Sechs Jahre waren vergangen, seit Ollowyn sich von dem Giftangriff erholt hatte. Seitdem hatte sich viel verändert. Die Kampfschule von Ritto Iordai war nun größer und glich bereits mehr einer kleinen Festung als einer Schule für Kampfkünste. Die Wälle waren auf vier Meter aufgestockt worden und ein großer Wachturm zierte bereits eine der vier Ecken des Geländes. Drei weitere waren halb fertig in Arbeit. Ollowyn gähnte und erhob sich von seinem Schlafplatz am Dach des Wachturms.
Er genoss es hoch oben zu schlafen und speziell jetzt da die lauen Sommernächte es erlaubten, konnte er sogar die Nacht unter den Sternen verbringen. Es half gegen seine neu aufgefasste Angewohnheit lange auszuschlafen. Als er noch Mitglied eines Wolfsrudels gewesen war, wäre er nie nach Sonnenaufgang munter gewesen. Nun verschlief er den halben Tag, es sei denn es weckte ihn jemand. Der Junge streckte sich verschlafen und starrte in Richtung des Passes Dunéin. Traurigkeit befiel ihn.
Thasun war nie zurückgekehrt und Ollowyn vermisste seinen Meister. Seinen Rudelsführer. Doch nach all den Jahren machte er sich wenig Illusionen darüber, dass Thasun tot war. Nichtsdestotrotz würde er eines Tages versuchen herauszufinden, was mit ihm passiert war und seinen Tod rächen. Ein Mann wie Thasun Torreí starb nicht einfach so. Seufzend kletterte Ollowyn vom Dach auf die Aussichtsplattform hinab und überblickte das Tal von Ending.
Es hatte sich einiges geändert. Das alte, abgebrannte Handwerkshaus von Alissas Vater war abgerissen und durch ein neues, wesentlich größeres ersetzt worden. Karthan Cr’Axsun, der früher vierte Meister des Iordai Clans, lebte nun mit ihr dort und hatte zwei kleine Kinder. Er hatte seine Verbrennungen dank des Einsatzes des Nepheniels gut überstanden und nur Andeutungen von Narben zeugten davon, was er durchgemacht hatte um seine Geliebte zu retten. Dass sie nicht einmal im Haus gewesen war, machte es nur noch heroischer für Alissa. Sofort als er genesen war hatte sie selbst ihm einen Antrag gemacht, dem der große Meister sofort zugestimmt hatte. In seinen Worten “benötige er niemanden, der sich einfach so in den Tod stürzt” und “besser er hat jemanden der auf ihn Acht gibt”.
Das Dorf selbst war um einige Langhäuser gewachsen, doch die größte Veränderung spielte sich außerhalb des Dorfes ab. Ein Teil des Waldes war gerodet worden und mehrere Dutzend Häuser standen nun dort. Flüchtlinge, die Lord Enguràll hierher geschickt hatte waren dort angesiedelt worden, um eventuelle Reibereien zwischen der bereits bestehenden Bevölkerung zu vermeiden. Ollowyn selbst hatte geholfen Bäume zu fällen und Häuser zu errichten, wann immer er Zeit dafür gefunden hatte. Der große Meister hatte es befohlen, doch Ollowyn hätte ohnehin in seiner Freizeit jede Minute dort verbracht. Die Geschichten, die ihm erzählt wurden hatten sehr dazu beigebracht seine Allgemeinbildung zu festigen und dabei zu helfen die Sprache, die sowohl in Zenshin als auch in weiten Teilen Valuans gesprochen wurde, zu erlernen.
Er hatte auch sehr dazu beigetragen, dass es zu einem regen Austausch zwischen den Bewohnern des Dorfes und den Flüchtlingen kam. Der größte Verbindungsfaktor war jedoch Karthan gewesen, der mit seinen Handwerklichen Fähigkeiten den neuen Bewohnern des Tals von Ending genügend Wissen vermittelte, um selbst Häuser zu errichten und Bögen, Speere und Pfeile herzustellen.
Denn das war die allgemeine Bedingung von Quen’Arak Xun, einem Händler und Berater von Lord Enguràll gewesen: Dass die Flüchtlinge ein neues Dorf errichten, Tribut an die Festung Than Dúin zahlten und eine stehende Armee bildeten, die Zenshin zur Landesverteidigung einsetzen durfte. Eine Abmachung die die verzweifelten Hilfesuchenden begeistert annahmen. Zumindest konnten sie ihre Familien in Sicherheit wissen, während die Männer auszogen um ihr neues Land zu verteidigen.
Ollowyn kleidete sich in seine weiße Übungskleidung, nahm sein Bambusschwert und stieg den Turm hinab. Die Flüchtlingsarmee würde bald zurückkehren. Es war bereits zwei Jahre vergangen und ihre Rückkehr stand unmittelbar bevor. Hoffentlich hab es keine Unruhen im Osten, bei dem Versuch Sandrei zurückzuerobern, denn Ollowyn wollte nicht, dass noch mehr Männer nicht zurückkehrten. Es war schlimm genug, dass Thasun verschwunden war. Die ursprünglichen Berichte, zeugten davon, dass Sandrei geplündert und verlassen vorgefunden worden war.
Doch das war keineswegs beruhigend gewesen. Offenbar hatten die Kórren Lahn Rache an den Bewohnern verübt. Hunderten Körpern waren Arme und Beine abgetrennt worden, die zu einem grotesken Baum aus Leichenteilen zusammengesteckt wurden. Offenbar waren selbst kleine “Zweige” mit den Fingern und Zehen oder den Armen und Beinen von Kindern imitiert worden. Ohren, Augen und Nasen waren kunstvoll als “Blätter” angenäht worden. Ein Baum der erstaunlich echt ausgesehen hatte und selbst Bilder eines Künstlers, der sich unter den Spähern befunden hatte um seinem Baron ein genaues Bild zu übermitteln, hatte die Details nicht perfekt einfangen können.
Ollowyn war nun dreizehn Jahre alt. Er war gewachsen und mit einem Meter und siebzig Zentimetern überschattete er die meisten seines Alters. Sein silbrig, weißes Haar war länger geworden und reichte ihm nun bis kurz unter seine Schulterblätter. Schlank und muskulös vermittelte er den Eindruck bereits um einiges Älter zu sein. An seiner Kleidung war eine Plakette mit der Nummer “2” gepinnt. Nur noch ein Gegner stand zwischen ihm und dem ersten Rang der Iordai Schule, die sich nun auf gut sechzig Schüler belief.
Marun Kíreii war der einzige der noch zwischen Ollowyn und dem ersehnten Rang 1 stand. In den letzten sechs Jahren hatte er viel gelernt. Heute würde es bereits die vierte Herausforderung sein, die er dem ersten Meister des Iordai Clans stellte. Sollte er gewinnen dürfte er endlich ins Allerheiligste, wo er selbst eine Prüfung unter dem großen Meister ablegen musste um in den Rang eines Meister erhoben zu werden.
Als er den Trainingssaal betrat versperrten ihm bereits drei Schüler den Weg. Ihre Bambusschwerter erhoben und lässig auf ihren Schultern abgelegt, starrten sie ihn an.
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“Mephian. Grish.” Seufzte Ollowyn und hob sein Schwert. “Wardun, wo ist Irto? Kommt er heute nicht?”
Ein etwas korpulenter Junge zuckte mit den Schultern. “Er wartet drinnen. Meinte es wäre unehrenhaft zusammen gegen dich vorzugehen.”
Mephian grinste. “Als ob es einfach wäre selbst so zu gewinnen.” Dann zog er ein zweites, kleineres Bambusschwert, während Wardun einen Schild hob und Grish sein Schwert gegen eine Bambuskeule tauschte. “Bereit?”
Ollowyn nickte. “Bereit.”
Nur Sekunden später lagen die drei Jungen bereits entwaffnet auf dem Boden. Mephian seufzte. Er fühlte mit jedem Tag, dass er stärker wurde, doch die Entfernung zu Ollowyn fühlte sich stets weiter und weiter an.
Kaum war der silberhaarige Junge nach innen getreten, wurde er bereits von Irto herausgefordert, den er nach etwa einer Minute besiegen konnte. Ollowyn verbeugte sich vor ihm und trat an Zartha heran. Der Meister mit dem Rang 3 hob nur eine Augenbraue und ließ ihn passieren. Er war bereits seit Monaten der Meinung, dass er den Rang eines Meisters innehaben sollte. Der Junge trainierte selbstständig, hatte einen starken Stil entwickelt und war sehr gut darin anderen etwas beizubringen. Seine Anwesenheit war respektiert und er wurde geachtet.
Noch länger damit zu warten würde nur sein Wachstum behindern. “Geh. Marun wartet bereits auf dich.”
Ollowyn nickte und trat an ihm vorbei in die Mitte der Halle. Die anderen Schüler warteten bereits darauf, dass er gegen den ersten Meister antrat. Sie hatten an den Wänden Platz genommen und lauerten gespannt. Einer der ihren könnte heute zu einem Meister werden. Jemand der jünger war als die Meisten Anwesenden. Es hatte bereits einen regen Aufschwung in Motivation bewirkt, denn jeder der Schüler hatte nun ein klares Ziel, dass sie mit allen Mitteln verfolgten.
Marun erhob sich sofort als Ollowyn näher trat. “Bereit?” Er machte die Begrüßung kurz und knapp. Sein langes, blondes Haar war wie üblich zu einem langen Zopf gebunden und er trug das typische weiße Trainingsgewand der Iordai Schule. Doch entgegen seiner üblichen Verschlafenheit, war er angespannt und fokussiert.
Ollowyn verbeugte sich. “Ich, Ollowyn Torreí, fordere hiermit Marun Kíreii zu einem Kampf um den Rang innerhalb der Iordai Schwertschule heraus.” Den Nachnamen Torreí, den er von seinem Meister übernommen hatte als dieser verschwunden war, trug er mit Stolz.
“Akzeptiert.” Mit diesem Wort hob der Meister seine Waffe und schritt beinahe gemütlich auf Ollowyn zu.
Der silberhaarige Junge wartete jedoch nicht darauf angegriffen zu werden. Er sprang seinerseits vorwärts und trieb sein Bambusschwert in einer Stichbewegung gegen den Oberkörper Maruns. Dieser versuchte den Angriff prompt mit einer Aufwärtsbewegung seines Schwertes zu blocken.
Doch der Angriff kam nie. Ollowyn hatte seinen Angriff mitten im Sprung angehalten, während er mehr Distanz überquerte. Kaum, dass die Abwehrbewegung Maruns an seinem Ziel vorbei glitt, stieß Ollowyn erneut mit dem Bambusschwert zu. Doch Marun bereits in einem Ausfallschritt ausgewichen.
Nun musste der Junge sich verteidigen. Der Angriff kam von oben und schlug hart gegen Ollowyns Bambusschwert. Doch er hielt stand und trat daraufhin hart nach Maruns Standbein.
Dieser zog sich zurück, nur um sofort erneut anzugreifen. Angriffe prasselten gegen Ollowyn, von links oben, rechts unten, direkt von vorne und Stiche wo immer der Meister Zeit dafür aufwenden konnte. Doch Ollowyn wich aus, blockte und konterte um sich Freiraum zu schaffen.
Schnell wurde klar, dass die beiden Schwertkämpfer sich ebenbürtig waren. Jeder Angriff fand sich geblockt oder ausgewichen, jeder Konter wurde mit Leichtigkeit gelesen. Finten wurden angedeutet doch auf beiden Seiten wurde nicht darauf reagiert.
Für Ollowyn war es frustrierend, da offenbar nichts funktionieren wollte, das er üblicherweise tat. Erneut ging er dazu über eine seiner Angriffsfolgen durchzuführen. Ein Angriff von unten, den er kurz vor Maruns Schwert stoppte, er nutzte die Gelegenheit um sich hinter den Meister zu bringen und mehrmals zuzustechen. Erfolglos.
“Tch.” Ollowyn sprang zurück und brachte sich auf Distanz. Endlich bemerkte er was gefehlt hatte. Er war einfach zu durchschauen! Der Schwertmeister wusste jedes Mal, was er ausprobieren wollte und konnte es daher einfach kontern. Ollowyn dachte zurück an die Zeit, in der er mit Thasun unterwegs gewesen war. An eine Bewegung die dieser damals oft trainiert hatte. Doch sie hatte stets unvollendet gewirkt.
Ollowyn schloss die Augen kurz, konzentrierte sich jedoch auf jedes Geräusch, das sein Gegner von sich gab. Er erinnerte sich an die Bewegung. Erinnerte sich an das Gefühl, als er zum ersten mal den zweiten Stil Ritto Iordais ausprobiert hatte. War ein Körper in der Lage standzuhalten? Hatte er nun genug Kraft sich nicht zu verletzen?
Ollowyn hob sein Schwert gerade vor seinen Körper und konzentrierte sich auf seine Atmung. Er fühlte seine Beine taub werden und ein prickelndes Gefühl, dass sich von dort in seinen Körper zog. Ja. Vielleicht klappte es so?
Marun starrte verwundert auf Ollowyn. Was machte der Junge? Einfach so die Augen zu schließen… Was plante er? Dann dämmerte es ihm... War es möglich?
Und tatsächlich. Der Junge bewegte sich blitzschnell. Drei Schritte und er stand vor Marun, die Waffe leicht erhoben und in einer zuschlagenden Bewegung auf ihn herab stoßend. Er würde zu langsam sein. Sofort gab der Schwertmeister seinen Instinkten freien Lauf.
“Korduí.” Er wich aus, und brachte seinen Körper neben Ollowyn. Mit einem schnellen Schlag versuchte er den Jungen am Kopf zu erwischen.
Doch Ollowyn hatte seine Klinge bereits von unten nach oben geführt. Hart fuhr sie in den Oberkörper des Meisters, der zurück taumelte. Sein eigener Angriff traf den Jungen jedoch noch hart ins Gesicht. Ein Unentschieden.
Ollowyn ließ sich auf den Rücken fallen, während unter den Schülern lautes Gerede begann. Es hatte nicht gereicht. Sein linkes Bein schmerzte etwas, doch bei weitem nicht so sehr wie damals, als er zum ersten Mal “Zenzen” ausprobiert hatte. Noch ein bisschen Verfeinerung und er würde den Angriff von Thasun meistern. Wie er diesen Angriff nennen sollte, wusste er jedoch noch nicht.
Marun stand plötzlich über ihm. Ein Lächeln lag auf seinem Gesicht. “Gut gemacht.” Er warf ihm das Abzeichen mit dem Rang 1 zu und nahm sich den zweiten Rang von Ollowyn. “Du kannst dich beim großen Meister melden.”
Die Lautstärke in der Trainingshalle hob sich wesentlich. Dutzende Schüler stürmten auch nach einem bösen Blick Maruns auf Ollowyn zu und gratulierten ihm. Wieder andere fassten den Entschluss härter zu trainieren um auch so etwas zu erreichen und einige wenige gaben nicht viel darauf, da sie ohnehin zu sehr auf ihr eigenes Training konzentriert waren.
Ollowyn wollte nicht zu lange das Zentrum der Aufmerksamkeit sein, also verließ er die Trainingshalle so schnell er konnte und machte sich auf den Weg ins Allerheiligste. Er hatte bereits längere Zeit in seinem Krankenbett dort verbracht, doch der letzte Raum, in dem der große Meister trainierte, war ihm fremd. Ollowyn war mehr als neugierig, denn er hatte seit sechs Jahren hart auf diesen Moment hin gearbeitet.
Doch nun, da er hier war, hatte er Angst davor einzutreten. Seufzend atmete er tief durch. Dann öffnete er die Schiebetür.