Sie standen am Rand des Saums, sein Vater und Nevin selbst etwas abseits von den anderen. Ein fremder Köcher hing um seine Schulter. Man hatte ihm auch eine große Tasche, zwei Messer, ein Seil und ein Kurzschwert gegeben.
Der Kaiser legte seine breiten Hände auf Nevins Schultern und drückte sie so fest, dass es wehtat. Nevin zwang sich dazu, den brodelnden Augen seines Vaters zu begegnen und keinen Mucks von sich zu geben. Er wollte nach Hause. Er wollte einfach nur nach Hause.
»Hör mir gut zu, Sohn. Ich will, dass du die Prinzessin ganz genau beobachtest. Alles was sie tut, wie sie sich bewegt, wie die Tiere im Wald auf sie reagieren. Lass sie keinen einzigen Moment aus den Augen.«
»Warum?« Sofort hielt Nevin die Luft an und drückte die Lippen zusammen. Die Frage war ihm ausgerutscht. Seine Kehle bebte im Takt seines Herzschlags, doch sein Vater warf nur einen Blick auf die Prinzessin, die gerade ihre Ausrüstung überprüfte.
»Ich bin mir fast sicher, dass sie eine ganz besondere Macht in sich trägt. Und die will ich haben.«
Nevin erlaubte sich wieder zu atmen. Das war noch mal gut gegangen. Er betrachtete die Prinzessin und versuchte etwas an dem kleinen Mädchen zu entdecken, dass sie zu besonders machen könnte.
Im Augenblick, war selbst der ernste Ausdruck in ihren Augen verschwunden. Ihr Vater redete gerade auf das Mädchen ein, doch sie sah ihn nicht an. Ihr Blick war starr auf die Peitsche gerichtet, die an seinem Gürtel hing.
Der entfernte, ängstliche Ausdruck kam ihm bekannt vor. So sah auch Finan oft, wenn sein Vater nach seinem Langschwert griff, um sie zu schlagen.
»Du wirst mir alles ganz genau berichten, sobald wir wieder auf dem Weg ins Kaiserreich sind.« Der Kaiser griff nach seiner Schulter und zerrte ihn mit sich. Selbst als Nevin sich seinem Gang anpasste, ließ sein Vater ihn nicht los. Er platzierte ihn neben Jesko und trat auf den König zu.
»Alles in Ordnung?«, fragte sein Ziehvater leise und lehnte sich dicht an ihm, um ihm kurz über den Rücken zu streichen.
Nevin nickte und beobachtete die beiden Männer vor ihm. König Elyon, mit schwitziger Stirn, sein Vater mit der Nase leicht erhöht, als würde er damit noch mehr unterstreichen wollen, wie hoch sein Rang als Kaiser war.
»Ich will auch jagen«, murrte Finan leise. »Warum darf ich nicht mitgehen?«
Nevin hätte seinen Bruder und Dilek liebend gern mitgenommen. Beide waren bessere Jäger als er. Und er wollte nicht alleine mit diesem finsteren Mädchen sein.
»Finan, du weißt, dass das nicht geht. Später nehme ich euch mit auf den Kampfplatz, dort können Dilek und du euch die einschlagen, wenn ihr wollt. Aber nur mit Holzschwertern.«
Der Kaiser bedeutete Nevin, näher heranzutreten und er hastete zu seinem Vater.
»Seid beim nächsten Glockenschlag zurück«, sagte der König zu seiner Tochter. Sie nickte, machte eine Verbeugung, drehte sich auf dem Absatz um und marschierte in den Wald hinein.
Nevin nickte dem König kurz zu, dann lief er ihr hinterher und tauchte in das dämmrige Unterholz ein.
Obwohl die Insel klein war, sprossen riesige Büsche und Bäume aus ihrem Boden. Nevin hatte noch nie so hohe Kiefern gesehen. Der Wald war dicht bewachsen, sodass das schummrige Licht kaum durch das Laubdach dringen konnte. An manchen Stellen war es so dunkel, dass Nevin die Wurzeln auf dem Weg nicht erkennen konnte und stolperte.
Die Prinzessin hingegen, schritt mit nach vorne gerichtetem Kopf durch den Wald, ohne ein einziges Mal nach unten schauen zu müssen.
Außer der Selbstsicherheit, mit der sie sich durch den Wald bewegte, bemerkte Nevin zunächst nichts Auffälliges. Dann raschelte ein Ast und etwas sprang von ihm ab. Nevin blieb erschrocken stehen, doch es war nur ein Eichhörnchen, das direkt auf Prinzessin Elyons Schulter landete und dort sitzen blieb. Ihm folgte ein weiteres Eichhörnchen und beide kletterten auf ihren Schultern herum, sogar auf ihren Kopf, ohne dass sie auch nur einmal anhielt oder sie wegscheuchte.
Nevin hatte Eichhörnchen noch nie so nahe gesehen, oder so entspannt auf einem Menschen sitzen. Hatte sie diese gezähmt? Es hieß, dass sie gut darin war, Tiere zu zähmen. Meine sein Vater das mit besonderer Macht?
Das Mädchen hielt an und blickte nach links.
»Alles in Ordnung?«, fragte Nevin leise. »Was siehst du?«
Sie hielt sich einen Finger an den Mund, die Eichhörnchen sprangen von ihrer Schulter ab, hinauf auf eine Eiche. Die Prinzessin rannte auf dessen Stamm zu und kletterte sie hinauf, so schnell, dass sie selbst wie ein Eichhörnchen wirkte.
»Warte!« Nevin wollte ihr hinterher klettern, doch sie sprang von der Eiche ab, landete auf den Ast einer Buche und sprang immer weiter, von Ast zu Ast, genau wie die Eichhörnchen, die sie begleiteten.
Nevin ließ von dem Stamm ab, flitzte ihr hinterher, stolperte über einige Wurzeln und verlor sie aus den Augen. Es raschelte, weit entfernt, doch Nevin war sich nicht sicher, ob es von ihr stammte, noch konnte er hören, woher genau es kam. Er war allein. Allein in einem fremden Wald.
Er hätte seine Drachensinne benutzen können. Um besser zu hören, besser in dieser Dämmerung sehen zu können. Um ihre Fährte aufzunehmen. Doch Nevins Herz klopfte immer lauter und er traute sich nicht zu, die Gewalt über den Fluch zu behalten. Er dufte sich nicht verwandeln. Nicht hier.
Er nahm tief Luft und sah sich um. Panik würde Nevin nichts bringen. Das hatte ihm seine Mutter beigebracht. Kurz innezuhalten und zu überlegen, was er zu tun hatte, das würde ihm weiter helfen.
Sein Vater wollte Wild haben. Ein Reh. Er sollte danach Ausschau halten. Prinzessin Elyon wusste, dass er ein Gast war und sich nicht im Wald auskannte. Hoffentlich. Sie schien nicht schwer von Begriff zu sein, aber auch nicht ganz wie ein normaler Mensch. Die Prinzessin würde ihn schon wieder finden. Sie würde ihn wieder zurück zur Burg führen. Hoffentlich. Nevin seufzte und bewegte sich weiter durch den unbekannten, finsteren Wald voran.
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Er suchte nach lichteren Stellen, nach Spuren im weichen Boden, nach abgebrochenen oder abgenagten Ästen. Schließlich tauchte eine kleine Lichtung vor ihm auf und als Nevin das Gras absuchte, fand er Spuren von Rehhufen im schlammigen Boden. Der Fährte folgend, bewegte er sich durch die Lichtung, zurück in das nächste Waldstück hinein. Bald hatte er einen Fluss erreicht, wo die Spur endete.
Er suchte eine engere Stelle des Flussbetts und sprang über das Wasser. Nevin war kaum fünf Schritte gelaufen, als er ein lautes Brummen hörte. Er gefror auf der Stelle. Ein riesiger Bär, größer als alle, die er jemals im Kaiserreich gehen hatte, stapfte geradewegs auf den Fluss zu.
Langsam streckte er seine Hand nach hinten aus, Richtung Bogen, ohne das riesige Tier aus den Augen zu lassen. Noch hatte der Bär ihn nicht bemerkt. Vielleicht würde er eine andere Richtung einschlagen und Nevin in Ruhe zu lassen.
Als der Bär über ein paar Brombeersträucher stieg, stand er auf, witterte und blickte ihm direkt in die Augen. Nevin schnappte nach einem Pfeil und legte ihn an, doch ein heftiges Zittern überfiel seine Arme und sämtliche Kraft löste sich in ihm auf.
Ein altes Bild durchflutete seinen Kopf. Eine weite Steppe, ein Zelt, ein schwarzes Biest, das aus dem naheliegenden Wald herausgestürzt kam. Ein Biest, das nach seinem Bein schnappte. Nevin keuchte. Der Bär fletschte seine Zähne, genau wie der Drache es getan hatte.
Dann verschwanden seine Gedanken, er konnte nichts mehr hören, nichts mehr sehen, außer der schemenhaften, braunen Gestalt vor ihm. Die Kraft, die ihn verlassen hatte, strömte in seine Beine hinein. Weglaufen. Weglaufen!
Nevin wandte sich ab und rannte los. Eine ganz kleine Stimme in seinem Kopf, versuchte ihn daran zu erinnern, dass er einen Fehler beging. Dass er schießen sollte. Dass er sich auf den Boden legen und sich tot stellen sollte. Sich verwandeln und das Biest verscheuchen sollte. Doch Nevin konnte seine Beine nicht anhalten. Als hätte die Panik seinen ganzen Körper gepackt, sauste er durch den Wald. Er konnte gerade noch auf die Wurzeln achten, um nicht zu stolpern.
Hinter ihm hämmerten die Schritte des Bären, immer näher.
Den Fluch, er brauchte den Fluch. Doch die Wärme, die er sonst in seinem Bein fand, war verschwunden. Er fand nur das feurige Rauschen seines Bluts.
Er sprang nach Links, auf eine breite Lichtung zu. Ihn trennte nur ein hohes Gebüsch von dem hohen Gras. Da stieß er gegen etwas Hartes. Ein großer Fels, direkt hinter den Büschen. Nevin fiel über den Brocken und landete mit dem Kinn auf dem schlammigen Boden. Dicht hinter ihm patschten die Schritte des Bären.
Nevin wollte sich auf die Beine zerren, doch sein Körper zitterte von dem Aufprall und seine Arme knickte ab. Da traf ihn etwas an der Seite und er flog über das Gras. Es dämpfte seinen Fall, doch dann fuhren Krallen durch seinen Rücken, ein Brennen zuckte durch seinen Körper und Nevin brüllte auf vor Schmerzen.
Er wollte aufspringen, davonrennen, doch das Tier schlug wieder mit der Pranke zu, drehte Nevin um und drückte die Pfote auf seine Brust. Nevin wandte sich panisch, versuchte von seinem Griff wegzukommen, doch der Druck auf seiner Brust wurde immer stärker und immer mehr Kraft wich von seinen Gliedern. Der Bär öffnete seinen geifernden Mund und der Anblick der scharfen Zähne, versteinerte Nevins Körper fror ein. Selbst sein Atem hielt an. Seine Ohren rauschten und übertönte alle anderen Geräusche. Geifer tropfte auf sein Gesicht. Er war tot.
Da spritzte ihm etwas Dunkles, Warmes entgegen. Der Bär hielt inne, riss die Augen auf. Eine Schwertspitze hatte sich durch seine Kehle gebohrt.
Nevin hob keuchend den Blick. Eine kleine Gestalt saß auf dem Nacken des Bären. Sie sprang von dem Tier ab und zog es dabei mit sich. Der Bär brach zusammen, direkt vor den Füßen der Prinzessin. Blutspritzer rannen ihre Wangen herab. Ihre schwarzen Augen trafen seine.
Langsam klang das Rauschen in seinen Ohren ab, doch Nevin rang immer noch nach Luft. Er versuchte sich aufzurichten, doch Prinzessin Elyon legte eine Hand auf seine Schulter und drückte ihn zurück zu Boden und hielt ihn dort fest. Er versuchte sich wieder aufzusetzen, doch ihr Blick war eisern.
Er ließ den Kopf zurück ins Gras fallen. Langsam sickerte die kühle Feuchtigkeit des feuchten Bodens durch seine Hose. Er spürte einen dumpfen Schmerz in seinem Rücken. Doch dieser würde bald verschwinden. Der Fluch in seinen Adern, strömte sanft in Richtung der Wunde und ein Prickeln verriet ihm, dass dieser dabei war, ihn zu heilen.
Die Prinzessin beobachtete immer wieder die Umgebung und löste erst ihre Hand von ihm, als er ruhiger atmete. Sie stand auf und suchte weiter den Wald ab.
Nevin stand langsam auf und klopfte sich Schlammbrocken und Blätter von der Kleidung.
»Danke. Du hast mein Leben gerettet«, wisperte er.
Die Prinzessin sah ihn wieder an, zog ihre Augenbrauen zusammen und schüttelte missbilligend den Kopf.
»Aufgeben, nein. Kämpfen, immer. Bis Tod. Kämpfen.« Ihr Blick glühte, als wollte sie ihre Worte tief in ihm einprägen.
Nevin hielt die Luft an, ankerte sich an ihrem Blick fest. Eine Wärme entfaltete sich in seiner Brust. Nicht die Wärme des Fluchs. Es war etwas anderes. Etwas, dass seine Furcht vor dem Fluch, vor dieser Insel, vor seinem Vater für einen Augenblick zurück.
Nicht aufgeben. Immer Kämpfen. Bis zum Tod.
Nevin wusste nicht, was genau sie erlebt hatte. Doch ihre Worte hatten ein Gewicht, dass ihn davon überzeugte, dass sie viel erlebt hatte. Genug, um nach diesen Worten zu leben.
»Ich habe verstanden«, sagte er leise.
Die Prinzessin zog ihr Schwert aus dem Bären heraus und wischte die Klinge mit einem Taschentuch ab. Dann bedeutete sie ihm mit einem Nicken, ihr zu folgen. Sie führte ihn entlang des Flusses, auf eine weitere Lichtung zu, wo mitten im Gras ein riesiger Hirsch tot lag. Ein Pfeil steckte in seiner Brust. Ein einziger.
Die Prinzessin hob den Kopf und stieß ein langes, hohes Heulen aus.
Nevin blinkte und beobachtete das seltsame Schauspiel, bis ein weiteres Heulen durch den Wald echote. Zunächst war es nur eine Stimme, dann ein ganzer Chor.
Nevins Nackenhaare standen ihm zu Berge. Doch er versuchte ruhig zu bleiben. Elyon war mit Wölfen aufgewachsen. Sie kannte die Tiere. Sie würde sie hoffentlich davon abhalten, ihn anzugreifen.
Wenig später, hörte er lautes Hecheln und zehn Wölfe kamen in die Lichtung gelaufen. Winselnd und japsend sprangen sie auf Elyon zu. Die Schwänze wedelten, Pfoten tapsten sie an, lange, rosafarbene Zungen leckten sie ab. Ihre Arme, ihren Rücken, ihre Haare, ihr Gesicht. Ein besonders großer Wolf drängte sich durch die anderen und schleckte winselnd Elyons Lippen ab.
Elyon ließ alles mit sich geschehen, streckte ihre Hände aus um alle Wölfe kurz zu streicheln, doch um den großen Wolf, schlang sie ihre Arme und drückte ihn fest. Die Schwärze ihrer Augen wärmte sich auf und verwandelte sich in ein dunkles Braun. Ein kleines Lächeln stahl sich auf ihren Lippen. Sie sah nicht mehr wie ein verbittertes Kind aus, sondern wie ein junges Mädchen, voller Leben. Das war nicht mehr die Gleiche Prinzessin, die er in Gegenwart ihres Vaters erlebt hatte. Jetzt wirkte sie fast schon nahbar.
Nevin atmete so leise wie möglich und zwang jeden einzelnen Muskel, still zu sein. Doch die Wölfe kümmerten sich nicht um ihn. Sie waren ganz damit beschäftigt, die Prinzessin mit Liebkosungen zu überhäufen.
Irgendwann stand sie auf und ging auf den Hirsch zu. Kein einziger Wolf fasste ihn an. Sie folgten ihr, hielten Abstand zu dem Wild und beobachteten, wie das Mädchen ein Seil um die Hinterbeine des Hirsches band. Dann begann sie, ihn von der Lichtung zu ziehen.
»Warte, ich nehme ihn dir ab, dann kannst du dich um die Wölfe kümmern.« Nevin hielt ihr die Hand hin und sie gab ihm wortlos das Seil. Die Prinzessin führte ihn, begleitet von den Wölfen zurück zu dem Bären, den sie ebenfalls mit Seilen präparierte, bis sie fünf Enden in der Hand hielt. Dann schnalzte sie und die Wölfe sammelten sich um sie herum. Sie band die Seile um die Brüste der Wölfe band.
Dann schnalzte sie noch einmal und die Wölfe halfen ihr, das riesige Tier aus dem Wald zu ziehen. Erstaunt blieb Nevin für ein paar Augenblicke stehen, dann schüttelte er den Kopf und hastete ihr hinterher.