—Was beim letzten mal geschah—
Der Wald lag still unter Thalors weit ausgebreiteten Flügeln, als er am frühen Morgen durch die Lüfte schwebte. Es war die Stille vor dem Sturm, bevor die Sonne den Himmel eroberte. Doch heute war es nicht die Schönheit der Natur, die ihn beschäftigte – es war das, was er am Abend zuvor entdeckt hatte. Ein Drachenbrüllen hatte ihn in eine alte Ruine geführt, und dort, gefangen in einem Netz aus magischen Seilen, hatte er das Undenkbare gefunden: Seine Mutter.
Zehn Jahre waren vergangen, seit sie ihn verstoßen hatte. Zehn Jahre, seit sie ihn aufgrund seiner scheinbaren Schwäche zurückließ. Und jetzt lag sie dort, verletzt und gefangen. Thalors Gefühle schwankten zwischen Wut, Schmerz und einer unerwarteten Zärtlichkeit. Er hatte sich geschworen, nie wieder an die Vergangenheit zu denken, aber das Schicksal hatte andere Pläne.
Als er an jenem Abend das Netz durchtrennte, hatte sie ihn zunächst nicht erkannt. „Wer bist du?", hatte sie schwach geflüstert, ihre Stimme hohl und müde. Als er seinen Namen sagte, war es, als hätte sie einen Geist gesehen. „Thalor?", hatte sie mit zitternder Stimme gefragt. „Ich dachte, du wärst tot..."
Wut hatte in ihm aufgekocht. „Tot?", hatte er gebrüllt. „Tot? Nein, Mutter, ich lebe! Und ich bin stark, trotz deiner Fehler!" Doch noch bevor er sich weiter in seinen Zorn stürzen konnte, hatte er die Erschöpfung in ihren Augen gesehen, die Schwäche in ihrem Körper, und seine Wut war einer unerwarteten Traurigkeit gewichen.
„Ich habe einen Fehler gemacht", hatte sie geflüstert. „Ich dachte, du wärst verloren."
———
Jetzt, Stunden später, trug er sie auf seinem Rücken zum Zirkus zurück. Elara würde schockiert sein, das wusste er. Mara, die Tierpflegerin, und Joran, der Trainer, ebenso. Doch es war die richtige Entscheidung. Er konnte sie nicht einfach zurücklassen.
Der Zirkus kam allmählich in Sicht. Die Lichter, die am Abend so fröhlich geblinkt hatten, waren jetzt erloschen, und der Morgennebel umhüllte das Lager wie eine sanfte Decke. Thalor landete sanft auf einer Lichtung nahe der Zelte, seine mächtigen Flügel wirbelten den Staub auf. Elara stand bereits bereit, als hätte sie geahnt, dass etwas Außergewöhnliches passiert war.
„Thalor?", rief sie und trat einen Schritt vor. Ihre Augen weiteten sich, als sie die Drachenfrau auf seinem Rücken sah. „Ist das... deine Mutter?"
Thalor nickte. „Ja, Elara. Sie war gefangen in einem Netz. Ich musste sie befreien."
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Mara und Joran kamen hinzu, beide ebenso fassungslos. Mara, die sich seit Jahren um Thalors Wohl gekümmert hatte, war die Erste, die sich wieder fasste. „Wir müssen sie versorgen", sagte sie sanft. „Sie sieht schwach aus."
Elara zögerte einen Moment, dann nickte sie. „Bringt sie in den Unterstand. Wir werden ihr helfen."
Thalor half seiner Mutter vorsichtig von seinem Rücken und führte sie zu einem geschützten Platz am Rand des Lagers. Während Mara sich darum kümmerte, die Verletzungen der Drachenfrau zu behandeln, stand Elara stumm daneben und beobachtete das Geschehen mit wachsamen Augen. Sie traute Elowen, Thalors Mutter, nicht. Es war klar, dass die Narben der Vergangenheit noch tief saßen.
Später, als Elowen genug Kraft gesammelt hatte, um zu sprechen, suchte sie das Gespräch mit Thalor. Sie saßen unter einem großen Baum, die Geräusche des Zirkus im Hintergrund.
„Thalor", begann Elowen leise, „ich habe nachgedacht. Du hast dir hier ein Leben aufgebaut, und es ist nicht meine Aufgabe, dich daran zu hindern."
Thalor sah sie schweigend an, seine Augen glühten in der Abendsonne. „Es ist nicht leicht, das alles zu verarbeiten, Mutter. Du hast mich damals im Stich gelassen."
Elowen nickte langsam. „Ich weiß. Ich habe dich unterschätzt, und ich habe einen großen Fehler gemacht. Aber ich sehe, wie stark du geworden bist. Du hast nicht nur überlebt, sondern bist gewachsen. Stärker, als ich es je für möglich gehalten hätte."
„Es ist der Zirkus, der mich stark gemacht hat", erwiderte Thalor. „Elara und die anderen haben mir gezeigt, was Vertrauen und Familie wirklich bedeuten. Ich bin nicht mehr der schwache Drache, der ich einst war."
Elowen sah zu Boden, ihre Schuppen schimmerten im Licht des Tages. „Ich verstehe, Thalor. Ich werde dir nicht im Weg stehen. Ich wollte nur sicherstellen, dass du in guten Händen bist, bevor ich gehe."
„Gehst du?", fragte Thalor, überrascht.
Elowen nickte. „Ich möchte dir nicht zur Last fallen. Dies ist dein Zuhause, und ich werde dich nicht bedrängen. Aber ich werde immer in der Nähe sein. Wenn du mich brauchst, werde ich da sein."
Thalor schwieg eine Weile, bevor er leise sagte: „Du bist willkommen, wann immer du zurückkommen möchtest."
Sie lächelte schwach. „Danke. Das bedeutet mir mehr, als du denkst."
In dieser Nacht schlief Elowen im Unterstand, während Thalor in seinem Stall ruhte, den Kopf voller Gedanken. Als die Sonne am nächsten Morgen aufging, war Elowen fort. Thalor fand eine kleine Nachricht, in die Rinde des Baumes geritzt, unter dem sie gesessen hatten.
„Ich gehe, aber ich werde zurückkehren, mein Sohn. Wenn du mich brauchst, werde ich immer für dich da sein. Deine Mutter, Elowen."
Thalor starrte lange auf die Worte. Es war kein endgültiger Abschied, aber es war der Beginn eines neuen Kapitels. Die Vergangenheit war nicht vergessen, aber vielleicht, nur vielleicht, gab es nun Platz für Vergebung und ein neues Verständnis.
Er legte die Klauen auf die Rinde, spürte die Kühle des Holzes und die Stärke, die ihm in diesem Moment bewusst wurde. Er war nicht mehr der verstoßene Drache, sondern jemand, der seinen eigenen Weg gefunden hatte. Und jetzt wusste er, dass er ihn weitergehen würde – mit oder ohne seine Mutter.
Mit einem tiefen Atemzug hob Thalor den Kopf, ließ den Morgenwind durch seine Schuppen gleiten und machte sich bereit, das neue Abenteuer, das vor ihm lag, anzunehmen.