Mit gefurchten Augenbrauen, starrte Nevin auf die Inselgruppe, die ihren Namen gerade alle Ehre machte. Ein grauer, blitzender Schleier hing über ihnen, brauste das Meer um die Küste auf, sodass die Sturminseln von wogenden, weißen Schaumwellen umringt waren.
Nevin lehnte die Oberarme auf die Reling und legte sein Kinn auf den seidenen Stoff seines Ärmels zu legen, das sein Vater ihm aufgezwungen hatte. Ein Seidenhemd, einen Umhang mit goldbestickten Schulterklappen, feine Leinenhosen, fast so weich wie samt und die teuersten Stiefel, die sein Vater ihm je gegeben hatte. Nevin wunderte sich, dass er nicht auch noch seine dumme Krone tragen musste, die ihn als Thronfolger des Kaisers von Rovisland auszeichnete.
Besagte Krone war auch auf seinem Umhang bestickt, die Teil seines Wappens war. Das gleiche Wappen, das auch auf dem Vordermast des Schiffes abgebildet war, mit dem sie gerade über das aufgewühlte Meer fuhren.
Gerade war sein Vater in seiner riesigen Kajüte, um sich auszuruhen und deshalb wagte Nevin es, eine schlechte Miene zu ziehen und tief zu seufzen. Er war auf dem Weg, nur damit sein Vater ihn mit einer unbekannten Prinzessin verloben konnte. Nun, sie war nicht völlig unbekannt. Er hatte eine Radierung von Prinzessin Elyon gesehen und sehr seltsame Geschichten über sie gehört. Sie sollte eigentlich tot sein, aufgrund eines Bootsunfalls. Doch man hatte sie im Wald gefunden, lebendig und mitten unter Wölfen lebend. Wenn das stimmte, wunderte es Nevin umso mehr, dass sie die Auserwählte des Kaisers sein sollte, um seinen Thronfolger zu heiraten.
Doch Nevin wagte es nicht, irgendeinen dieser Gedanken gegenüber seinem Vater zu äußern. Niemals. Das hatte seine Mutter ihm beigebracht. Seine wahren Gedanken und Gefühle nicht vor der Gegenwart des Kaisers zu äußern oder Luft zu machen. Möglichst viel Lächeln. Das mochte sein Vater, der es selbst kaum tat und vor lauter Grimmigkeit eine Falte zwischen den Augenbrauen hatte, die niemals verschwand. Nur tiefer, oder etwas schwächer wurde, je nachdem, in welcher Stimmung er sich befand.
Tränen traten Nevin in die Augen. Weil er nicht mit zwölf Jahren verlobt sein wollte. Weil er keine Person heiraten wollte, die er kaum kannte und auch erst nach ihrer Hochzeit kennenlernen würde. Weil er seit drei Jahren seine Mutter nicht mehr gesehen hatte und sie schrecklich vermisste.
Seine aufgewühlten Gefühle wärmten sein Bein auf und ein warmer, scharfer Strom sickerte langsam seinen Körper hinauf.
Nevin hielt den Atem an. Auch das noch. Der Fluch. Er musste sich schnell beruhigen, denn sich ungewollt auf dem Schiff seines Vaters in einen Drachen verwandeln, war das letzte, was er tun sollte, wenn er am Leben bleiben wollte.
Ein Arm berührte seinen.
»Was ist los? Ich rieche den Fluch«, wisperte Dilek, sein Kindheitsfreund und sein zukünftiger Leibwächter. Und verflucht, genau wie Nevin.
Blaue Augen suchten besorgt sein Gesicht ab, dann hob Dilek wissend die dunkelblonden Brauen hoch. »Du denkst schon wieder an deine Mutter, nicht wahr? Du weißt, dass das immer bei dir eine Verwandlung auslöst. Komm, lass mich dich ablenken. Hast du schon irgendwelche Tümmler gesehen? Hier soll es sehr viele geben.«
Dilek beugte sich über die Reling und suchte das tosende Wasser ab. Da polterten schnelle Schritte über das Deck und eine kleine Gestalt zwängte sich zwischen ihnen.
»Warum stehst du so dicht neben ihm?!«, schimpfte Finan. »Ich bin sein Bruder! Nicht du!« Obwohl Nevins jüngerer Bruder einen ganzen Kopf kleiner war, stieß er den breit gebauten Dilek so heftig zur Seite, dass dieser sich nur knapp fangen konnte, ehe sein Kinn auf das Deck landete.
»Du kleiner Wicht! Hör auf, mich ständig zu schubsen!«
Dilek schnaubte und stürzte sich auf Finan.
»Nein! Hör du auf, dich Nevin ständig aufzudrängen!«
Nevin seufzte. Er hatte es so schon so oft probiert, ihre Streitereien aufzulösen, doch ohne Erfolg. Beide waren zu heißblütig und er war heute zu bedrückt, um sich um sie zu kümmern.
»Ich bin sein Leibwächter! Ich muss immer bei ihm sein!«, sagte Dilek und ächzte, als Finan hochsprang und ihn in den Schwitzkasten nahm.
»Nein! Du bist erst zwölf! Leibwächter wird man erst mit sechzehn! So lange bin ich sein Lieblingsbruder, nicht du!«
Nevin wandte sich von den raufenden Jungs ab und starrte wieder auf die Insel, die nun ein ganzes Stück näher war. Sein Magen krampfte sich zusammen.
»Hey! Aufhören!«, rief eine männliche, erwachsene Stimme und Nevin drehte sich um. Sein Ziehvater, Jesko, rannte gerade auf die zwei Raufenden zu und riss sie auseinander.
»Lasst eure Streitereien auf dem Schiff sein«, zischte Jesko. »Was sollen die Schiffsleute über euch denken? Der Kaiser könnte jederzeit hier auftauchen.«
Sofort sanken ihre Fäuste und Finan, sowie Dilek blickten beide hinter Jesko, um mit besorgten Mienen das Schiff abzusuchen. Doch der Kaiser war nicht zu sehen.
Jesko ächzte und schob seine braunen, kinnlangen Haarsträhen zurück, die sich von seinem Zopf gelöst hatten. Während er das Band aus seinem Haar löste, um es erneut zusammenzubinden, fing er Nevins Blick auf. Sofort ließ Jesko die Hände sinken und seufzte schwer.
»Jungs, haltet doch ein wenig Wache, ja?«
Dilek und Finan verstanden sofort und liefen um das Deckshaus herum und beobachteten dort das Oberdeck um sie zu warnen, sollte der Kaiser sich aus seiner Kajüte begeben.
»Nun schau doch nicht so bedrückt, mein Junge.« Jesko stellte sich zu ihm an die Reling und klopfte seinen Rücken. »Von dem, was ich gehört habe, ist sie keine typische Prinzessin. Ich bin mir sicher, dass du sie ... äußerst interessant finden wirst.«
Nevin ächzte. »Das klingt furchtbar.«
Jesko warf einen Schulterblick auf das Deck und als er niemanden sah, schlang er die Arme um Nevin, hob ihn vom Boden, schüttelte ihn leicht und drückte seine Wange auf Nevins Kopf. Genauso, wie er es getan hatte, als Nevin noch kleiner war. Er konnte nicht anders, als zu lächeln.
»Ah! Da ist es wieder, mein Goldlächeln.« Jesko drückte ihm einen Kuss auf die Stirn, vorsichtig, um nicht die aufwendig zurückgesteckten Haare aus dem dicken Zopf zu ziehen, den seine Kammerdiener mit seinen langen Haaren erschaffen hatten.
Sein Ziehvater stellte ihn wieder auf den Boden und löste schnell die Arme von ihm. Doch als Nevin die Leere um ihn herum fühlte, stieg das üble Gefühl in ihm wieder hoch und er schmiegte sich an Jeskos Seite, der es nicht wagte, wieder den Arm um ihn zu legen, da gerade ein paar Männer der Besatzung hinter ihnen vorbeiliefen.
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Nevin seufzte und löste sich wieder von Jesko, der von seinem Vater eigentlich als strenger Erzieher für seinen Sohn eingestellt worden war. Das war üblich in seiner Familie. Der Kaiser musste mindestens 11 Söhne gebären, die alle als Aufseher über die einzelnen Königreiche des Reichs eingesetzt wurden und ihren Vater über den Stand ihres Einsatzgebietes, und natürlich auch über die Führung der Könige zu berichten. Das erforderte jede Menge Konkubinen und selten blieben die Nachkommen der Kaiser nur bei zehn Kindern.
Nevins Vater hatte sechzehn Söhne und acht Töchter, letztere wohnten mit den Konkubinen im Schwertlilienpalast, ein riesiges Gebäude, direkt neben dem kaiserlichen Palast, von hohen Mauern umgeben und für alle Männer verschlossen, außer für den Kaiser und seine Söhne.
Dort lebten und arbeiteten nur Frauen. Selbst die Wache bestand aus Frauen, eine große Ausnahme in Rovisland und die einzigen Kämpferinnen im ganzen Kaiserreich.
Bei so vielen Kindern und einem so großen Königreich, hatte Nevins Vater keine Zeit für ihn, obwohl er der ernannte Thronfolger vonseiten seiner Großeltern war. Deswegen hatten alle seine Brüder Ziehväter. Jesko war seiner. Er, sein Zwillingsbruder Jaro, der auch Nevins Lehrer war und Jaros Frau waren neben seiner Mutter, seinem Halbbruder Finan und Dilek, mit dem er aufgewachsen war, die einzigen, die Nevin als Familie betrachtete.
Die Wolken über den Sturminseln klärten sich langsam auf, gleichzeitig zeichnete sich der große nördliche Hafen der Hauptinsel ab und nicht weit dahinter, eine dunkle Burg, die über die Hafenstadt thronte und so schwarz war, dass sie nur ein Schatten zu sein schien.
»Ich werde versuchen, mehr über die Prinzessin zu erfahren, wenn wir dort sind.« Jesko beobachtete mit gerunzelter Stirn die immer größer werdende Insel.
Nevin hatte keinen Zweifel daran, dass Jekos mehr erfahren würde. Sein Ziehvater besaß eine charmante Freundlichkeit, die selbst die Wut seines Vaters zu dämpfen vermochte, wenn Nevin mal wieder einen Fehler während seiner Kampfstunden, oder in seinen Hausaufgaben machte. Und alle anderen Menschen, die nicht so tollwütig wie der Kaiser waren, konnten Jesko nichts abschlagen, mochten sie noch so unbezwingbar erscheinen.
Er hoffte, dass sie keine weinerliche Prinzessin war, die nur Kleider, Musik, oder ihre Puppen im Kopf hatte. Oder die nichts tat, außer Bücher zu lesen und aus der kein Wort zu kriegen war.
Nevin seufzte erneut und legte die Stirn auf die Arme, die sich nicht von der Reling Halt gelöst hatten. Er blieb so, bis Finan und Dilek angelaufen kamen und ihnen abgehetzt verkündeten, dass der Kaiser auf dem Weg war.
Nevin nahm tief Luft, entspannte seine Gesichtszüge und formte ein leichtes, freundliches Lächeln mit den Lippen. Er stellte sich vor, wie seine Augen, genau wie die seiner Mutter funkelten. Dann kam der Herrscher von Rovisland um die Ecke gestampft und stierte sie unter dicken, gefurchten Augenbrauen an. Die hellbraunen Augen keilten sich an Nevin fest und ihr Blick fuhr auf und ab.
Nevins Herz machte einen Satz. Hatte er vergessen, seine Haare zu richten oder seinen roten Umhang? Bestimmt sah er zerzaust aus. Doch der Kaiser sagte nichts, nickte nur und bedeutete Nevin ihm zu folgen, in Richtung Schiffsbug. Dort stellte sich Nevins Vater breitbeinig wie ein Krieger auf, bereit die Insel einzunehmen, seinen Blick starr auf die Kaizunge gerichtet, wo bereits eine große Menschenmenge sie erwartete. Riesigen kaiserlichen Fahnen waren am Hafen verteilt gehisst worden, die sich mit denen der Insel abwechselten, auf denen gelbe Blitze und raue Wellen abgebildet waren.
Kein Jubel war zu hören, was Nevin nicht überraschte. Die Insel gehörte nicht zum Kaiserreich. Zumindest nicht offiziell. Sie war eine einsame Existenz, abhängig vom Kaiserreich und von dem südlichen, warmen Kontinent, zu klein, um eine große Macht darzustellen. Zu karg, um sich alleine mit Nahrungsmitteln zu versorgen und die einzige Handelsmacht des Königs lag in den brillanten Köpfen, die er beherbergte. Wissenschaftler, die vor allem im Bereich der Medizin immer wieder große Entdeckungen machten und deren Heilmittel der König der Sturminsel zu hohen Preisen weiter an das Festland verkaufen konnte. Hätten die Sturminseln sich nicht dieser Mediziner und Wissenschaftler rühmen können, wäre sie nur mit einer unbedeutenden, sklavenähnlichen Existenz bestraft gewesen.
Dies alles, hatte Jaro Nevin letzte Woche gelehrt, um ihn auf seinen Besuch vorzubereiten. Doch sein Wissen half nicht gegen das mulmige Gefühl in Nevins Bauch, oder gegen das Herzklopfen, das stetig schneller wurde. Es kostete ihm einiges, um seinen geraden Rücken und seine ausgestreckte Brust zu bewahren und nicht völlig in sich zusammenzufallen.
Er wollte nicht. Er wollte kein Prinz sein, der sich mit zwölf verloben musste und der mit einer Unbekannten mindestens elf Söhne haben musste. Er wollte fliehen. Und er hätte die Möglichkeit dazu gehabt. Schließlich trug er den gefürchteten Fluch in sich, der Menschen in Drachen verwandelte. Er war seit drei Jahren ein großes Ungeheuer, das fliegen konnte. Sich wehren konnte. Und doch, er konnte es nicht.
Weil es nicht mit einer Flucht enden würde. Weil das ganze Kaiserreich voller Drachenjäger war und sein Vater die Macht hatte, die besten von ihnen einzustellen und sie auf Nevin anzusetzen, bis sie ihn gefangen, oder umgebracht hatten. Und ein Kaiser hatte nicht zu flüchten, sondern allem entgegenzustehen, dass ihm begegnete. So war er erzogen worden, seit er klein war.
Nevin saugte die salzige, kalte Luft ein, schloss kurz die Augen, drängte die Wärme zurück, die wieder drohte durch seinen Körper zu wüten und ihn zu verwandeln. Als das Schiff leicht gegen den Landungssteg stieß, öffnete er sie wieder und lächelte. Lächelte, so wie seine Mutter es ihm beigebracht hatte.
Neugierig drängten sich die Hafeneinwohner näher an die Reihe von königlichen Wachen heran, die sie davon abhielten, näher an den Steg zu treten. Sie beobachteten den Kaiser, der sie mit einem nicht ganz so grimmigen Blick bedachte. Trotzdem richteten die Einwohner ihre Augen schnell auf Nevin und blieben dort hängen.
Sie fühlten sich an wie tausende von Pfeilen, die aus allen Richtungen in seinen Körper eindrangen und dort stecken blieben. Doch Nevin hatte es von seiner Mutter gelernt, in öffentlichen Veranstaltungen, den Blick für einen bestimmten Zeitraum auf die Menge zu behalten, um die Gunst der Menschen zu gewinnen.
So zählte Nevin langsam bis zehn für die linke Seite der Zuschauer, dann für die rechte und konnte dann endlich geradeaus auf die breite Hauptstraße schauen, die in einer leichten Linkskurve hinauf in die Burg führte. Eine offene Kutsche wartete bereits dort, wo die Fischerhäuser aufhörten und die Wohnhäuser begannen, die genauso grau waren, wie die Pflastersteine unter Nevins Füßen und den Himmel über ihren Köpfen. Die Straße glänzte noch vom Regen, auch wenn keine Tropfen mehr vom Himmel fielen.
Nevin folgte seinem Vater in die Kutsche, Finan setzte sich neben ihn und sagte kein Wort. Er wagte es nicht. Finan hatte sich mit seinem aufbrausendem Temperament schon zu viele Ohrfeigen von ihrem Vater einkassiert. Zwischendurch auch schon mal einen Schlag mit der flachen Seite seines Langschwerts, das er immer mit sich trug. Auch heute hielt er es vor sich, die Hände auf dem Knauf geruht, als wäre es ein Zepter und keine Waffe.
Nevin merkte, dass Finans Blick genau so oft auf das Schwert zuckte, wie sein eigener. Sein kleiner Bruder war damals dabei gewesen, als Nevin weinend zu seinem Vater geschleppt worden war, sein Bein entblößt, wo man deutlich den frischen Biss des Drachens hatte sehen konnte. Er hatte erschrocken aufgeschrien, als sein Vater das Schwert gezogen und an Nevins Kehle gehalten hatte.
Nevin konnte sich nicht daran erinnern, wie man verhindert hatte, dass sein Vater ihn umbrachte. Er konnte sich nur noch an den Stich erinnern, an die Blutstropfen, die von seinem pochenden Hals herausgeflossen waren. An das drückende Gefühl in der Brust, als würde sein Herz jeden Augenblick zu schlagen aufhören. Jemand hatte mit seinem Vater geredet, ihn überredet. Wahrscheinlich Jaro und Jesko.
Nevin unterdrückte ein Seufzen, stupste seinen Bruder leicht mit dem Ellbogen an, als der Kaiser nicht hinsah und sah dann auf die dunkle Burg, von der man langsam die einzelnen Steine ihrer Mauer ausmachen konnte.