30.09.2024, 07:45 Uhr, Steinfurt
Voller Vorfreude betrat ich den Hörsahl. Hier würde also meine allererste Vorlesung stattfinden, Statik, endlich mal was cooles! Auf die meisten Fächer in der Schule hatte ich herzlich wenig Lust gehabt, was sich auch in meinem Abischnitt von 3,0 wiederspiegelte, ich war sogar einmal sitzengeblieben. Aber Maschinenbau hatte ja zum Glück keinen NC. Und außerdem war es auch auf einer weiteren Ebene ein Neuanfang. Für sie bin ich warscheinlich nur ein ganz normaler Typ, dachte ich, als ich mich setzte und mich unter den anderen Studierenden umsah. Auf dem Gymnasium war das ja leider zu oft anders gewesen. Damals in der neunten Klasse, als ich mich endlich getraut hatte, den Mund aufzumachen und zu äußern, dass ich Eric bin, und nicht Emily, mein Gott, was für ein Chaos da ausgebrochen ist… wie sehr mich manche dafür abgefeiert haben! Dadurch hatten andere geglaubt, ich täte das nur für die Aufmerksamkeit. Wieder andere waren mir angekommen mit „du willst doch nur keine Lesbe sein“ (dabei steh ich nichtmal auf Frauen) und „du willst doch nur Male Privilege“, diese Spinner! Selbst im Lehrerzimmer wurde sich darüber gestritten. Nur zu gut erinnere mich zum Beispiel an Frau Blöker. Ich hatte Religion bei ihr, da hatte ich mir schon denken können, was ihr Problem war. Der Schulleiter hatte das zum Glück anders gesehen. Aber naja, das war ja schon eine Weile her. Mittlerweile stand der Name Eric sogar in meinem Ausweis. „Hey du“, riss mich eine Stimme aus meinen Gedanken, „ich setz mich mal zu dir, ja?“ Ich drehte mich nach links. Ein Mädchen setzte sich neben mich. „Ich heiße Fatima, du?“ „Eric“, antwortete ich und lächelte. Fatima sah sich um. „Bin ich wohl die einzige Frau hier, aber egal. Ich werd schon klar kommen. Wollen wir vielleicht in Zukunft zusammen lernen?“ „Ja klar, gerne“, erwiderte ich, „und wie sieht’s aus mit Mensa gleich?“ „Bin dabei!“, sagte Fatima, während sie ihren Laptop auspackte. Als ich den Progress Flag Sticker darauf bemerkte, musste ich ein bisschen schmunzeln. „Kommst du von hier?“, fragte sie. Ich entgegnete: „“Ja, ist schon irgendwie praktisch, dass ich zuhause wohnen bleiben kann, brauch ich keine Miete zahlen.“ „Da hast du Glück, dass du mit deinen Eltern gut klar kommst“, meinte sie, „Ich habe das Studium als Grund genommen, von Potsdam hierher zu ziehen.“ „Das ist aber weit!“ „ Ja, aber das war’s sowas von wert. Meine Eltern sind sowas von altmodisch! Die waren sogar dagegen, dass ich was Technisches machen will, nur weil ich eine Frau bin.“ „Puh, die leben ja echt noch in der Vergangenheit“, sagte ich. Auf einmal ging die Tür auf und der Professor kam rein. Demenstsprechend leise wurde es im Saal. Intensiv musterte ich den Mann. Er sah aus, als würde es Spaß machen, ihn zu zeichnen. Unsere Blicke trafen sich kurz und ich bekam eine leichte Gänsehaut. Seine Augen machten irgendwas mit mir. Komisch. „Guten Tag, meine Damen und Herren! Willkommen zur ersten Vorlesung des Grundlagenmoduls Statik“, begann er mit einem leichten Lächeln. Seine Stimme füllte scheinbar mühelos den großen Raum, auch ohne Mikrofon. „Erst einmal ein paar Worte zu meiner Person, bevor ich ihnen die Inhalte dieser Veranstaltung vorstelle“, fuhr er fort, „Mein Name ist Dr. Kinger und leite das Labor für technische Mechanik und Elektrotechnik.“ Kinger… Der Name kam mir bekannt vor… „Wie für viele von Ihnen ist das auch mein erstes Semester an dieser Fachhochschule. Vorher habe ich in Hamburg unterrichtet.“ Auf einmal fiel mir wieder das Pergament ein, das mir vor Jahren mal ein Museumsmitarbeiter gezeigt hatte. Da kam auch ein Herr Dr. Kinger vor… Und diese Zeichnungen, die aussahen wie meine... Aber das war bestimmt nur ein wahnsinniger Zufall. Der Mann hatte sich doch bestimmt nur einen gut geplanten Spaß gemacht. Oder? War ein solcher Zufall wirklich möglich? Auch wenn das dumm klang, vielleicht sollte ich dem Museum nochmal einen Besuch abstatten… Erst einmal hörte ich Kingers Einführung zu, ich hing regelrecht an seinen Lippen. Seine Art war einfach fesselnd und ich merkte gar nicht, wie die Zeit verging. „Wenn keine Fragen mehr sind, wär’s das auch von meiner Seite aus. Dann geht es nächsten Montag richtig los“ beendete Kinger seine Vorlesung und alle packten ihre Sachen. „War vorhin alles gut bei dir? Du hast so neben der Spur gewirkt“, fragte Fatima. „Ja, ja, alles okay. Ich war nur ein bisschen in Gedanken“, beschwichtigte ich sie. Sie würde mich doch für verrückt halten, wenn ich ihr von dem Pergament erzählte. „Lass uns in die Mensa gehen.“ Sie nickte zustimmend, also gingen wir los. Nachdem wir uns hingesetzt hatten, sie mit ihren Nudeln und ich mit meinem Schnitzel, meinte sie: „Dieser Dr. Kinger scheint ein korrekter Typ zu sein.“ „Da geb ich dir recht. Statik wird bestimmt Spaß machen, wobei die Klausur es in sich haben könnte.“ „Mit einer vernünftigen Vorbereitung sollte das aber zu schaffen sein.“ Wir unterhielten uns noch eine Weile. Ich erfuhr, dass sie einen schwarzen Gürtel in Karate hatte und leidenschaftlich gerne Dudelsack spielte. Von letzterem spielte sie mir sogar ein Video vor. Sie war echt talentiert. Im Gegenzug zeigte ich ihr meine Zeichnungen. „Tja, ich muss noch einkaufen.“ Mit diesen Worten stand Fatima irgendwann auf. „Ich würd mal sagen, wir sehen uns morgen in Mathe.“ „Genau“, bestätigte ich, „Bis morgen!“, dann verließen wir die Mensa und gingen getrennte Wege.
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