst ihr politische Konflikte?«, fragte Elyon, kaum dass Jesko geendet hatte.
»Die werden durch Wettkämpfe gelöst. Dabei müssen die Regierenden selbst antreten. Es muss kein Faustwettkampf sein, es kann ein Spiel sein oder eine andere Art von Wettbewerb. Hauptsache, beide sind mit der Art einverstanden. Sie dürfen keine Vertreter in den Kampf schicken. Du wirst sicher mal so einen Wettkampf in der Wächterstadt erleben. Wir sind ein neutrales Gebiet hier in Gerwenen und deswegen werden wir oft als Schiedsrichter einberufen. Und, da wir immer die stärksten Wächter besitzen, traut sich auch niemand zu schummeln oder andere niederträchtige Methoden zu verwenden, um zu siegen.«
»Wieso erlauben die anderen Gebiete es euch, so viel Macht zu besitzen?« Elyon hörte, wie Janne sich ihr gegenüber hinsetzte. Er war ein grünlicher Fleck hinter den leuchtenden Flammen. Er stieß mit einem hölzernen Löffel leise und in regelmäßigen Takten gegen die Seiten des Topfes.
»Weil sich die Wächterstadt in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart als friedlich erwiesen hat und niemals ihre Macht missbraucht hat. Es gab natürlich Einzelne unter uns, die es mal versucht haben, doch sie wurden ganz schnell aus unserer Mitte verbannt.«
»Was sind die Hauptaufgaben der Wächter?«, fragte Elyon weiter.
Janne klopfte den Löffel ab und stand dann auf. Sie hörte, wie er in den Tasche herumwühlte.
»Verschiedenes. Wir sind vor allem in den Wintermonaten im Einsatz. Wie du es selbst gerade erlebst, ist es für Menschen eine besonders harte Jahreszeit. Wir helfen wenn ein Ort eingeschneit ist, bei Lawinen, wenn Proviant ausgeht, zu viel Vieh gestorben ist, bei Krankheitsnöten. Aber auch wenn Räuber oder andere Verbrecher so viel Ungutes treiben, dass die örtlichen Sicherheitskräfte nicht mehr mit ihnen zurechtkommen. Aber das, wofür wir hauptsächlich eingesetzt werden, sind die Bekämpfung und Beseitigung der korrupten Wesen in unserem Land. Diese machen uns am meisten Ärger.«
Elyon schluckte. Sie waren während ihrer Reise einem dieser dunklen Wesen begegnet. Zwischen Tannen war es vorbei gehuscht. Elyon hatte die pechschwarze Silhouette dank der Sonne und dem weißen Schnee erkennen können. Eine Gänsehaut überkam Elyon bei der Erinnerung. Als sie den Blick der Gestalt auf sich gespürt hatte, hatte sich ihr Magen so zusammengeknotet, dass sie fast erbrochen hätte. Selten hatte ihr Gefahreninstinkt so einen heftigen Alarm geschlagen. Zum Glück waren sie schnell weitergaloppiert und das Wesen hatte sie nicht verfolgt.
»Was, was tun sie? Die korrupten Wesen?«
Stille. Nur das Knacken des Feuerholzes und das Atmen der Flughunde war zu hören. Jesko lag direkt hinter ihr, sein warmer Körper wärmte ihren Rücken. Alda lag am Eingang, weit genug von Jesko, um sich von dem Schnee draußen ablenken zu lassen.
»Es kommt ganz drauf an, was ihre Gabe ursprünglich war und was für eine Persönlichkeit sie als Menschen hatten. Wenn jemand zum Beispiel sehr gierig war, kann es sein, dass dieser Mensch als Schattenkorruption viel klaut und extrem aggressiv wird, wenn man ihn daran hindert. Ich glaube, du kannst dir vorstellen, wozu diese korrupten Wesen in der Lage sind.«
Der Löffel kam zum Stillstand. Jeskos Schritte scharrten auf den Boden, er holte etwas Geschirr aus den Taschen und dann hörte sie wieder den Löffel und das gießende Geräusch von Suppe. Elyon rümpfte die Nase, bemühte sich aber, gleichgültig zu auszusehen, als Jesko sich neben sie auf der Decke setzte und ihr eine warme Holzschüssel in die Hand drückte.
Elyon tastete mit einer Hand nach dem Löffel. Als der Geruch der Suppe ihr in die Nase stieg, zog sich ihr Magen zusammen. Sie bemühte sich, ihr Gesicht so leblos wie möglich erscheinen zu lassen. In diesem Land schien es nur Suppen und Eintopf als Speisen zu geben. Elyon hasste gekochtes Gemüse. Sie hasste zu Tode gekochtes Fleisch. Doch in dieser Kälte wärmte es sie auf und etwas anderes gab es nicht zu essen. Also schlang Elyon den Eintopf so schnell wie möglich hinunter, um es hinter sich zu bringen, nur um danach unter qualvollem Sodbrennen zu leiden.
»Sag mir Bescheid, wenn du bereit bist. Sollte das Wetter halten, erreichen wir in etwa drei Stunden meine Sippe.« Janne klappte etwas metallisches zu, dann scharrten seine Schritte auf dem Boden, die sich in Richtung Höhlenausgang entfernten.
Elyon drückte gegen ihren schmerzenden Bauch und stieß leise auf, um sich etwas Erleichterung zu verschaffen. Sie sollte nicht mehr so schlingen, doch wie konnte sie sonst den widerlichen Eintopf runterkriegen?
Elyon stand auf und begann nach den Schüsseln zu tasten, um sie draußen mit Schnee zu säubern, ens der wenigen Aufgaben, danach sammelte sie alles weitere auf, um es zu Janne zu bringen. So war das Lager schnell wieder abgebaut und sie begaben sich zurück in die beißende Kälte. Heute schien wenigstens die Sonne. Elyon konnte dadurch zwar nur noch wenig sehen, da sich alles in blendende weißen Flecken verwandelte und die Sonne ihr in den Augen stach, doch wenigstens fühlte sich das Wetter dadurch nicht ganz so kalt an. Sie kraulte Jesko immer wieder hinter den Ohren und sprach ihm gut zu, weil sie dankbar für seine Wärme war und auch weil er für sie durch den Schnee stapfte.
Als Elyon ein paar dunkle Flecken in der Ferne entdeckte, hoffte Elyon, dass ihre Vermutung stimmte, dass es sich um Häuser handelte. Draußen zu sein, war ihr sonst immer am liebsten, doch nicht in dieser Kälte. Und sie wollte ankommen, um so schnell wie möglich mehr über ihre Gabe zu lernen.
»Wir sind bald da!«, rief Janne. Elyon atmete erleichtert auf. Die knirschenden Schritte verstummten, worauf Jesko ebenfalls anhielt.
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Sie hatten bereits besprochen, dass Jesko sich dem Dorf nicht nähern sollte, da die ganze Umgebung mit Flughunden wimmelte, die den dunklen Flughund nicht freundlich willkommen heißen würden. Jannes Flughündin trug sie allein weiter in Richtung der Oberger Sippe.
Alda flog sie über den Schnee hinweg und in einem Augenblick landeten sie auch schon wieder auf die weiße Decke. Janne half Elyon abzusteigen und legte ihre Hand um seinen Arm. Er war immer noch nicht der beste Blindenführer. Wenn der Boden uneben war, oder sie über einen Stein steigen mussten, was leider die Regel in so einer bergigen Gegend war, warnte Janne sie nicht und er musste Elyon ständig daran hindern zu Fallen und zu Stolpern.
Sie näherten sich einer hölzernen Mauer, vor der mehrere Menschen standen und wenn Elyon es richtig deutete, entdeckte sie auch ein paar Tiere. Vögel, groß genug um mindestens Adler oder andere ähnliche Raubvogel zu sein, dazu vier große Huftiere mit breitem Geweih und ein paar Hunde, die sie selbst mit ihrer schlechten Sicht durch ihre Bewegungen und dem Hecheln und Schnüffeln erkennen konnte.
»Janne? Was machst du denn hier?«, fragte eine weibliche Stimme.
»Kannst du Momi für mich holen? Ich habe einen besonderen Gast für sie«, rief Janne. Gleich darauf kamen zwei Hunde auf Elyon zugelaufen. Durch den gleichmäßigen Takt ihres Hechelns, den wedelnden Schwänzen und dem schnellen Tapsen, wusste Elyon, dass sie mit freundlichen Absichten kamen. Sofort ging sie in die Hocke und streckte ihre Hände aus. Warme Zungen schleckten über ihre Finger. Elyon biss sich auf die Lippen, um ihr Lächeln zu unterdrücken und streichelte die grauweißen Hunde, dessen Fell dick und weich war und sie an das von ihrer Ziehmutter erinnerte.
»Wer ist das? Die beiden sind sonst nicht so freundlich gegenüber Fremden«, bewunderte eine männliche Stimme.
»Hast du schon ihre Nase bemerkt?«, wisperte eine andere.
»Sie ist eine Gestaltwandlerin in einer etwas, schwierigen Lage«, ratterte Jesko herunter. »Sie braucht so schnell wie möglich Unterweisung.«
Stille. Die Atmosphäre fühlte sich schwer an, genau so wie die Blicke, die man ihr zuwarf. Die Hunde winselten leise. Elyon fühlte sich von den Menschen nicht willkommen.
»Warten wir ab, was Momi sagt«, flüsterte Janne ihr zu. »Sie ist diejenige, die in unserer Sippe das sagen hat.«
»Eine Anführerin?«, röchelte Elyon.
»Ja, und meine Großmutter.«
Dann sollte auch Janne eine hohe Stellung in der Sippe haben. Doch statt ihn hineinzubitten, ließen sie den Sohn der Matriarchin einfach draußen in der Kälte stehen. Elyon überlegte, wie die Ränge in dieser Sippe waren, und wie sie behandelt wurden. Mit Monarchen kannte sie sich aus, aber nicht, was die sozialen Stellungen in kleinen Siedlungen und Dörfern anbelangte.
»Ah, ich kann bereits Vinjas Schritte im Schnee hören, eine Berglöwin und Momis Seelentier. Ihr besonderes Bündnis«, flüsterte Janne.
Klappern und Kratzen von Holz brachte den Boden unter ihnen leicht zum Beben. Das Tor ging auf und Elyon spitzte ihre Ohren. Leises Knirschen im Schnee, so leise, als würde das Tier, das auf sie zukam, kaum etwas wiegen. Eine hellgraue, fast weiße Tiergestalt trottete gemächlich auf sie zu. Ein Mensch saß auf seinem Rücken.
»Janne? Was machst du hier? Und wer ist das?«, bellte eine harsche Frauenstimme. Feste Schritte knirschten voller Hast im Schnee. Die Gestalt war hochgewachsen, fast so groß wie Janne selbst und Elyon glaubte den harten Blick der alten Frau auf dem blassen Gesicht erkennen.
»Ich grüße dich Momi, das ist Elyon. Sie ist eine Gestaltwandlerin«, sagte Janne in seinem typisch freundlichen Ton.
Die Frau erwiderte nichts, Elon konnte ihr Starren auf ihren eiskalten Wangen spüren. Das Gesicht der Frau war zu verschwommen, Elyon konnte ihrem Blick nicht begegnen, nur ihren eigenen ohne Unterbrechung auf dem Gesicht der Frau belassen. Die Berglöwin schnupperte Laut, verließ jedoch nicht die Seite ihrer Meisterin.
»Hm, ich verstehe«, brummte sie. »Dann kommt mal mit und erzählt mir die Einzelheiten.« Die Matriarchin machte auf dem Absatz kehrt und ging zurück Richtung Dorf. Elyon streckte ihre Hand aus, Janne griff danach und führte sie in das Dorf hinein.
Die Schritte vor ihnen verstummten, die Jannes Großmutter hielt inne und sog nach Luft, als wollte sie etwas sagen, doch keine Worte kamen heraus. Nur Stille.
»Blind?«, fragte die alte Dame schließlich.
Janne antwortete nicht. Elyon vermutete, dass er stattdessen nickte, da seine Großmutter stumm weiterlief, viel langsamer als davor.
Sie betraten eine hölzerne Hütte mit einem tiefliegenden roten Dach. Als Elyon durch die Tür ging, war es zu dunkel, um Genaues zu erkennen, es roch harzig und nach Kerzenwachs. Elyon lehnte sich mit ihrem Armstumpf gegen die Wand und zog sich die Stiefel aus. Der Boden knarzte unter ihren Füßen, und war nicht so warm, wie die beheizten Böden, die sie aus der Wächterstadt oder die Siedlung kannte.
»Jana! Janne ist hier mit einem Gast! Bitte bring uns was Warmes zu trinken und das Honigbrot!«, rief die alte Frau.
Laufende Schritte brachten den Boden laut zum Knarzen. Eine blonde Gestalt tauchte vor ihnen aus auf.
»Janne?! Janne!«, echote eine helle Frauenstimme. Jana warf ihre Arme um ihn und Janne stöhnte vor Schmerzen auf.
»Jana! Denk an deine Kraft!«
Die junge Frau lachte. »Wie gehts es meinem Cousin mit dem grünsten Daumen auf den ganzen Obergen?«
»Jana, genug davon. Janne hat Wichtiges zu besprechen. Ich vermute, du musst heute wieder zurückreisen?«, blaffte die Matriarchin aus einem anderen Raum.
»Ja, genau so ist es. Komm Elyon, ich bringe dich in die Wohnstube.«
Die jüngere Frau machte eine Handbewegung auf Janne zu und anhand des Geräusches, klang es so, als gäbe sie ihm einen heftigen Klaps auf dem Rücken. Janne stöhnte, dann führte er Elyon weiter in das knarzende Haus hinein. Als sie die Wohnstube betraten, brauchte Elyon keine Führung mehr und sie ließ Jannes Arm los. Hohe Fenster beleuchteten den Raum, zusätzlich flackerte ein Feuer in einem Kamin links von ihnen. Elyon steuerte auf ein paar rote Sofas zu, die um einen breiten, niedrigen Holztisch in der Mitte des Raums standen.
»Du bist also nicht vollständig blind?«, fragte die alte Dame.
»Nein«, gab Elyon zurück und setzte sich gegenüber der Matriarchin hin.
»Nun denn, erzählt mir, was wollen die Wächter dieses mal von uns?«
Janne erzählte ihr kurz zusammengefasst Elyons Geschichte. Die Frau vor ihnen hörte still zu. Die einzigen Geräusche, die sie machte, war, als sie an ihrem Tee nippte. Elyon konnte ihre Reaktionen nicht einschätzen, da ihr Gesicht zu verschwommen war.
Als Janne endlich endete, seufzte die alte Frau nur.
»Nun, wir werden sie sicher nicht abweisen, aber von uns zu verlangen, ihr viel in so kurzer Zeit beizubringen, ist unmöglich. In drei Monaten wird sie nicht mal ein Körperglied verwandeln können, geschweige denn ihre ganze Gestalt umändern. Das geht einfach nicht. Das würde ihr Körper nicht mitmachen. Sie sieht so klein und dürr aus, ich wette, sie hat noch nie ein Schwert in ihrer Hand gehalten.«
Elyon presste die Lippen aufeinander und stand auf, ehe Janne etwas erwidern konnte. Es war zwar schon ein paar Monate her, doch die Hornhaut auf ihrer linken Hand war noch nicht verschwunden.
Sie ging mutig auf die alte Frau zu und hielt ihr die Hand hin.
»Ich kann Schwertkampf, Nahkampf, Schießen und Speere. Reiten ist auch kein Problem. Kann auch Tiere zähmen. Und Körperteile verändern.«
Statt auf eine Antwort der Matriarchin zu warten, stapfte Elyon zurück zu ihrem Platz und setzte sich wieder hin.
Sie hörte Janne leise schnaufen, als würde er ein Lachen unterdrücken.
»Nun, ich sehe ein, ich habe dich falsch eingeschätzt, Elyon war dein Name?« Elyon nickte.
»Gut. Wir werden sie, so gut es geht, in der kurzen Zeit unterweisen. Du kannst mich Hilda nennen.«
»Danke, Momi. Ich werde kurz meinen Proviant vorbereiten und mich etwas erfrischen, dann muss ich leider gleich wieder aufbrechen.«
»Ist schon gut, was ist mit deinen Eltern? Du solltest sie wenigstens kurz begrüßen.« Die alte Dame klang etwas grimmig, wenn sie sprach, dennoch rieb der Klang ihrer Stimme Elyon nicht auf, so wie die ihres Vaters es getan hatte. Es fehlte die boshafte Schärfe, die sie bei ihm, oder beim Kaiser herausgehört hatte.
»Elyon, komm kurz mit, wir müssen noch Jesko irgendwo unterbringen. Momi, sind die Höhlen am Wasserfall frei?«
»Sie sind verlassen, die Jünglinge sind schon alt genug, um oben an den Bergspitzen zu leben«, antwortete die alte Dame und schlürfte leise an ihrem Tee.
»Gut, dann können wir Jesko dort verstecken.«
»Wer ist Jesko?«, fragte Hilda.
»Später!«, rief Jesko und führte Elyon zurück zur Haustür.
Sie packten sich wieder warm ein, ehe sie zurück in die Kälte kehrten.
»Elyon, ich muss dich vorwarnen, auch wenn ich glaube, dass du dich alleine durchsetzen kannst. Meine Familie ist sehr streng. Sie nehmen Außenstehende und neue Gestaltwandler ganz schön in die Mangel und halten sich nicht mit harschen Worten zurück. Du musst ihnen beweisen, dass du ein dickes Fell hast und dich nicht kleinkriegen lässt. Folge einfach ihren Anweisungen so gut du kannst. Ich bin mir sicher, dass du vor allem meine Großmutter auf deine Seite ziehen wirst. Sie mag Leute, die mit Taten, statt mit Worten sprechen.«
Ein paar dunkle Erinnerungen aus Elyons Kindheit drohten hochzukommen, aus der Zeit ihres Kampfunterrichts. Und als ihr Vater sie bestraft hatte, wann immer Elyon Fehler begangen hatte.
Sie beschloss die Gedanken mit einer Frage zu vertreiben.
»Gibt es Schläge für Fehler?«
Das Knirschen vor ihr im Schnee verstummte und Janne warf den Kopf zurück.
»Schläge? Elyon, wie kommst du darauf? Natürlich nicht! Hier wird niemand geschlagen. Wieso? Hat dich jemand geschlagen?«
Elyon antwortete nicht darauf, sondern atmete erleichtert aus. Sie lief an Janne vorbei, da sie in der weißen Landschaft deutlich Jeskos Gestalt ausmachen konnte und der Schnee locker genug war, dass sie nicht ausrutschte.
»Warte auf mich!«, rief Janne ihr hinterher. Sie war dankbar, dass Janne nicht nachhakte und das Thema fallen ließ. Finan hätte schon längst versucht mit hunderten von Fragen die Wahrheit herauszufinden. Es war manchmal fast schon zu still mit Janne. Das war Elyon nicht mehr gewöhnt. Und es fühlte sich seltsam an, dass sie es nicht mehr gewöhnt war. Sie sollte erleichtert sein. Doch stattdessen wünschte sie, dass Finan ebenfalls mitgekommen wäre.