Als Demian wieder den Strand vor Augen hatte, bohrte sich der Schmerz tiefer in sein Herz hinein. Tränen fielen auf das grobe Leinentuch, mit dem Coras Körper umwickelt war. Neben ihm keuchte Calin, der eine weitere Leiche trug. Hinter ihnen brachten zwei andere Männer Leichen mit. Alles Verfluchte, die diese Woche von Drachenjägern ermordet worden waren. Zwei Kinder, ein junger Mann.
Alle vier wurden von dem Schluchzen der Freunde und Familienmitglieder begleitet, die mit ihnen den schweren Gang zum Strand angetreten waren.
Sie waren alle getrennt aus der Stadt gekommen, hatten sich wie Kriminelle tief im Wald treffen müssen, wo sie die Leichen versteckt hatten, nur um unbemerkt die Trauerfeier abhalten zu können.
Demians biss sich auf die Lippen. Der Kloß in seinem Hals engte diesen so stark ein, dass er kaum schlucken konnte. Die Welt verschwamm durch seine Tränen und er konnte gerade noch im Abendlicht die vier Flecken im Wasser erkennen. Boote, um die Verstorbenen hinaus aufs Meer zu bringen.
Demian stieg barfuß ins Wasser und kämpfte sich durch die kalten, schwappenden Wellen. Er wollte aufhören zu weinen, denn das Leinentuch saugte sich Immer mehr mit seinen Tränen voll. Er wollte nicht Coras Körper beschmutzen. Doch so sehr er auch schluckte und blinzelte, es hörte einfach nicht auf.
Die kalte Windbrise berührte sein erhitztes Gesicht und er merkte erst jetzt, wie kalt Coras Körper geworden war. Hart fühlten sich die Glieder an, die er auf den Armen trug und seine Berührung nicht erwiderten.
Diese menschliche Hülle zu tragen, aus der jegliches Leben gewichen war, war für Demian die grausamste Aufgabe, die er je hatte bewältigen müssen. Doch er wollte sie niemand anderem geben. Auch wenn es ihn innerlich zerriss, auch wenn jeder Schritt ihn Kraft kostete, die er kaum aufbringen konnte, es war das letzte Mal, dass er sie in seinen Armen würde tragen können.
Als Demian das Boot erreichte, schluchzte er auf und er musste tief Luft nehmen, um sie hineinzulegen. Vorsichtig bettete er ihre Leiche in ein Bett aus weißen Lilien.
Novak, der Coras Boot hielt, drückte seine Schulter. »Es tut mir so leid.«
Die Worte nahmen nichts von den Qualen, die Demian zu zerbrechen drohten. Doch es war leichter in einer Gruppe von weinenden, klagenden Menschen zu sein, als in der Stadt, die einfach ihrem Lauf nachging, während für ihn, und für die anderen Hinterbliebenen, die Welt stehen geblieben war. Die Trauer ließ sie hilflos und orientierungslos zurück, denn es gab nicht und es gab niemanden, der ihnen diejenigen zurückgeben konnte, die einen riesigen Teil ihres Lebens ausgemacht hatten.
Demian wischte sich das Gesicht mit den Ärmeln. Calin stellte sich neben ihm hin, während die anderen Menschen nach und nach ins Wasser wateten und die Boote umringten. Einer von ihnen, trug eine Fackel mit sich, ein anderer, eine riesige Flasche Seeschnaps.
Das Boot mit der kleinsten Leiche wurde zuerst mit Alkohol übergossen. Die Mutter des Jungen stieß einen lauten Wehschrei aus und fiel in sich zusammen. Zwei andere mussten sie festhalten, damit sie nicht ins Wasser fiel.
Demian wandte schnell den Blick ab und ließ seine Tränen ins Wasser tropfen, während er seine zitternden Hände ballte und innerlich weiter von der quälenden Pein zerrissen wurde.
Er hätte lieber tausend Schwertstiche ertragen. Oder sich an siedendes Wasser verbrannt. Sich seine Gliedmaßen abgeschnitten. Jeder andere Schmerz war leichter zu ertragen, als das, was sich in seinem Körper fest nagte.
Nun war Cora dran. Der Mann mit dem Krug schüttete das klare Getränk über sie, bis sich die Leiche vollgesaugt hatte.
Dann führte der andere langsam die Fackel zu dem Tuch. Noch dickere Tränen quollen aus Demians Augen heraus. Er musste sich auf die Lippen beißen, um den quälenden Schrei zurückzuhalten, der sich in seinem Hals staute.
Die Flamme sprang sofort auf das Leinentuch und breitete sich wie eine tosende Welle über das Leinentuch.
Demian und Calin stellten sich vor ihrem Boot, dann schoben sie es weiter hinaus. Demian stolperte voran. Er begriff nicht, wie er überhaupt noch die Kraft hatte, um sich durch das Wasser zu bewegen und das Boot anzuschieben.
Das Feuer schlug ihm Hitze entgegen, die sein Gesicht, das mit Tränen bedeckt war, noch mehr brennen ließ. Als das salzige Nass ihnen bis an die Brust reichte, schoben beide das Boot ein letztes Mal an. Demian nur schwach, doch Calins Schub war kräftig genug, um Coras Boot mit den anderen auf ihre Reise ins weite Meer zu schicken.
Etwas in ihm, wollte sich nach vorne stürzen, sich an das Boot festklammern und sich mit Cora ins Meer versinken lassen.
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Calin legte seinen Arm um Demian und als er spürte, wie sanft seine Berührung war, brachen noch mehr Tränen aus seinen Augen heraus. Fast wünschte er sich die Heftigkeit zurück, mit denen Calin ihn sonst berührte, nur um andere Schmerzen spüren zu können, die nicht so grausam waren wie die jetzigen.
Schnell wandte Demian sich ab und watete zurück zur jammernden, schluchzenden Menschengruppe. Ihre Gesichter sahen so verzerrt aus, wie er sich fühlte.
Wie viele Male war diese Prozedur schon geschehen? Und wie viele Male würde sie noch stattfinden müssen? Nicht nur hier, sondern im ganzen Kaiserreich? Und wie viele Drachen, wurden niemals von ihren Lieben geborgen, sondern von den Jägern in irgendeine Grube geworfen, wo sie niemand jemals finden würde?
Sein Herz brannte, so heftig, dass Demian seine Faust auf die Brust legte. Wann würde endlich jemand kommen, um dem Ganzen ein Ende zu setzen? Wann würde jemand kommen, der sich endlich für alle einsetzen würde, die verflucht waren? Warum gab es niemanden, der eine Lösung für diesen Albtraum hatte, das Demian irgendwann in eine wahnsinnige Bestie verwandeln würde, wenn er nicht vorher von Drachenjägern oder von Stadtwachen entdeckt und getötet werden sollte? Er hatte nicht nur seine alte Heimat und seine Familie verloren, nun hatte er auch noch die teuerste Person verloren, die schönste, die lieblichste, wundervollste, die er jemals getroffen hatte.
Würde sich jemals irgendjemand über sie erbarmen und weiteres Leid verhindern?
–
»Demian, iss doch ein wenig mit uns. Ich habe einen frischen Seebarsch gefunden und ihn mit Zitronen und Mangold zubereitet, so wie du es magst.«
Sein Bett knarzte, als Dinara sich auf die Matratze setzte. Dennoch blieb Demian still liegen, während er die Zimmerwand anstarrte.
»Ich stelle dir deinen Teller vor die Tür, ja? Es würde mich sehr freuen, wenn du ein wenig essen würdest.«
Sie strich ihm durch die fettigen Haare. Dann knarzte das Bett wieder und Dinara bewegte sich mit langsamen Schritten auf die Tür zu.
»Ich glaube, ich werde ihn zwangsfüttern müssen«, sagte Calin, der im Flur stand.
Demian blendete ihr Gespräch aus und konzentrierte sich ganz auf seine Gedanken. An diesem Morgen hatte er die letzten Teile eines Plans zusammengestellt. Das Einzige, was verhinderte, dass sein Verstand nicht vollständig in ein dunkles Loch fiel.
»Es ist erst ein Monat her, der Junge braucht einfach noch ein wenig Zeit«, sagte Dinara und seufzte. »Aber rede du nochmal mit ihm, vielleicht hört er ja auf dich.«
Wieder drang der Klang von knarzenden Dielen in sein Ohr.
»Steh auf.« Calin zog ihm so schnell die Decke weg, dass Demian nicht reagieren konnte. Doch das machte ihm nichts aus. Er setzte sich langsam auf und starrte Calin entgegen.
Sein Freund hielt inne, immer noch die Decke in den Händen haltend, mit einem verdutzten Ausdruck im Gesicht.
Schließlich ließ er die Decke langsam wieder auf das Bett sinken und wich Demians Blick aus.
»Soll ich ... soll ich dir vielleicht das Essen holen?«, fragte Calin.
»Du hast einen Bekannten, der im Schloss arbeitet, nicht war? In der Bibliothek?«
Calin legte eine Augenbraue schief und es dauerte ein wenig, bis er nickte.
»Ein guter Freund meines Vaters. Seine Tochter ist ebenfalls verflucht. Wieso?«
»Stell mich ihm vor. Ich will eine Anstellung im Schloss.«
»Was?!« Calin schritt nach hinten und stolperte über die Truhe, doch statt sich zu fangen, ließ er sich einfach auf sie fallen und blieb dort sitzen. »Was zum ... Was ... Argh!« Calin grub die Hände in sein schulterlanges, schwarzes Haar und wirbelte sie durcheinander.
»Was ist los mit dir? Tagelang sitzt du hier und dämmerst vor dich hin und jetzt siehst du aus, als wäre nichts gewesen. Entschlossen, wieder zurück ins Leben zu kehren. Wieso um alles in der Welt willst du im Schloss arbeiten?«
»Ich habe einen Plan. Ich will in der Bibliothek arbeiten, um Zugang zu Schriften zu haben, sodass ich vielleicht eine Lösung für den Fluch finden kann. Und nicht nur das, ich will mich hinauf bis zu den direkten Bediensteten des Königs hocharbeiten, seine rechte Hand werden und meine Position ausnutzen, um Siegenshafen zu einem sicheren Ort für Drachen zu machen.«
»Halt mal an. Ich komme nicht mit. Beziehungsweise, ich kann mir nicht vorstellen, wie du Siegenshafen zu einem sicheren Ort für uns machen willst. Und mein Bekannter sucht bereits nach einer Lösung für den Fluch. Zugegeben, er kommt alleine nicht so gut voran, weil er es verdeckt und außerhalb seiner Arbeitszeiten suchen muss.« Calin hielt kurz inne und starrte den Holzboden an.
»Erklär mir bitte, was du eigentlich genau vorhast.«
»Ich habe es gerade gesagt. Ich werde mich hocharbeiten, bis ich dem König gegenüberstehe.«
»Ja, das weiß ich. Und dann?«
Demian hielt kurz inne. Calin würde ihn für verrückt halten. Doch wenn er mit seinem Plan beginnen würde, wusste Demian, dass sein Freund ihm zur Seite stehen würde, egal wie riskant sein Vorhaben war.
»Dann werde ich den König stürzen.«
Calin saß so regungslos da, dass er nicht einmal blinkte. Dann weitete sich seine Augen und er sprang auf, warf sich schon fast auf Demians Matratze und packte seine Schultern.
»Bist du wahnsinnig? Ich weiß, dass du gerade in Trauer bist, aber dein Plan ist absolut lebensmüde!« Calin stand auf und zog an Demians Arm.
»Komm, mir reicht es, du isst jetzt was und dann gehst du dich gefälligst waschen. Vielleicht bringt dich das wieder zur Vernunft.«
Demian zog seinen Arm zurück und damit auch Calin auf das Bett.
»Nein. Er ist riskant, aber nicht unmöglich. Ich weiß, dass ich das kann. Ich werde die Unterstützung aller Drachen nehmen, die ich bekommen kann, sowie ihrer Verwandten, die in Siegenshafen leben. Ich weiß, wie ich mich schnell beliebt machen kann. In Höhental hatte ich auch in kürzester Zeit eine hohe Stellung erreicht. Du wirst sehen, ich werde es schaffen. Und ich werde mich nicht aufhalten lassen. Ich werde König von Siegenshafen und alle Drachen unter meinem Schutz stellen, sodass niemand uns mehr etwas anhaben kann. Selbst Kaiser Rovis nicht.«
Er würde es tun. Er würde derjenige sein, der sich für die Drachen und ihre Lieben einsetzen würde. Damit ihnen kein Leid mehr geschah.
ENDE