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Elyons Erwachen Band 2 (German)
7.1 Der sechste Monat

7.1 Der sechste Monat

Elyon saß auf einer Arztliege, ihre Hand wurde von einer älteren Frau abgetastet, ein Sehheiler, wie man Elyon erklärt hatte. Sie gehörte zu den Heilern und man hatte ihr erklärt, dass diese in der Lage waren zu spüren, was mit dem Körper nicht stimmte, allein durch eine Berührung.

»Kind, kann es sein, dass du in letzter Zeit nicht gut essen kannst und Bauchschmerzen hast? Vielleicht ein brennendes Gefühl in der Magengegend?« Ihre Stimme klang rau und gebrochen, wie ein altes abgenutztes Musikinstrument. Elyon konnte nicht sehen, wie alt sie wirklich war, doch als ihre Hand den Rücken der Heilerin gestreift hatte, hatte Elyon die faltige, labbrige Haut der Dame gespürt.

Elyon war erstaunt, wie genau sie ihre Symptome beschrieben hatte.

»Ja.«

»Hm, übersäuerter Magen, aber ich konnte auch einige Narben spüren. Hast du jemals etwas Gefährliches eingenommen? Gift oder Ähnliches?«

Elyon nickte. »Säure.«

»Verstehe. Ich habe in deiner Akte gesehen, dass du gerade in Gesprächsbehandlung bist. Ich denke, dass dir etwas mehr Ruhe und Entspannung guttun könnte. Ich verschreibe dir ein paar Kräutermittel, die deinen Magen beruhigen und deine Verdauung anregen werden. Dann noch ein paar weitere, um die Nerven zu beruhigen. Zusätzlich solltest du Schonkost bekommen. Ich gebe dir einen Zettel mit, den musst du nur in deiner Küche abgeben und sie geben dir das richtige zu Essen. Zusätzlich empfehle ich dir ein paar Besuche in die Varmkilden. Dafür schreibe ich dir auch einen Zettel auf, den du den Betreibern dort vorzeigen musst, dann kannst du sie umsonst nutzen, zusammen mit einer Begleitung.«

»Danke«, sagte Elyon. Sie hatte keine Ahnung, was die Varmkilden waren, doch sie hatte gerade keine Muße, um Fragen zu stellen., da die gestrigen Strapazen ihr noch in den Knochen saßen. Elyon sehnte sich nach ihrem Zimmer, ihrem Bett und Valka und wollte. Doch diese konnte Elyon sich nicht gönnen. Sie hatte heute noch einiges zu tun.

Als Elyon wieder draußen stand, nicht weit vom Haupteingang der Klinik, blieb sie dort stehen und starrte den grauen Winterhimmel an. Wann hatte sie sich das letzte Mal ausruhen können? Für einen längeren Zeitraum? So, dass sie sich danach erfrischt fühlte? Verschwommen erinnerte Elyon sich an die Nächte im Wald, umgeben von ihrer Wolfsfamilie.

Valka, die wie immer brav vor der Klinik gewartet hatte, wimmerte neben ihr. Elyon war so erschöpft, sie konnte noch nicht einmal Valkas Gedanken spüren. Mit einer trägen Handbewegung kraulte sie kurz Valkas weißes Ohr, dann bewegte sie sich ziellos voran. Ließ ihre Füße die Wege entlanglaufen, wo auch immer diese führen mochten.

Ihr Kopf war übervoll mit schweren Gedanken. Wann hatte dies angefangen? Als sie von den Sturminseln geflohen war? Als sie Alina, Nevin und den anderen begegnet war? Oder seit sie in Gerwenen angekommen waren? Ganz gewiss nachdem sie angefangen hatte, mit der Ärztin über ihre Vergangenheit zu sprechen. Elyon war auch aufgefallen, dass sie seitdem schlechter schlief, selbst mit Valkas Gegenwart.

Elyons Gedanken wurden von einem entferntem Rauschen unterbrochen. Finan hatte mal von einem Wasserfall gesprochen, der selbst in dieser eisigen Kälte nicht gefror. Elyon folgte dem Rauschen, das sie zu einer großen Parkanlage führte. Wärme strahlte ihr vom weiß gekachelten Boden entgegen. Nicht sehr stark, doch genug, um den Boden frei von Schnee zu halten. Blaue Blumen wuchsen zwischen dem graugrünen Gras, das kaum noch am Leben zu sein schien. Weiter hinten, über den Baumkronen, entdeckte sie den rauschenden Wasserstrom, der von dem Gestein des riesigen Bergs in die Tiefe floss.

»Valka, sei frei.« Das war Elyons Anweisung, wann immer sie Valka freies Geleit gab, damit sie jagen, oder ihre Geschäfte erledigen konnte. Sie durfte ein wildes Tier nicht ständig an sich gebunden halten. Und im Augenblick wollte Elyon allein sein. Valka beobachtete sie für einen Augenblick, ohne auch nur mit dem Auge zu zucken. Dann nieste sie, wandte sich ab, warf noch einen letzten Blick zurück und trabte davon. Elyon wusste, dass der Fähe nichts passieren würde, da sie ihr Halsband trug, das sie als Seelentier auszeichnete.

Elyon trat durch die Bäume hindurch und genoss die Stille um sie herum. Der Park war leer, die meisten waren mit ihrer Arbeit beschäftigt. Als Elyon endlich vor dem Wasserfall stand, war auch hier keine Menschenseele zu entdecken. Elyon schritt auf die weißgraue Balustrade zu, die sie vor der tiefen Schlucht schützte, in die das tosende Wasser herabfiel. Eiskalte Wassertropfen besprenkelten Elyons Gesicht, dass sie kaum die Augen offen halten konnte. Die Kälte trieb für einen Augenblick all die viel zu komplizierten Gedanken aus ihrem Kopf. Doch Elyon konnte nicht lange hier in der Kälte stehen. Stattdessen ging sie mit einer Hand auf dem kalten Gestein ruhend die Abgrenzung des Bodens entlang, bis das Wasser sie nicht mehr erreichen konnte und Elyon nur noch die tiefe Schlucht vor sich hatte.

Von hier aus wirkte das Wasser fast schwarz. Genau wie damals. Als ihre Mutter gestorben war. Als das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem inneren Auge erschien, begann Elyons Herz gegen ihre Brust zu hämmern. Ein Schütteln überkam ihre Arme und Beine, das nicht durch die Kälte verursacht wurde. Die kalte Luft, an die sich Elyon eigentlich gewöhnt hatte, fühlte sich auf einmal viel zu trocken an, zu hart, um sie einatmen zu können. Keuchend ging sie auf die Knie und lehnte ihren Kopf zwischen den Balustern und schloss die Augen. Elyon versuchte mehrmals tief ein und auszuatmen und sprach mit sich selbst.

Sie war sicher. Sie war nicht im Wasser. Sie brauchte sich nicht zu fürchten. Es gab andere Dinge, auf die sie sich konzentrieren musste. Ihre Ziele waren wichtig. Doch welche Ziele nochmal?

Elyon öffnete ihre Augen. Was waren ihre Ziele? Jesko befreien? Zurück nach Rovisland kehren? Nevin retten? Nein. Dafür war sie eigentlich nicht ursprünglich von ihrer Heimat geflohen. Warum war sie noch einmal geflohen?

Elyon drehte sich um und lehnte sich mit dem Rücken an das Gestein, während hinter ihr das Wasser ungetrübt weiter rauschte.

Eine sichere Heimat. Das hatte sie gesucht. Ein Ort, wo Menschen ihr nicht gefährlich werden konnten. Das war ihr ursprünglicher Wunsch gewesen. Doch damals hatte sie es nicht so klar in Gedanken fassen können wie jetzt. Damals war sie nur ihrem Überlebensinstinkt gefolgt, hatte sich von Menschen hier und da hintreiben lassen. Hatte sich von einem seltsamen Pflichtgefühl dazu bringen lassen, den Urdrachen zu erlegen.

Elyon berührte ihren Armstumpf. Tastete den übrig gebliebenen Oberarm, der manchmal immer noch schmerzte. Kurz schwellte ihr Herz an und Hitze staute sich in ihren Augen. Doch es kamen keine Tränen, da gleich im nächsten Augenblick eine betäubende Erschöpfung über sie fiel und alles was sie gerade gedacht hatte, auf einmal belanglos erschien. So belanglos, dass Elyon aufstand und ohne mit der Wimper zu zucken, hinab auf das Wasser starrte, das sie sonst so fürchtete.

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Wäre sie damals ertrunken, wäre ihr einiges erspart geblieben. Sie hätte für einen kurzen Augenblick Schmerzen gespürt, doch dann, dann hätte einfach alles geendet. Keine Schmerzen mehr, kein Kämpfen um ihr Überleben. Keine schweren Gefühle, kein Verlust, keine komplizierten Menschen, die sie bis heute nicht ganz begreifen konnte.

Warum hatte sie so lange darum gerungen, am Leben zu bleiben? Elyon stand auf und lehnte sich auf die Abdeckplatte der Balustrade, um dem Wasser ein Stück näherzukommen. Warum fürchtete sie sich so sehr vor Wasser?

Die Erschöpfung drückte gegen ihre Schläfen und Augäpfel. Ein schweres Seufzen entglitt aus ihren Lippen. Gerade als Elyon wieder ihre Füße auf den Boden aufsetzen wollte, riss ein Schrei durch das tosende Wasser.

»Elyon! Was tust du da?«

Zwei Arme packten sie und rissen sie zur Seite. Elyon landete mit voller Wucht auf den steinernen Boden. Finans Körper traf auf ihren auf und drückte sämtliche Luft aus ihren Lungen heraus, sodass sie vor Schmerzen nur noch grunzen konnte.

Finan erhob sich, nur um seine Hände mit Schwung links und rechts neben ihrem Kopf zu platzieren und sie dann mit weit aufgerissenen Augen von oben herab anzustarren.

Elyon wollte ihn am liebsten von sich stoßen, doch sie schnappte immer noch mit schmerzender Brust nach Luft.

»Bist du noch ganz dicht? Du kannst doch nicht einfach ... was ist nur mit dir los?«

Finans Stimme klang völlig aufgelöst. Sobald Elyons Lungen sich etwas erholten, holte sie mit der Hand aus und stieß ihn zur Seite.

»Du bist verrückt. Das hat wehgetan«, grummelte sie und stand auf.

Nun war es Finan der vor Schmerzen stöhnte, aber nicht für lange, er sprang fast gleich nach dem Aufprall wieder auf die Beine und wütete weiter.

»Du wolltest dich herabstürzen, nicht wahr? Seit gestern, nach der Sache mit Jesko, bist du noch finsterer drauf als sonst. Was ist passiert? War es der seltsame Nebel? Warum um alles in der Welt willst du dich umbringen?«

Elyon starrte entgeistert seine unscharfen Umrisse an. Sein roter Mantel war vor dem weißgrauen Hintergrund leicht zu erkennen. Sie verstand nicht, wie er auf den Gedanken kam, und warum ihn das so bewegen sollte, was mit Elyon geschah. Er konnte sie schließlich nicht leiden. Elyon stapfte an ihm vorbei in Richtung Park.

»Oh nein, Eure Hoheit, so leicht kommt ihr mir nicht davon«, zischte er, als Nächstes packte er Elyons Handgelenk und zog sie ruckartig zurück, sodass sie ihm wieder gegenüber stand.

Elyon versuchte sich von ihm loszureißen, doch er schnappte sich nun ihre Oberarme und so sehr sie es auch versuchte, sie kam von seinem Griff nicht los.

»Wage es nicht, mich hier stehenzulassen! Wage es nicht, mich wie Abschaum zu behandeln! Vor allem, weil ich sofort nach Valkas Winselattacke in meinem Zimmer ihr wie ein Blitz hinterhergelaufen bin, weil ich dachte, dass dir irgendetwas Schlimmes zugestoßen ist!«

Wieder diese nackte Angst in seiner Stimme, gepaart mit zischender Wut. Und Elyon wusste nun endlich, warum. Sie war seine letzte Hoffnung, seinen Bruder zu retten. Natürlich war er besorgt. Nicht um sie als Mensch, nur, dass Elyons weiterhin in der Lage sein würde, ihm auszuhelfen.

»Ich wollte mich nicht umbringen. Keine Sorge. Jesko und Nevin sind nicht verloren.«

Stille. Elyon versuchte, seinen Gesichtsausdruck zu erkennen. Sie glaubte, aufgerissene Augen zu sehen. Nach der Stille bebte sein Atem und wehte ihr stoßweise entgegen.

»Was haben Jesko und Nevin damit zu tun?«, keifte er. »Ich mache mir hier gerade Sorgen um dich! Nicht um sie!«

Elyon wandte sich in seinem Griff. Sie wollte ihm nicht so nahestehen. Sie wollte sich nicht weiter mit komplizierten Gefühlen und Gedanken herumplagen.

»Wozu? Wir sind nichts. Keine Freunde, keine Familie.«

Endlich ließ er sie los. Elyon trat ein paar Schritte zurück und schüttelte seine Berührung von sich ab, wie ein Hund, wenn sein Fell nass war. Danach begann sie ihre Kleidung nach Steinen und Gras abzutasten, um sie mit der Hand abzuwischen.

»Hah. Ich hätte es wissen müssen. Und ich dachte, dass wir vielleicht endlich so etwas wie Freunde geworden wären. Aber was sind Menschen schon für dich? Nichts. Wenn du könntest, würdest du am liebsten uns alle zurücklassen und mit den Tieren im Wald leben. Habe ich recht?« Seine Stimme klang giftig. So hatte sie Finan noch nie gehört. Elyon hielt in der Bewegung inne und peilte den roten Mantel mit einem strengen Blick an.

»Ich habe deinem Bruder versprochen, ihm zu helfen. Ich halte meine Versprechen. Egal was kommt.« Elyon wandte ihr Gesicht von ihm ab. Wo war Valka? Sie konnte die Fähe weder hören noch spüren.

»Egal was kommt? Du bist also auch bereit dich einfach in jede Gefahr hineinzustürzen, vielleicht noch deinen anderen Arm zu verlieren? Vielleicht auch noch deine Beine? Dein Leben?«, blaffte Finan und seine Stimme war so verzerrt, dass sie schwer schlucken musste. So klang er fast wie sein cholerischer Vater. »Ich habe das Gefühl, dass alle Menschen dir egal sind. Selbst du bist dir egal. Und ich verstehe nicht, warum! Ich verstehe nicht, warum du so lebst und denkst, als wärst du nichts als ein Werkzeug, ein Ding, das einen Zweck erfüllen muss! Du bist ein Mensch, verdammt nochmal!«

Dank seines Gebrülls begann Elyons Kopf vor Schmerzen zu pochen. Sie presste die Lider zusammen und massierte sich die Schläfe. Sie musste mit ihm reden, sonst würde sie ihn heute nicht mehr loswerden. Der Tag hatte gerade erst begonnen und Elyon kannte ihn und die Ausdauer seiner Klappe.

»Ich bin müde. Bald muss ich mich mit den anderen treffen, will vorher noch frühstücken«, murmelte sie.

Finan stöhnte wütend auf.

»Glaubst du wirklich, dass du mich einfach so hier stehen lassen kannst? Das lasse ich mir nicht von dir bieten! Rede mit mir! Ich will nicht, dass du von hier gehst in dem Glauben, du bist nichts außer einem Gegenstand, das meine Familie retten soll! Vielleicht siehst du uns nicht als Freunde, ich aber schon! Ich will, dass wir Freunde sind! Von mir aus auch ... Rudelgefährten oder was auch immer du für deine Wölfe empfindest!«

Elyon hob erstaunt den Kopf. Sie konnte nichts erwidern, ihre Gedanken kamen zum Stillstand, während sie abwechselnd ins Leere und dann wieder Finan betrachtete. Rudelgefährten. Das Wort echote in ihren Gedanken und bewegte etwas in ihr, das sie nicht begreifen konnte.

»Was? Habe ich dich jetzt schon wieder irgendwie beleidigt? Sag doch was! Irgendwas!«

Elyon seufzte schwer. »Ich kann nicht.« Das Gewicht all ihrer Gefühle breitete sich wie Blei in ihren Gliedern aus.

»Wie, du kannst nicht?!« Finan klang immer noch wütend. Elyon sollte sich am besten abwenden und gehen. Doch aus irgendeinem Grund, bewegten sich ihre Füße nicht, wie sie es wollte.

»Ich weiß es nicht. Ich bin erschöpft und alles fühlt sich schwer und kompliziert an. Ich verstehe vieles nicht. Ich habe ständig Bauchschmerzen«, wisperte Elyon.

Stille. Finan bewegte sich nicht von der Stelle, doch sie spürte seinen Blick auf ihr Gesicht.

Da stapfte er auf Elyon zu, doch seine Schritte waren leicht und vorsichtig. Im nächsten Augenblick stand er ihr so nahe, dass Elyon instinktiv zusammenzuckte. Seine Arme legten sich um ihre Oberarme und er drückte sie fest an sich. Ihr ganzer Körper schauderte und sie war so überrumpelt von Finans Umarmung und plötzlichem Stimmungswechsel, dass sie gar nicht daran denken konnte, sich davon zu befreien.

»Ich verstehe. Es tut mir leid, dass ich dir noch mehr Druck gemacht habe. Versprich mir nur eins: hege keine weiteren Gedanken mehr, dein Leben zu beenden und gib auf dich Acht. Und wenn du Hilfe brauchst, ich bin da. Du kannst mich jederzeit fragen. Auch wenn es dir unangenehm ist.«

Elyon schluckte schwer und ließ die seltsame Berührung über sich ergehen. Zu ihrer Erleichterung, ließ Finan sie bald los und legte seine Hand auf ihre Schulter um sie mit sich zu ziehen.

»Komm. Lass uns was essen gehen.«

Schweigend liefen sie durch den Park, ohne das Finan ihre Schulter losließ. Und Elyon schüttelte sie nicht ab.