Teil 1: Elara
Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, als Elara den Brief von Thalor sorgfältig in ein Lederband einrollte und in ihrer Tasche verstaute. Die weiche Brise ließ die Zirkusfahnen leicht flattern, während die Geräusche der Proben um sie herum summten. Thalor war in der Nähe, sichtbar angespannt, als sie auf ihn zuging.
„Bist du bereit, Thalor?" fragte Elara sanft, ihre Augen voll Verständnis. Sie wusste, wie viel dieser Brief ihm bedeutete.
Thalor nickte, seine Flügel leicht angespannt. „Ja... aber ich kann nicht anders, als nervös zu sein. Was, wenn sie nicht kommt? Oder was, wenn sie..." Seine Stimme stockte, die Unsicherheit in seinen Augen deutlich sichtbar.
„Sie wird den Brief bekommen", beruhigte Elara ihn. „Und was auch immer ihre Reaktion sein mag, du hast das Richtige getan. Du bietest ihr eine Chance zur Versöhnung, und das ist mutig."
Thalor seufzte tief und faltete seine Flügel enger an seinen Körper. „Ich weiß, es ist nur... es war alles so schwierig, Elara. Die Albträume, die Schuldgefühle... es fühlt sich an, als wäre dieser Brief der einzige Weg, das hinter mir zu lassen."
Elara nickte ernst. „Deshalb werde ich alles tun, um sicherzustellen, dass sie ihn bekommt. Sie wird wissen, wie wichtig das für dich ist." Sie berührte seine Schnauze, um ihm Mut zuzusprechen. „Bleib stark, Thalor. Du hast schon so viel überstanden."
Nachdem sie sich verabschiedet hatte, begab sich Elara auf ihre Reise. Der Weg zur Höhle von Elowen war lang und beschwerlich, aber sie wusste, dass sie das tun musste – nicht nur für Thalor, sondern auch für dessen Mutter. Während sie ritt, gingen ihr Gedanken durch den Kopf. Sie fragte sich, wie Elowen reagieren würde, wenn sie den Brief las. Ob sie genauso aufgeregt wäre wie Thalor. Oder würde sie zögern, die Versöhnung anzunehmen?
Elara hatte ihre Bedenken, aber sie ließ sich nicht davon abhalten. Der Wind wurde stärker, als sie die weiten Wiesen hinter sich ließ und das steinige Gebirge erreichte, das zu Elowens Versteck führte. Die Landschaft wurde rauer, karger, und die kühle Luft erinnerte Elara daran, wie weit sie sich schon vom warmen, vertrauten Zirkus entfernt hatte.
Nach einigen Stunden erreichte sie schließlich die schattige Höhle, die Elowen nun bewohnte. Sie konnte die Präsenz der mächtigen Drachenmutter spüren, noch bevor sie sie sah. Mit einem tiefen Atemzug trat sie vor den Höhleneingang.
„Elowen?" rief Elara und versuchte, ihre Stimme ruhig und freundlich klingen zu lassen. „Ich habe eine Botschaft für dich... von Thalor."
Nach einem Moment des Schweigens erschien Elowen am Eingang der Höhle. Ihre mächtigen Schuppen funkelten im Licht der späten Nachmittagssonne, und ihre Augen waren wachsam, aber nicht feindselig. Sie betrachtete Elara mit einer Mischung aus Neugier und Zurückhaltung.
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„Von meinem Sohn?" fragte Elowen leise, ihre tiefe Stimme ein sanftes Grollen. „Was hat er zu sagen?"
Elara zog den Brief aus ihrer Tasche und hielt ihn ihr hin. „Es ist ein Brief von ihm, Elowen. Er möchte mit dir sprechen... und Frieden schließen."
Elowen zögerte für einen Moment, bevor sie den Brief mit einer geschmeidigen Bewegung ihrer Klauen nahm. Sie sagte nichts, doch ihre Augen verrieten, dass diese Nachricht mehr Bedeutung hatte, als sie sich jemals eingestehen würde.
Teil 2: Elowen
Elowen zog sich in die dunkle Stille ihrer Höhle zurück, den Brief in ihrer Klaue haltend. Ihre Schritte waren langsam und schwer, als würde das Gewicht ihrer Vergangenheit auf ihr lasten. Sie legte sich auf den Boden, und ein schwaches Licht drang durch die Ritzen im Höhleneingang, während sie den Brief betrachtete, als wäre es etwas Zerbrechliches, das leicht in ihrer gewaltigen Klaue zerschmettert werden könnte.
Sie öffnete den Brief vorsichtig und begann zu lesen:
„Liebe Mutter,
ich schreibe dir, weil ich das Gefühl habe, dass wir noch nicht alles gesagt haben, was gesagt werden muss. Unsere letzte Begegnung hat etwas in mir ausgelöst – alte Wunden, aber auch eine Hoffnung auf Versöhnung. Ich weiß, dass du mich einst verstoßen hast, und ich habe das nie ganz verstanden. Doch heute bin ich stärker geworden, und ich möchte, dass wir beide uns von dieser Vergangenheit befreien können. Ich bin bereit, dir zu vergeben, aber ich möchte auch, dass du verstehst, was das mit mir gemacht hat. Es wäre mir wichtig, dass wir einander noch einmal begegnen – nicht als Gegner, sondern als Familie. Wenn du bereit bist, lade ich dich herzlich ein, den Zirkus zu besuchen. Ich möchte dir mein neues Leben zeigen und darüber sprechen, wie wir weitermachen können.
In Verbundenheit,
dein Sohn, Thalor."
Als sie die letzten Worte las, fühlte Elowen, wie ihre Augen feucht wurden. Sie blinzelte und starrte auf den Boden der Höhle. Thalors Worte hallten in ihrem Kopf wider. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr Sohn so stark und zugleich so sensibel sein würde. Sein Wunsch nach Frieden überraschte sie – und rührte sie zugleich tief im Herzen.
„Thalor...", flüsterte sie und ließ den Brief zu Boden gleiten. Sie erinnerte sich an den Tag, an dem sie ihn verlassen hatte, wie sie damals überzeugt war, dass sie das Richtige tat. Doch jetzt, wo sie seine Worte las, verstand sie, wie sehr sie ihn verletzt hatte.
Der Wunsch nach Versöhnung war auch in ihr stark. Sie hatte in den letzten Wochen viel nachgedacht – über ihre Fehler, über ihren Sohn, den sie so lange als zu schwach angesehen hatte. Aber dieser Brief zeigte ihr, dass Thalor eine Stärke entwickelt hatte, die sie nie für möglich gehalten hätte.
„Es ist Zeit", murmelte sie zu sich selbst. „Zeit, zu ihm zurückzukehren."
Elowen stand auf, streckte ihre gewaltigen Flügel aus und blickte zum Höhleneingang. Sie wusste, dass der Weg zum Zirkus nicht einfach sein würde – emotional und physisch. Doch sie hatte sich entschieden. Sie musste Thalor zeigen, dass sie seine Einladung annehmen und den ersten Schritt in Richtung einer neuen Beziehung machen würde.
Mit einem kraftvollen Flügelschlag erhob sie sich in die Lüfte und flog los, das Herz schwer von Reue, aber auch voller Hoffnung, dass diese Reise ein neuer Anfang für sie und Thalor sein könnte.
Der Wind rauschte um ihre Flügel, und mit jedem Meter, den sie zurücklegte, wuchs in ihr die Entschlossenheit, ihrem Sohn zu zeigen, dass sie nun bereit war, sich den Fehlern der Vergangenheit zu stellen – und dass sie ihn mit offenen Armen empfangen würde.