Als Gilwa ein Kitzeln in der Nase spürte, riss er die Augen auf. Er lag auf dem Waldboden, über ihn bedeckten dichte Eichenäste den Himmel. Vorsichtig hob Gilwa seinen Kopf, was sich ganz seltsam anfühlte. Als wäre sein Hals viel länger als sonst.
Er schluckte schwer und sah sich um. Er erinnerte sich noch an den Drachen, an Elina, die weggelaufen war und Dina. An Dina wollte er nicht denken. Weit und breit fand Gilwa keine Spur von dem Drachen. Da erinnerte er sich an den Biss und sah erschrocken an sich herunter, doch er sah seinen Körper nicht. Gilwa fragte sich, warum er sich so seltsam fühlte und wieso er auf dem Bauch lag. Er versuchte seine Arme zu strecken, was sich ebenfalls ganz falsch anfühlte. Seine Arme waren anders.
Er drehte seinen Kopf nach hinten, um nachzusehen, was mit ihm los war, doch er sah nur einen langen Körper, bedeckt mit grauem Fell. Vorsichtig streckte Gilwa sein linkes Bein zur Seite und eine Pfote mit langen Fingern und Krallen tauchte auf. Erschrocken sprang er auf und torkelte hin und her, als wüsste er nicht mehr, wie er seine Beine bewegen sollte. Er war kein Junge mehr, sondern ein Drache.
Wieder sah Gilwa sich um. Der Wald war zu laut. Viel lauter als sonst. Hatten die Vögel schon immer so laut gerufen? Und er sah so viel und so weit und so viele Gerüche stiegen ihm in die Nase, dass er nicht wusste, auf was er zuerst achten sollte.
Wo war Elina? Er brauchte ihre Hilfe. Sie wusste bestimmt, was mit ihm passiert war.
Er öffnete sein Maul und wollte nach ihren Namen rufen, doch alles was aus ihm herauskam, war ein seltsamer, blökender Ruf. So würde Elina ihn nicht erkennen. Er musste sie mit den Augen suchen.
Mit vorsichtigen Schritten bewegte er sich durch den Wald. Bald kam Gilwa zurück auf dem Weg, wo er zuletzt Dina gesehen hatte. Gilwa hielt an und sah sich um, während sein Körper im Takt seines Herzschlags pulsierte.
Etwas in ihm hoffte, dass er sich versehen hatte. Vielleicht war Dina ja noch am Leben. Elina würde es wissen, ob es möglich war. Oder seine Eltern.
Leise winselnd schlich er den Weg entlang, tiefer in den Wald hinein. Nachdem er eine scharfe Biegung hinter sich gelassen hatte, lag sie da. Ohne Kopf.
Ein eiskaltes Gefühl packte ihn, gleichzeitig wurde ihm schlecht, so furchtbar schlecht, dass er sich krümmte. Er starrte auf Dinas starren, aufgerissenen Augen, die direkt auf ihn gerichtet waren. Ihr Gesicht war von Blut umgeben.
Er winselte laut. Wenn sie am Leben wäre, hätte sie sich gerührt, dachte Gilwa, gleichzeitig wuchs ein riesiger Kloß in seinem Hals. Er schloss die Augen, aber er sah sie trotzdem, die furchtbaren Augen, die sich nicht bewegten. Wo waren seine anderen Schwestern? Neli. Neli hatte er noch nicht gefunden. Vielleicht war sie noch am Leben.
Seine Beine zitterten bei jedem Schritt, während Gilwa zu der linken Seite des Wegs tapste, den Blick nach vorne gerichtet, auch wenn es schwer war, doch es war so schwer, die Blutlache in seinem Augenwinkel zu ignorieren.
Mit einem Keuchen schloss er die Augen, dann jagte er so schnell und so gerade er konnte an Dina vorbei. Immer wieder öffnete er kurz die Augen, um nicht vom Pfad abzukommen. Schon bald kam die nächste scharfe Biegung.
Gilwa wollte nach Neli seiner Schwester Rufen, doch es kam nichts heraus außer einem Jaulen. Er lief noch ein Stück weiter, in der Hoffnung, dass sie irgendwo auf dem Weg war, doch ohne Erfolg. Er hielt an und blickte sich nach allen Richtungen um, während sein Herz immer heftiger schlug. Gilwa suchte, bis seine Augen an einem riesigen, dunkelroten Fleck hängenblieben.
Auf einer Blutlache lag ein Bein, das Nelis Stiefel anhatte.
Gilwa schüttelte leicht den Kopf, während eine schmerzhafte Hitze in seinen Augen drückte. Er japste, sah sich um, horchte, ob nicht irgendjemand vorbeikommen würde, der ihm helfen könnte. Der seinen Schwestern helfen könnte. Wo war Neli? Vielleicht war sie noch am Leben. Ihr Opa hatte auch ohne ein Bein gelebt. Bestimmt war sie noch irgendwo. Bestimmt hatte sie Schmerzen und weinte.
Doch so sehr er sich auch den Wald nach ihr absuchte, er fand nur lange Blutspuren und Fetzen ihres weißen Kleids.
Vielleicht war sie ins Dorf zurückgekehrt? Oder Elina hatte sie gefunden und nun waren beide Zuhause, um Neli zu verarzten.
Gilwa wandte sich von den vielen Blutspuren auf dem Waldboden ab und jagte an den Baumstämmen vorbei, direkt auf ihre Siedlung zu. Als er die ersten Häuser zwischen den Bäumen am Waldsaum entdeckte, stellte er seine Ohren auf. Es war zu still. Es war doch noch mitten am Tag und die Bewohner waren eigentlich fast immer den ganzen Tag im Sommer draußen, oder man hörte einen Hund bellen.
Kurz vor dem Waldsaum blieb Gilwa stehen. Seine Beine knickten ein, er konnte sich gerade noch fangen. Immer wieder schluckte er schwer gegen den Kloß in seinem Hals an. Ein dunkles Gefühl breitete sich in seiner Brust aus. Er wollte nicht weiter. Doch er musste. Er musste Elina finden. Seine Eltern. Er brauchte Hilfe.
Deswegen schloss er die Augen und sprang zwischen den zwei Tannen auf die Siedlung zu, ehe er sie wieder öffnete. Ein großes Haus versperrte seine Sicht auf das restliche Dorf. Er schlich sich daran vorbei und spähte auf den runden Dorfplatz.
Japsend sprang er wieder hinter das Haus. Sein Herz hämmerte gegen seine Brust und Schauer fuhr über seine Haut. Der Platz war voller Blut. Er konnte sich ein leises Jaulen nicht verkneifen und musste die Luft anhalten, um wieder auf den Platz schauen zu können.
Neben dem Blut, entdeckte ein paar Arme und Beine, doch er konnte sie nicht lange anschauen. Seine Augen drückten fürchterlich und wenn er nicht aufpasste, war Gilwa sich sicher, dass sie platzen würden.
This story originates from Royal Road. Ensure the author gets the support they deserve by reading it there.
Ohne sein Winseln zu unterbrechen, hielt er nach irgendeinem Lebenszeichen Ausschau. Vielleicht ein Bauer, der gerade von seinem Feld zurückkam. Oder ein Kind, das aus einem Haus herausgelaufen kam. Selbst die Hunde und Katzen, die sich sonst durch die Wege tummelten, fand er nicht. Seine eigene Familie hatte einen großen schwarzen Hund, der eigentlich immer zu Gilwa gelaufen kam, sobald er sich dem Dorf näherte. Aber selbst Rabe kam nicht, um ihn zu begrüßen.
Wieder versteckte Gilwa sich hinter dem Haus, weil das viele Blut so schrecklich war. Statt auf den Platz zu treten, ging Gilwa am Rand des Dorfes entlang. Auf seinem Weg fand er noch mehr Blutspuren, tote Hühner, die Hinterbeine und den Schwanz einer Katze, noch mehr Blut. So viel Blut.
Er lief weiter, bis das breite Haus seiner Familie in Sicht kam. Vor der dunklen, halboffenen Eingangstür, lag Rabe, ihr Hund, sein Fell mit Blut besudelt.
Gilwa rannte auf ihn zu, doch als er Rabes offenen Bauch bemerkte, stolperte er japsend zurück. Wie vom Blitz erschlagen lag er da, konnte kaum Atmen und das Zittern seiner Beine hatte selbst seinen Kopf übernommen. So stark, dass Gilwa mit den Zähnen klapperte.
Die Kehle zugeschnürt, ging er an seinem Hund vorbei und steckte seinen Kopf durch die halbgeöffnete Tür. Sein Körper war klein genug, um in die leere Wohnstube zu treten. Zwei Stühle vom Esstisch waren umgekippt. Die Pflaumen, die eigentlich auf dem Tisch in einer Schale standen, lagen verteilt auf dem Boden, zwei davon platt getreten.
Er blökte ins Haus hinein, so laut es ging und wartete. Wartete auf Schritte, auf einen Ruf, auf Elina, die vielleicht die Treppen hinuntergelaufen kam, oder auf das Summen seiner Mutter, wenn sie in der Küche stand. Doch das Haus war still. Kein Laut war zu hören, außer dem Rauschen der Bäume von draußen, das Klappern einer Tür und von den Fensterläden der anderen Häuser.
Wieder presste Gilwa seine Lider zusammen, weil das Brennen und Drücken nicht auszuhalten waren. Er legte sich auf den dicken Fellteppich und winselte vor sich hin.
Wo war Elina? Wo waren seine Eltern? Sie mussten noch am Leben sein. Es konnten doch nicht alle gestorben sein. Und warum hatten die Drachen das gemacht? Warum hatten sie so viele getötet? Gilwa wusste, dass die Ungeheuer gefährlich waren, aber nicht so grausam. Niemand hatte ihm erzählt, dass Drachen Menschen fraßen.
Er rollte sich zusammen, steckte die Schnauze unter seinem Bauch und jaulte weiter.
Erst als Gilwa ein lautes Rauschen hörte, dicht gefolgt von einem Stimmengewirr, hob er den Kopf und starrte die halbgeöffnete Tür an.
Es waren Männerstimmen. Jemand war hier. Vielleicht konnten sie helfen.
Statt zur Tür zu laufen, streckte Gilwa seinen Hals zum Wohnzimmerfenster, nur um sich gleich wieder zu ducken.
Draußen standen keine Männer, sondern Drachen. Seine Brust verzog sich schmerzhaft, als sein Herz wieder zu hämmern begann.
Die Stimmen redeten weiter. Vorsichtig lugte Gilwa wieder durch das Fenster. Es waren alles große, hellgraue oder weiße Drachen. Einer von ihnen war besonders groß, sein Kopf sah auf die Dächer des Dorfes herab und hatte ein kurzes Geweih auf dem Kopf. Erstaunt beobachtete Gilwa sie beim Reden. Er hatte nicht gewusst, dass Drachen sprechen konnten. Der Schwarze hatte es nicht getan.
Da trafen ihn die blauen Augen des größten Drachens. Schnell zog Gilwa den Kopf ein, hielt still, doch als er hörte, wie Schritte über dem Weg kratzten, die immer näher kamen, rannte er aus der Wohnstube in die Diele. Dabei stieß sein großer Körper gegen die Wände und Türen, stieß einen weiteren Stuhl um und eine Vase von einem Schrank, ehe er in die Küche hinein hechtete, wo er sich unter dem Esstisch flüchtete. Dort verbarg ihn eine Tischdecke, die über die Kanten herabhingen.
Die Haustür schlug auf und Gilwa hielt den Atem an.
»Hallo? Ist hier noch jemand? Bitte hab keine Angst, ich tu dir nichts!«
Gilwa entschlüpfte ein Winseln, das er schnell wieder hinunterschluckte. Sein Herzschlag war so laut, dass er fürchtete, der Drache würde ihn hören.
Aber es kamen keine Schritte. Bestimmt war der Drache zu groß, um durch die Tür zu passen. Ein streichendes Geräusch verriet ihm, dass der Drache wieder den Kopf aus der Vordertür zog.
Gilwa blieb still liegen und horchte. Als er nur noch die dumpfen Stimmen von draußen hörte, steckte er vorsichtig den Kopf unter die Tischdecke.
»Da bist du ja!«
Gilwa japste. Der riesige Drache stand direkt vor dem Küchenfenster und sah auf ihm herab. Schnell zog Gilwa seinen Kopf zurück. Er quiekte panisch, während sein ganzer Körper zitterte.
Da hörte er ein lautes Brechen und Holzstücke flogen über den Küchenboden. Gilwa verkroch sich näher an die Küchenwand.
»Keine Angst! Ich will dir nichts tun, ich verspreche es dir. Ich bin kein wilder Drache, ich bin nur hier, um zu helfen.«
Gilwa verstummte. Ob das wirklich stimmte?
Da tauchte eine weiße Schnauze unter dem Tuch. Winselnd presste Gilwa sich gegen die Wand, während die Schnauze immer näher kam.
»Ganz ruhig, ganz ruhig. Siehst du? Ich tue dir nichts. Ich will dir wirklich nur helfen.«
Der Fremde schnupperte leise, dann hielt er still.
»Du wurdest gerade erst gebissen, nicht war? Und ... kann es sein, dass du noch klein bist? Wie alt bist du denn?«
Gilwa gab nur ein Winseln als Antwort und presste sich fester an die Wand.
»Oje, ich bin wohl doch ein wenig gruselig in dieser Form, was? Warte einen Augenblick.«
Die Schnauze verschwand und ein leises Rauschen echote in der Küche.
Dann hörte er, wie nackte Füße auf dem Boden tapsten und eine Hand tauchte unter der Tischdecke auf. Gilwa starrte die Wand an, blinzelte mehrmals und fragte sich, woher sie kam. War der Drache verschwunden?
Vorsichtig, tauchte Gilwa aus seinem Versteck. Ein dunkelblonder Mann kniete vor dem Tisch, mit blauen Augen, gekleidet mit einem langen, braunen Umhang. Sein Blick sah sanft aus und er lächelte Gilwa an.
»Ich bin Lenius. Kannst du schon sprechen?«
Er schüttelte ganz leicht mit dem Kopf.
»Probier doch mal, die Wärme, die von deiner Bissnarbe herausfließt, von deiner Kehle zurückzuziehen. Als würdest du die Wärme runterschlucken.«
Lenius zeigte auf seinen Hals und schluckte schwer als Beispiel.
Gilwa fühlte in sich hinein. Tatsächlich merkte er nun, wie warm er war. Als würde warmes Wasser durch ihn laufen. Er schluckte tief und fest und starrte dann wieder Lenius an.
»Versuch doch mal, deinen Namen auszusprechen.«
»G-Gilwa.« Gilwa schnappte überrascht nach Luft. »Gilwa«, sagte er etwas lauter.
»Hallo, Gilwa. Weißt du, was hier passiert ist? Haben euch schwarze Drachen angegriffen?«
»Ich ... ich weiß es nicht ...«, sagte er erstickt. »Ich war mit meinen Schwestern im Wald, dann ist ein schwarzer Drache aufgetaucht und ich ... ich ... meine Schwester Elina! Ich finde sie nicht. Und Mama und Papa auch nicht.«
Eine tiefe Falte bildetet sich zwischen Lenius' Augenbrauen.
»Wie alt bist du, Gilwa? Und wie viele Schwestern hast du?«
»Ich bin vier ... und ... und ich habe drei Schwestern. Elina und die anderen beiden ... die anderen beiden habe ich gesehen ...« Gilwas Stimme brach ab und ging in ein lautes Winseln über.
»Leben die anderen beiden noch?«
»Dina ist ... ihr Kopf ...« Gilwa zitterte und ließ den Kopf hängen.
»Es tut mir so leid, Gilwa. Aber vielleicht, finden wir noch deine andere Schwester. Vielleicht sogar deine Mama und deinen Papa. Komm mit mir in den Garten, dort zeige ich dir, wie man sich wieder in einen Menschen verwandelt, dann suchen wir nach deiner Familie. Was hältst du davon?«
Gilwa nickte und folgte Lenius nach draußen.