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2.3 Gilwas Unglück

»Erinnerst du dich noch, wie du die Wärme aus deinem Hals zurückgedrängt hast? Genau das Gleiche musst du mit deinem restlichen Körper machen. Fühl nach der Wärme und dann drückst du sie in die Narbe zurück, dort wo der Drache dich gebissen hat.« Lenius nickte ihm ermutigend zu.

Gilwa warf einen kurzen Blick auf ihre Gemüsebeete, wo große Pfoten die Gurken, Auberginen und Salate zerdrückt hatten, um die sich seine Mutter immer gekümmert hatte. Wenn sie zurückkam, würde sie sehr traurig sein.

Er wollte sie schnell wieder finden. Er presste also die Augen fest zusammen und folgte Lenius' Anweisung. Das warme Rauschen floss durch seinen ganzen Körper. Der Drache hatte ihm am Arm erwischt und Gilwa stellte sich vor, wie diese seltsame, fremde Hitze dort hinein floss.

Zuerst geschah nichts. Aber dann, dann sauste die Wärme von seinem restlichen Körper in den Arm hinein. Seine Beine zogen sich zusammen, seine Haut kribbelte, etwas zog sich in sie hinein und im nächsten Augenblick spürte er eine Brise auf der nackten Haut, die ihm eine Gänsehaut verpasste.

»Sehr gut gemacht!« Lenius beugte sich zu ihm hinunter und lächelte. »Am besten läufst du jetzt schnell in dein Zimmer und ziehst dir etwas an. Schaffst du das alleine?«

Gilwa schüttelte den Kopf. »Ich kann den Hosenknopf nicht alleine zumachen.«

»Ich helfe dir.«

Gilwa führte ihn in sein Zimmer, direkt neben der Küche und nahm etwas Kleidung aus einer Truhe. Nachdem Lenius ihm geholfen hatte, zog er seine eigene Kleidung aus einer Tasche heraus, die unter seinem Umhang versteckt war und zog sich ebenfalls an.

Danach stapften sie wieder nach draußen und folgten den dünnen Pfad, der in den anderen Wald führte, wo Gilwa noch nicht gesucht hatte. Er lief voran und suchte zwischen jedem Baum, hinter jedem Stamm.

»Mama! Papa! Elina!«, rief er laut und immer wieder. Ein furchtbares Gefühl breitete sich in seinem Magen aus und er schlang die Arme um den Bauch. Obwohl er den Wald kannte, ihn auch schon hundertmal alleine erkundet hatte, fühlte er sich gefährlich an. Und gruselig.

»Was ist los? Hast du Bauchweh?«, fragte Lenius und ging auf ein Knie.

Mit zitternder Unterlippe starrte er den blonden Mann an.

»Kann ich ... kann ich deine Hand nehmen?«

»Natürlich!« Lenius erhob sich und hielt ihm die Hand hin. Es half ein wenig gegen das komische Gefühl im Bauch. Doch der Wald fühlte sich immer noch viel größer und dunkler an. Alles war still. Er hörte noch nicht mal Vogelgesang. Gilwa wünschte, sein Hund wäre hier, der ihn so häufig in den Wald begleitet hatte.

Als er an die dunklen, glänzenden Augen von Rabe dachte, quollen Tränen aus seinen Augen. Schniefend wischte er sie weg, weil er nicht weinen, sondern nach seiner Familie suchen wollte, doch der Druck in seiner Kehle und das Brennen in seinen Augen, ließ sich nicht weg reiben oder wegschlucken. Immer mehr Tränen tropften von seinen Wangen herab. Ein lautes Schluchzen schlüpft aus seinem Mund.

Lenius hielt an und ging in die Hocke, ohne seine Hand loszulassen.

»Ganz ruhig, ganz ruhig. Ich bin da, ich lass dich nicht allein.«

Gilwa wimmerte, wischte sich mit dem Hemdsärmel über die Augen und versuchte wieder sein Schluchzen hinunterzuschlucken, doch es klappte nicht, es tat nur weh und sein Wimmern wurde lauter.

»Ach, Kleiner.« Lenius streichelte seine Schulter. »Es tut mir so leid, ich kann verstehen, dass es dir zu viel ist. Wein dich nur aus. Magst du eine Umarmung?«

Statt ihm zu antworten, warf Gilwa sich an seine Brust und schluchzte in seine Schulter hinein. Zwei kräftige Arme legten sich um ihn. Sie drückten ihn genau richtig, nicht zu fest, nicht zu schwach. Genauso, wie sein Vater ihn auch immer umarmte. Lenius schirmte ihm von dem Wald ab, der sich heute so fremd anfühlte und drückte gegen das dunkle Gefühl an, das sich in Gilwa ausbreitete.

Lenius hielt ihn fest, bis Gilwas Schluchzen weniger wurde. Dann holte er ein Tuch aus seiner Hosentasche heraus und drückte es ihm vorsichtig an die Nase.

Gilwa schnäuzte hinein, einmal, dann nochmal, etwas kräftiger. Lenius faltete das Taschentuch und wischte ihm vorsichtig die Nase.

»Sollen wir weiter suchen?«

Gilwa blickte in die blauen Augen, die ihn warm anschauten und nickte. Hand in Hand suchten sie weiter den Wald ab. Zunächst zog er den jungen Mann mit sich mit, doch dann drückte Lenius einmal ganz sanft seine Hand und zog ihn mit nach links, den Blick immer auf bestimmte Stellen auf dem Boden, oder an den Ästen gerichtet, als hätte er etwas gefunden. Er lief weiter, immer schneller, bis Gilwa neben ihm laufen musste, um mitzuhalten. Dann hielt Lenius an und starrte mit großen Augen auf etwas vor ihnen. Gilwa folgte seinem Blick, doch er konnte nichts und niemanden finden. Er sah nur Bäume und Büsche.

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Lenius hockte sich hin, mit gerunzelten Augenbrauen. »Gilwa, ich denke, es ist besser, wenn ich dich in meinen Armen trage, in Ordnung?«

Angst drückte in seiner Brust, doch er nickte und schlang die Arme um seinen Hals.

Mit leisen Schritten, bewegte Lenius sich weiter durch den Wald, eine Hand auf Gilwas Hinterkopf gelegt, sodass er nicht denn Kopf nach hinten umdrehen konnte. Gilwa konnte nur auf den Weg starren, den sie hinter sich ließen, bis er ein seltsames Geräusch hörte. Ein leises Brummen begleitet von Schmatzen. Er wollte nachsehen, was es war, doch Lenius drückte ihn zurück auf seine Schultern.

»Nicht. Schau nicht hin«, flüsterte er.

Lenius ging weiter, doch so langsam und vorsichtig, dass man ihn kaum hören konnte. Mit jedem Schritt, schlug Gilwas Herz schneller. Er spürte auch Lenius' Schlag, der heftig gegen seinen Körper donnerte. Dann hielten sie an, das Brummen und Schmatzen verstummte und alles, was Gilwa hörte, war das Pochen in seinen Ohren.

Ein Biest fing an zu knurren, direkt vor ihnen. Aus Lenius' Hals kam sofort ein Grollen heraus. Tief, heiser und so laut, dass nicht nur sein Körper, sondern auch Gilwas vibrierte.

Er wandte sich, um zu sehen, was los war, doch Lenius ließ ihn nicht los und sein Griff war eisern. Was stand da vor ihnen? Warum knurrte er? Und zwar immer lauter, bis er das andere Tier übertönte.

Lenius trat stampfend einen Schritt nach vorne, das andere Tier verstummte und ein starker Geruch umwehte Gilwas Nase. Scharf, leicht modrig. Es roch nach Gefahr. Die Schärfe nahm immer mehr zu, schien direkt aus Lenius' Körper zu strömen, der immer wärmer würde.

Jetzt wurde das Gebrülle so laut, dass Gilwa sich die Ohren zuhalten musste. Dumpf hörte er noch ein Winseln, das jedoch schnell verschwand.

Endlich wurde Lenius leise und Gilwa nahm vorsichtig die Hände von den Ohren. Die Hitze in Lenius klang ab, auch die Schärfe verschwand aus der Luft und der junge Mann ging ein paar zögerliche Schritte weiter. Ein anderer Geruch kam nun auf. Es roch nach Eisen. Gilwa kannte den Geruch. Er hatte ihm im Dorf gerochen, von den ganzen toten Menschen. Er schlang die Arme wieder um Lenius' Hals.

»Gilwa. Was hatte deine Mutter heute an?«

»Ein hellbraunes Kleid«, wisperte er.

»Rote Haare?«

Gilwa nickte und hob vorsichtig den Kopf. Sofort drückte Lenius ihn wieder auf seine Schulter.

»Und deine Schwester? Hatte sie braune Haare, so wie du und das gleiche Kleid wie deine Mutter?«

Wieder pochte es in Gilwas Ohren als er nickte. Er drückte mit dem Kopf gegen Lenius' Hand an, wollte sich von seinen Armen lösen und stemmte die Hände gegen die breite Brust.

Lenius fiel auf die Knie und zwängte Gilwa mit seinen Armen ein.

»Nein, nein. Nicht schauen. Du darfst nicht schauen. Vertrau mir, sieh nicht hin.«

Er kämpfte weiter gegen den Griff an, drückte, wandte sich, doch Lenius ließ ihn nicht los. Er blieb auf den Knien, ohne etwas zu sagen. Seine Hände zitterten. Gilwa traute sich nicht zu fragen, was vor ihnen lag.

Später saß Gilwa alleine auf seinem Bett und drückte seine Hände gegen die Brust. Ein Versuch, um das finstere Gefühl loszuwerden, oder zumindest die Schmerzen, die dort waren. Er wollte nicht alleine sein. Er wollte bei seiner Mama, bei seinem Papa sein. Gilwa war sich sicher, dass Lenius und die anderen Männer sie gefunden hatten. Doch er verstand nicht genau, warum er sie nicht sehen durfte. Es war egal, wie sehr sie verletzt waren. Er wollte sie einfach nur endlich sehen.

Er hörte Schritte und sprang vom Bett auf, ehe Lenius die Tür öffnete.

»Kann ich sie sehen?« Gilwa lief zu ihm, griff nach einem Hosenbein und starrte hinauf in die traurigen Augen. Lenius seufzte und kniete sich vor ihm hin.

»Gilwa, ich habe deine Familie gefunden. Aber ... du kannst sie leider nicht mehr sehen.«

Sein Magen krampfte sich zusammen und Gilwa wich mit zitternden Beinen zurück. »Warum?«

Lenius seufzte wieder, seine Augen glänzten, sein Gesicht zuckte zusammen, als hätte er Schmerzen.

»Ich ... Deine Familie ...« Lenius lehnte die Stirn auf seinen Oberarm und griff nach den blonden Haaren. »Deine Eltern und deine Schwestern wurden ganz schlimm von den wilden Drachen verletzt. So schlimm, dass wir leider nichts mehr für sie tun können. Es tut mir so leid, Gilwa. Aber sie werden nie mehr wieder aufwachen. Verstehst du, was ich meine?« Lenius löste sich von seinem Arm und starrte den Boden an.

Alles verschwamm vor Gilwas Augen. Nie mehr wieder aufwachen. Meinte er genau wie Alros Großmutter, die letzte Woche eingeschlafen und dann nicht mehr aufgewacht war? Und dann unter der Erde vergraben worden war? Gilwas Knie wurden weich, er ging rückwärts auf das Bett zu, bis der Bettrahmen gegen seine Waden stieß. Nie mehr wieder aufwachen. Das hieß, dass er jetzt alleine war? Ganz allein? Er würde sie nie wieder sehen? Nie wieder sprechen können?

Mit zitterndem Kinn sah er zu Lenius auf.

»Nie wieder?«, fragte er mit einem Kloß im Hals.

Lenius schüttelte den Kopf.

»Ich bin jetzt ganz allein?« Tränen sammelten sich in seinen Augen und Gilwa drückte die Lippen aufeinander.

»Deine Eltern können sich jetzt leider nicht mehr um dich kümmern. Deine Schwestern auch nicht. Aber vielleicht hast du ja irgendwo noch ...«

Gilwas riss den Mund auf und heulte. Lang und laut. Tränen flossen unaufhörlich von seinen Augen, platschten zu Boden. Die Nase war bald zu und er weinte so heftig, dass er es kaum schaffte nach Luft zu schnappen, zwischen einem Wimmern und dem nächsten.

Er war allein. Ganz allein.

Große Arme schlangen sich um ihn. Lenius drückte ihn fest, legte seine Wange auf Gilwas Kopf.

»Es tut mir so leid. So leid. Ich weiß, dass es sich ganz schrecklich anfühlt. Aber ich lasse dich jetzt nicht alleine, ich verspreche es. Meine Männer kümmern sich gerade um die Dorfbewohner. Sie machen Gräber für sie. Und für deine Familie, machen wir ein ganz großes, damit sie alle zusammen sind. Später bringe ich dich hin und dann verabschieden wir uns von ihnen. Wir suchen nach der größten und schönsten Kerze, die wir in das Grab stecken.«

Nur dumpf nahm Gilwa die Worte war. Sein Heulen war zu laut. Die Schmerzen in seinem Hals und die Hitze in seinem Kopf zu stark. Er spürte noch nicht einmal die Arme, die ihn festhielten. Es gab nur noch seine schmerzende Brust, die brennenden Augen und das schreckliche Gefühl, dass er nun allein war und keine Eltern und keine Schwestern mehr hatte.