Statt sie in die Burgresidenz hineinzuführen, wurden sie, nachdem sie das erste Burgtor passiert hatten, zu einer Art Arena geführt, die nicht unweit von der Residenz stand. Zwei Männer führten sie an, Teil der persönlichen Wache des Königs, so wurde es ihnen von einem Diener erzählt. Zwei weitere bildeten das Schlusslicht.
Alles war dunkelgrau. Die Pflastersteine. Die Mauern der Burg. Die Burg selbst. Der Himmel. Das Licht. Alles war wie von einem Schattenschleier bedeckt. Nevin wollte nach Hause. Zurück zu seiner Burg, wo sein Vater ihn hin verbannt hatte. Er mochte seine Burg. Sie war umgeben von einer kleinen Siedlung und einem riesigen Wald. Dort war er unter sich und konnte in Ruhe überlegen, wie er den Fluch loswerden konnte. Und es war nicht so grau und finster wie hier.
Der Eingang zur Burg waren drei Rundbögen, dessen Türen offen standen und an deren Seiten graublaue Fahnen hingen, mit wellenförmigen Mustern, unterbrochen von weißen Blitzen. Sie betraten den breiten Gang, der zu den Rängen führte, doch statt sie dorthin zu führen, gingen die Wachen nach links bis sie vor einem vergoldeten Eingang anhielten, auf dem König Elyons Wappen als Relief zu sehen war. Wieder Wellen und Blitze. Die Wachen öffneten die Tür und der Kaiser betrat eine weite Loge. Der graue Boden wich mehreren Bärenteppichen. Dunkelblaue Samtsessel standen verteil in der Loge, an den Seiten standen mehrere goldene Kerzenleuchter, alle angezündet und die den offenen Raum in ein warmes Licht tauchten.
Vorne, dicht vor der Balkonbrüstung, stand ein kleiner, breit gebauter Mann mit dem Rücken zu ihnen. Er trug keine Krone, doch durch seinen dunkelblauen Umhang und die Art, wie er breitbeinige da stand verrieten, dass es König Elyon war. Er drehte sich um und dunkle, fast schwarze Augen starrten sie an. Dann verbeugte sich der König, langsam und tief.
»Eure kaiserliche Majestät. Es ist eine große Ehre, Euch in meinem kleinen Reich begrüßen zu dürfen.« Er hob leicht seinen Blick, doch nicht sein Haupt.
»Danke für Eure Gastfreundschaft.« Nevins Vater nickte und bedeutete König Elyon, sich zu erheben, dann zeigte er auf Nevin.
»Dies ist mein Thronfolger, Prinz Ilias. Und neben ihm steht der kaiserliche Prinz Finan.«
Der König verbeugte sich wieder, doch er erhob sich schnell. Als seine dunklen Augen auf Nevin landeten, war er dankbar, dass er Jeskos Wärme an seinem Rücken spürte. Seine Iriden sahen im dämmrigen Licht schwärzer als die Nacht aus. Trotzdem brodelte etwas in ihnen, wie ein wütendes Meer, bereit alles zu verschlucken, was sich in sein Gewässer wagte.
Etwas Verhasstes lag in seinem Gesicht, unterstrichen durch die Mundwinkel, die ständig leicht nach unten gezogen waren, den streng nach hinten gekämmten, schwarzen Haaren und der dicken Peitsche, die an seinem Gürtel gebunden war. Nevin trat einen winzigen Schritt zurück, bis sein Kopf leicht Jeskos Bauch berührte.
»Wo ist die Prinzessin?«, fragte der Kaiser und sah sich um.
»Meine Tochter befindet sich gerade in der Arena.« Der König ging zur Seite, um ihnen Platz an der Brüstung zu machen.
Nevin folgte seinem Vater zum Rand der Loge und sie blickten gemeinsam hinab auf den ovalen Sandplatz. Dort trabte ein weißes Pony, mit kräftigen Beinen und einem seltsamen Gang, den Nevin bis jetzt noch bei keinem anderen Reittier gesehen hatte. Statt ein Vorderbein und ein Hinterbein diagonal auf dem Boden abzustoßen, trafen seine Beine immer einseitig auf den Sand.
Eine kleine Gestalt saß auf seinem Rücken Ein dünnes Kind mit dunklen Haaren. Nevin wagte es nicht, seine Drachensicht zu benutzten, da es seine Augen veränderte. Und er momentan nicht das Gefühl hatte, genug Kontrolle über den Fluch zu haben.
Das Pony trug weder Sattel noch Halfter. Das Kind hielt sich nur mithilfe seiner Beine an dem Tier fest, denn seine Hände benutzte es, um einen Bogen zu spannen. Mehre Zielscheiben standen entlang der Arenamauern verteilt, an denen das Pony vorbei lief.
Das Kind schoss einen Pfeil ab und traf direkt ins Schwarze. Nevin zuckte einmal mit den Augen und schon hatte es einen weiteren Pfeil angelegt und traf die nächste. Und die nächste Scheibe und die nächste. Jedes Mal die Mitte.
Als das Pony an ihrer Loge vorbeitrabte, beugte sich das Kind vor und schien dem Hengst irgendetwas zuzuflüstern. Da weiteten sich die Schritte des Ponys und es galoppierte an den Zielscheiben entlang. Ohne von seinem Rücken zu fallen, schieß das Kind weitere Pfeile ab, ohne die Mitte zu verpassen.
Nevin war irritiert. Das Kind hatte einen langen Zopf, doch es trug braune Hosen und ein einfaches Hemd und keine Schuhe oder Stiefel. Das konnte nicht die Prinzessin sein.
Sein Vater rieb sich das Kinn, bedeckt mit einem kurzen, hellbraunem Bart.
»Wie lange übt sie sich schon im Bogenschießen?«, fragte der Kaiser.
Nevin riss die Augen auf und beugte sich weiter vor. Das war tatsächlich die Prinzessin? Finan legte seine Hand um Nevins Oberarm und drückte fest zu. Finans Mund war weit aufgeklappt. Finan war mit zwölf bereits einer der besten Jäger in der Kaiserstadt. Im Schießen war er unangefochten in seiner Altersgruppe. Nevin konnte sich nicht mehr mit seinem kleinen Bruder messen.
»Drei Monate. Sie reitet seit vier Monaten. Den Hengst hat sie selbst gezähmt. Davor hat sie Schwertkampf gelernt. Und davor Ringen. Sie holt immer mehr auf und wird in wenigen Jahren meine besten Männer übertreffen. Das haben mir meine eigenen Wachen bestätigt.« Der König lächelte kein einziges Mal. Und das Funkeln, dass Nevin in seinen Augen entdeckte, hatte nichts mit Stolz zu tun. Dafür war es zu kalt, zu hart. Es war Gier. Nevin kannte das Funkeln. So schaute auch sein Vater, wann immer er die neuen Steuerberichte durchlas.
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Ein kalter Schauer fuhr über Nevins Rücken. Dann richtete er wieder den Blick auf die kleine Gestalt in der Arena und konnte es nicht fassen, dass sie seine Verlobte sein sollte. Ein kümmerliches Kind, von hier sah sie noch nicht einmal besonders schön aus. Was war nur in seinen Vater gefahren?
»Ich habe viel von ihren Fähigkeiten gehört. Auch von ihren sehr außergewöhnlichen Reflexen. Doch warum ist sie barfuß?«, fragte der Kaiser. Seine Stimme klang nicht harsch, eine ehrliche Neugierde lag in seinen Worten. Was Nevin überrascht aufsehen ließ.
Sein Vater sah interessiert aus. Der Gleiche Mann, dem ein ordentliches und angemessene Aussehen so viel lag, dass er seine eigenen Söhne schlug, wann immer ihnen auch nur ein kleines Haar von der Frisur ab stand. Das Mädchen ritt barfuß. Er konnte von hier den Schmutz auf ihrer Fußsohle sehen. Mehrere Haarsträhnen standen von ihrem Zopf ab.
»So kann sie den Hengst besser steuern«, erklärte der König schnell. Zu schnell. Als hätte er sich diese Antwort schon lange vorher überlegt. Der Kaiser sah ebenfalls nicht überzeugt aus. Doch er stellte keine weiteren Fragen.
Ein Knecht trat in die Arena, aus einem Eingang, der direkt unter ihnen lag, und Prinzessin Elyon hielt den Hengst an. Der junge Mann näherte sich dem Pony vorsichtig an, als wäre er ein wildes Tier und kein gezähmtes Wesen. Der weiße Hengst riss den Kopf hoch und schnaubte wütend, als der Knecht seinen Hals berührte. Die Prinzessin beugte sich vor, bewegte ihre Lippen und dann hielt der Hengst still. Sie sprang von ihm ab und der Knecht folgte ihr mit dem Hengst aus der Arena.
»Prinzessin Elyon ...«, begann der König wieder. »Ist dem Sprechen noch nicht so mächtig. Doch sie versteht alles. Und kann zur Not auch mit einzelnen Wörtern antworten.«
»Sie kann nicht sprechen?« Der Kaiser zog eine Augenbraue hoch, gleichzeitig vertiefte sich die Falte zwischen seinen Brauen.
»Noch nicht. Doch sie kann lesen und auch immer besser schreiben.«
»Wann habt ihr sie im Wald gefunden?«, hakte der Kaiser nach.
»Vor zwei Jahren.«
»Nun, ich schätze, dass sie bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr bereit sein sollte, in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Wenn sie schon so schnell Kämpfen und Schießen kann, sollte ja das Reden keine weitere Schwierigkeit darstellen.«
»Sicherlich wird sie das«, sagte König Elyon, ohne dabei den Kaiser anzusehen. Seine Stirn glänzte. Der Kaiser verwickelte ihn in ein Gespräch über den Hengst, doch Nevin hörte nicht zu, sondern überlegte fieberhaft, was die Prinzessin an sich hatte, dass seinen Vater so interessierte. Es musste irgendetwas sein, dass zu seiner Macht beitrug. Doch was?
Als die Türen wenig später hinter ihnen geöffnet wurden, schien der König kurz aufatmen zu wollen, doch er hielt die Luft an und heftete seinen Blick auf die Wachen, die gerade zur Seite traten, um Prinzessin Elyon durchzulassen.
Sie hatte sich umgezogen. Die Prinzessin trug immer noch Hosen und ein Hemd, doch diese waren aus feineren Stoffen, in den blaugrauen Farben ihres Königreichs, bestickt mit schwarzen Wellenmuster. Und sie trug Stiefel. Saubere, die mit Pflegeöl glänzten. Nevin konnte den Blick nicht von ihr abwenden und er hatte gerade noch genug Geistesgegenwart, um seinen Mund geschlossen zu halten.
Die Prinzessin war winzig. Ein kleiner, dürrer Körper, der noch nicht mal ihre Kleidung ausfüllen konnte. Ihre Füße waren die Hälfte von seinen eigenen, wenn überhaupt. Eine niedliche, gerade Nase zierte ihr Gesicht, sowie ein rundes Kinn. Ihre Haare waren nun ordentlich und streng nach hinten geflochten, doch die Frisur nahm nichts von der Kindlichkeit ihres Gesichts. Angeblich war sie zehn Jahre alt. Doch sie sah aus wie sechs.
Dann sah Nevin ihr in die Augen. Dunkler als die ihres Vaters, konnte Nevin im dämmrigen Kerzenlicht kaum ihre Pupillen sehen. Doch er fand etwas anderes. Ein tiefer Ausdruck, so hart und ernst, dass sie älter wirkte als die Männer, die um sie herum standen. Etwas Unnachgiebiges lag in ihnen. Als würde sie vor nichts zurückweichen, dass sich ihr in den Weg stellen würde.
Das kleine Mädchen trat an Nevin und den Kaiser heran und verbeugte sich, wie ein Mann es machen würde. Sein Vater runzelte die Brauen. Dann ging er in die Hocke und starrte sie an. Immer noch mit gefurchten Brauen.
Prinzessin Elyon erhob sich und begegnete ihn mit einem ernsten Gesicht, das wie versteinert wirkte. Nur ihre Augen bewegten sich. Starrten dem Kaiser entgegen, ohne Furcht, ohne Scheu. Begriff sie überhaupt, wer da vor ihr stand? Niemand starrte den Kaiser so an. Zumindest niemand, dem Nevin bis jetzt begegnet war. Selbst König Elyon schien vor dem Kaiser zurückweichen zu wollen.
»Ihr seid also Prinzessin Elyon. Wie alt seid Ihr?«
»Zehn«, sagte die Prinzessin, mit einer rauchigen, tiefen Stimme, als hätte sie diese schon längere Zeit nicht mehr benutzt.
Der Kaiser hob die Augenbrauen, doch er nickte zufrieden.
Nevin hielt die Luft an. Wer war dieses Mädchen? Das in Jungenbekleidung und unbeeindruckt vor ihnen stehen konnte, ohne dass der Kaiser beleidigt nach seinem Langschwert griff? Was hatte sie an sich, dass den Kaiser so milde stimmte?
»Ich habe gehört, dass Ihr im Wald gelebt habt. Unter Wölfen. Stimmt das?«
Die Prinzessin nickte, mit dem gleichen, ernsten Gesichtsausdruck.
»Und Ihr könnt gut jagen?«
Wieder nickte die Prinzessin.
»Ich will, dass Ihr unser Abendessen jagt, Eure Hoheit. Ich will, dass Ihr mir das größte Reh bringt, dass Ihr hier auf der Insel finden könnt.«
Der König schluckte laut und sah nervös auf seine Tochter. Diese fing kurz seinen Blick auf, starrte auf die Peitsche und für einen winzigen Augenblick, zuckte ihr Mund, ihr Blick flackerte. Eine Spur von Angst. Dann blickte sie wieder den Kaiser an und nickte, ohne den Rest ihres Körpers zu regen.
»Seid Ihr Euch sicher, dass Ihr das schaffen könnt?«, fragte der Kaiser.
Noch ein Nicken.
»Gut. Mein Sohn Ilias wird Euch helfen.«
Sein Vater stand auf und legte eine Hand auf Nevins Schulter. Sie fühlte sich schwer an. Als würde der Kaiser versuchen, ihn zu Boden zu drucken.
Die Prinzessin starrte Nevin an, auf und ab, bis sie an seinen Armen hängen blieb. Ihr Gesichtsausdruck war so leer, dass Nevin nicht erahnen konnte, was sie fühlte, was sie dachte. Er war sonst sehr gut darin. Sie nickte wieder und sah ihren Vater an.
»Ich führe Euch zu den Jagdkammern und befehle meinen Männern, alles vorzubereiten.« Der König verbeugte sich leicht, dann lief er auf die Tür zu.
»Die zwei sollen alleine gehen. Keine Erwachsenenbegleitung.« Nevins Vater folgte dem Inselkönig in den Gang, doch der dunkelhaarige Mann blieb stehen und drehte sich langsam um.
»Seid ihr Euch sicher? Unsere Wälder sind ... etwas gefährlich.« Nicht nur die Stirn des Königs glänzte, jetzt auch noch seine Schläfen.
»Ist Eure Tochter nicht dort aufgewachsen? Mein Sohn sollte in guten Händen aufgehoben sein.« Der Kaiser lächelte und in Nevins Hals bildete sich ein dicker Knoten. Was hatte sein Vater nur vor?