Lenius trug ihn nach draußen in den Garten. Erschöpft, mit nassen Augen und verstopfter Nase lehnte Gilwa an seiner Brust. Mehrere Männer standen zwischen den Gemüsebeeten, um einen Erdhaufen, in dem eine flackernde Kerze steckte, dort wo er am höchsten war.
Lenius ging an dem Grab vorbei zu den Blumenbeeten, die vor dem Zaun auf der anderen Seite des Gartens wuchsen. Weiße, gelbe und rote Blumen, von denen Gilwa die Namen nicht mehr wusste. Dabei hatte seine Mutter ihm sie erst gestern wieder gesagt. Neue Tränen quollen aus seinen Augen heraus, doch er gab keinen Mucks von sich. Lenius setzte ihn ab, doch sein Körper war so schwer, dass Gilwa kaum auf den eigenen Füßen stehen konnte. Schnell legte Lenius die Hände um seine kleinen Arme, um ihn zu halten.
»Magst du ein paar Blumen suchen? Für deine Familie?«
Ohne zu nicken, ohne etwas zu sagen, starrte Gilwa die Blumen an, die sanft in der Brise wogen. Er blinkte, dann griff er nach Lenius' Hosenbein und hielt sich an dem dicken Leinenstoff fest.
Lenius seufzte durch die Nase, dann hob ihn wieder hoch und ging durch die Beete.
»Magst du die hier haben? Eine weiße Lilie?«
Gilwa schmiegte sich an den dunkelblonden, schulterlangen Haaren, die seinen Hals bedeckten und nickte. Die Lilien hatte seine Mama in den letzten Tagen besonders oft auf den Küchentisch in einen Tonkrug gestellt.
Mit einem Arm hielt Lenius Gilwa an seiner Seite, um mit der freien Hand einen Strauß Lilien zu pflücken. Dann gingen sie zurück zu dem Grab, wo die anderen jungen Männer mit traurigen Blicken standen.
Gilwa wollte nicht von Lenius loskommen, doch er musste mit eigenen Füßen zum Grab laufen und die Blumen legen. Das sagte Gilwas Gefühl zu ihm. Tränen rollten seine Wangen hinab, als Lenius ihm die Blumen überreichte. Er stieß ein langgezogenes Wimmern zwischen den geschlossenen Lippen heraus, das Herz brannte vor Schmerzen und er hätte die Blumen am liebsten wieder losgelassen. Doch Lenius legte seine Hand auf seinen Rücken und nickte Gilwa ermutigend zu. Das Grab würde nicht schön ohne die Blumen aussehen. Also ging er mit einem riesigen Kloß im Hals auf den kleinen Hügel zu. Er zupfte einen Blumenkopf nach dem anderen von den Stängeln ab und verteilte sie rund um die Kerze.
Gilwa bemühte sich, keinen Laut von sich zu geben, konnte jedoch ein leises Schniefen nicht unterdrückten, während seine Tränen immer zahlreicher zu Boden tropften. Behutsam legte er einen Kreis aus Blumen um die Kerze und hastete zurück zu Lenius, um sich am Saum seines Hemds festzuhalten.
Ein anderer junger Mann, mit vielen Sommersprossen auf der Nase und dunklen Haaren, trat auf das Grab zu.
»Unsere Leben sind wie die Flammen einer Kerze und werden alle irgendwann erlöschen. Doch unser Blut lebt weiter in unseren Familien, ihre Erinnerungen, halten uns lebendig.« Dann pustete er die Kerze aus. Blicke hoben sich, als ein Drache aus dem Wald gelaufen kam. Er sprang, schwebte über den Gartenzaun und landete neben dem Grab.
»Lenius, die Überlebenden des Dorfs kehren zurück. Wir müssen verschwinden.«
Erschrocken sah Gilwa zu seinem neuen Freund hoch. »Gehen? Wo geht ihr hin?«
Während die anderen hektisch umherliefen, sich hinter den Häusern versteckten, um sich zu verwandeln, fand Gilwa sich wieder in Lenius' Arm, der dem Jungen tief in die Augen sah.
»Kleiner, du bist jetzt ein Drache. Hier ist es nicht sicher für dich. Wenn die anderen Dorfeinwohner herausfinden, was du geworden bist, könnte dein Leben in Gefahr sein. Hast du deine Tasche gepackt?«
Er krallte sich an Lenius' Kragen fest und nickte. Während die anderen das Grab vorbereitet hatten, hatte Gilwa eine Tasche mit ein etwas Kleidung und einem Stoffbären vollgestopft.
Lenius lief mit ihm zurück ins Haus und drängte den Jungen, die Tasche zu holen.
»Nimmst du mich mit?«, fragte Gilwa.
»Ja, ich bringe dich hier weg und versuche, einen sicheren Ort für dich zu finden. Versprochen.«
Sobald beide wieder draußen standen, ging Lenius um das Haus und wenig später, tauchte ein riesiger, weißer Drachenkopf hinter dem Dach hervor.
Er schwebte dicht über den Boden zu Gilwa und streckte seine Pfoten nach ihm aus. Mit einem Wimmern stolperte er zurück.
»Keine Angst. Meine Pfoten sind weich und meine Krallen werden dich nicht verletzen. Hüpf' rein und mach es dir dort gemütlich.«
Wie eine Schaufel hielt er ihm die riesige Pfote entgegen, die langen, fingerähnlichen Glieder eng zusammen gedrückt. Gilwa stieg in die weiche Kuhle hinein und setzte sich hin. Dann schloss Lenius leicht seine Pfote und hob ab. Gilwas Magen plumpste nach unten, trotzdem krabbelte er zu der Lücke, zwischen Lenius' Finger und Pfotenfläche, und blickte nach unten auf sein Dorf, das immer kleiner wurde, während die restliche Umgebung sich immer mehr vor ihm ausbreitete, die Wiesen, Wälder und Berge immer zahlreicher wurden. Und für einen kurzen Augenblick, vergaß er den Kloß im Hals und saugte das Wunder ein, dass sich unter ihnen entfaltete.
–
Lenius brachte ihn in eine Burg, in der viele junge Männer lebten. Sie war halb zerfallen, es stand nur noch ein Turm, doch das nahm nichts von Gilwas Staunen. Lenius setzte ihn mitten im riesigen Hof ab, größer als der Hauptplatz in ihrem Dorf. Die Burgmauern erhoben sich höher als die alten Eichen in ihrem Wald und er fand so viele Fensterreihen, dass er sie mit seinen Händen nicht abzählen konnte. Lenius führte ihn durch eine Tür, in einen langen Flur hinein, wo die dünne Fenster Lichtstrahlen auf die verputzten Wände warfen. Der alte, abgenutzte Holzboden unter ihren Füßen knarrte laut, während sie eine breite Wendeltreppe hinaufstiegen.
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Die ganze Zeit hielt Gilwa Lenius' Zeige- und Mittelfinger fest. Fremde Männer gingen durch die Gänge, stiegen die breiten Wendeltreppe auf und ab, sahen Gilwa neugierig an, doch sagten nichts. Lenius brachte ihn in den zweiten Stock, in eine Schlafkammer die nach nassem Staub roch. Der Steinboden fühlte sich selbst durch Gilwas Schuhe kalt an. Es gab einen Schrank und ein unbezogenes Bett, auf das Lenius sich setzte.
Gilwa stellte seine Tasche neben dem Bett ab und kletterte auf die Matratze und setzte sich dicht neben Lenius hin, bis er sich leicht an seinen Arm anlehnen konnte. Er seufzte schwer, so schwer, wie seine Brust sich anfühlte. Doch das Seufzen brachte keine Erleichterung, nur ein schmerzvolles Ziehen.
»Gilwa, hast du irgendwo noch Verwandte, die am Leben sind? Großeltern, Onkel oder Tanten, die dich aufnehmen könnten?«
»Ich kenne einen Onkel. Er wohnt in der Stadt.«
»Weißt du in welcher?«
Er schüttelte den Kopf, da kam eine Erinnerung in ihm hoch. Er schnappte nach Luft und packte nach Lenius' Arm.
»Mein Onkel, er ist ein Drachenjäger! Wird er mich töten? Muss ich auch sterben?«, wimmerte Gilwa.
Lenius hielt inne, öffnete leicht den Mund und schien zu überlegen. Schließlich legte er seine Hand auf Gilwas Kopf und streichelte seine Haare.
»Das würde er wahrscheinlich niemals tun. Doch es wäre trotzdem gefährlich für dich und für ihn, wenn du in der Stadt lebst.«
Gilwa lehnte sich mit den Händen auf Lenius' Schoß ums sich so weit hoch zu seinem Gesicht zu strecken, wie möglich. »Kann ich bitte hierbleiben? Bitte, bitte? Ich will nicht sterben! Und ich mag meinen Onkel nicht.«
Er wollte nicht in die Stadt. Er wollte nicht zu seinem Onkel, der ihm immer viel zu kräftige Klapse auf dem Rücken gab und seine Schwestern mit Blicken bewarf, die Gilwa nicht mochte. Er war kein netter Mann. Und seine Frau war auch nicht nett. Sie hatte sich ständig mit seiner Mama gestritten.
Lenius antwortete ihm nicht, sondern blickte die Wand an. Doch sein Blick war ganz starr, als würde er etwas anderes anschauen.
Gilwa presste die gefalteten Hände über sein wummerndes Herz. Wenn Lenius ihn nicht bei sich behielt, was würde aus ihm werden? Würde er alleine im Wald wohnen müssen? Wie alle anderen Tiere? Aber was würde er essen? Und wer würde ihn baden? Er konnte sich noch nicht alleine waschen. Wer würde mit ihm spielen?
Die tobenden Fragen pressten immer mehr Luft aus ihm heraus, bis er so wenig Luft bekam, dass er anfing zu keuchen.
Lenius blinzelte mit den Augen, sah ihn endlich an und zog ihn mit einem Arm an sich heran.
»Ganz ruhig, ganz ruhig. Alles wird gut.« Lenius streichelte seinen Rücken. »Bist du sicher, dass du hier bleiben willst?«
Gilwa nickte eifrig. »Ich bin auch brav! Versprochen! Ich esse auch mein ganzes Gemüse und helfe beim Abwaschen! Das kann ich schon!«
Lenius war nett. Lenius hatte ihm geholfen, sich wieder zurückzuverwandeln und er konnte gut umarmen. Wenn er bei ihm war, fühlte Gilwa sich nicht ganz so allein.
»Dann kannst du gerne bleiben. Ich passe auf dich auf, so gut ich kann.«
Gilwa presste seinen Kopf an Lenius' Bauch und atmete tief aus.
–
Es war Nacht. Gilwa lag allein in dem riesigen Bett, bedeckt mit einer kratzenden Decke, die genauso kalt war wie der Raum. Weit und breit, war kein Licht zu sehen, weil er sich nicht getraut hatte, Lenius um eine Kerze zu bitten. Die Fensterläden knarrten viel lauter, als er es gewohnt war und immer wieder hörte er ein Geräusch, ein Klappern, ein Rauschen, ein Poltern, das er nicht kannte und jedes Mal fuhr er hoch und sah sich mit lautem Herzklopfen im Zimmer um.
Der Druck in seiner Brust und in seinem Hals wurde mit jedem Schreck schlimmer, bis Gilwa die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
Schluchzend drückte er die Hände auf seine Augen. Er mochte das Zimmer nicht. Er wollte seine Mama, seinen Papa, Elina, Dina und Neli. Er wollte Rabe. Doch sie waren weg. Sie waren alle weg und er war noch da. Er hätte mit ihnen sterben sollen. Er war ein ganz schlechter Junge. Seinetwegen war Elina gestorben. Weil sie ihn beschützt hatte. Hätte sie sich ebenfalls versteckt, dann wäre das vielleicht nicht passiert. Und seine Eltern wären sicher auch noch am Leben. Doch Dina und Neli ... würde er irgendwann das Gleiche als Drache tun? Andere Kindern den Kopf abreisen? Die Vorstellung ließ ihn laut aufheulen.
Wenig später klapperte seine Tür. Gilwa hielt inne und bewegte sich nicht, selbst sein Schluchzen erstarb in seinem Hals. Mit einem langsamen Knarren ging die Tür auf. Zwei gelbe Augen leuchteten in der Dunkelheit auf und Gilwa schnappte erschrocken nach der Decke.
»Gilwa?«, wisperte Lenius.
Sofort sprang der Junge aus dem Bett und rannte schluchzend in Richtung der Stimme. Zwei starke Arme fingen ihn auf und hoben ihm vom kalten Boden. Gilwa schlang die Arme um den warmen Hals und wimmerte.
»Alles ist gut, alles ist gut. Ich bin da.« Lenius schritt auf das Bett zu und wollte Gilwa dort ablegen, doch der Junge klammerte sich mit ganzer Kraft an ihm fest. Er wollte nicht. Bloß nicht wieder einsam in dem fremden Bett liegen.
»Soll ich in neben dir schlafen? Würde das helfen?«
Gilwa nickte schluchzend und schniefend. Als er merkte, dass Lenius die Bettdecke nahm und sich hinlegte, löste er seine Arme von seinem Nacken und drängte sich an ihm heran, nahe an der Brust, sodass er Lenius' Herzschlag auf der Stirn spüren konnte.
»Morgen zeige ich dir, wie man fliegt. Du wirst sehen, das macht richtig viel Spaß und ist ganz leicht. Wir können zu dem Wasserfall fliegen, der ist nicht weit von hier. Der See dort ist so klar, dass man alle Fische bis hinunter in den Grund zählen kann. Es gibt auch eine Steppe mit Wildpferden, ganz in der Nähe.«
Lenius erzählte ihm von dem Wald, welche Tiere er dort schon entdeckt hatte. Dass einer seiner Männer einen richtig guten Eintopf kochen konnte. Dass er Gilwa helfen würde, sich in einen weißen Drachen zu verwandeln, genauso wie er selbst. Mit jedem Wort, lösten sich Gilwas ängstliche Gedanken auf, sein Schluchzen wurde leiser, bis es ganz verschwand. Seine Lider wurden schwer und er verstand immer weniger von Lenius' Erzählung. Als Lenius seinen Arm um ihn legte, seufzte Gilwa und ließ die Augen zufallen und kein Klappern, kein noch so lauter Windruf konnte ihn in der Nacht aufwecken.
ENDE