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Wie wir lebten

Was mich immer wieder überraschte war, mit wie viel Tiefgang und Detail Steve malen konnte. Wenn er sich konzentrierte und an schwarz-weiß hielt, fiel das auch anderen positiv auf. Er hatte damals Kunst studieren wollen, um zu verstehen wie andere Menschen die Welt sehen, und wie er lernen könnte sie auch so wahr zu nehmen. Stattdessen hatten wir einen wunderbaren Professor, der Steve erklärt hat, dass es gerade das Vorrecht der Künstler sei, die Welt anders zu sehen als alle anderen. Das tat Steves Selbstbewusstsein gut. Und ich fand seine Bilder immer schon interessant, auch wenn die Formen mal verschwommen oder die Farben nicht stimmig waren. So ergab sich einfach ein neuer Blickwinkel. Aber die meisten Leute verstanden das nicht.

Einmal hat Steve eines seiner Bilder für den Kirchenbasar gespendet, ein Stillleben, ganz klassisch, eine Schale mit Obst auf einem Tisch mit einer Vase daneben. Es tat mir weh zu hören, wie sich gerade junge Männer in unserem Alter darüber echauffierten, dass ja die Objekte ineinander über gingen und es doch keine türkisgrünen Äpfel gäbe und was noch alles. Ein Arschloch sagte sogar, das sei entartete Kunst. Ich hab ihm später draußen meine Meinung dazu gezeigt. Steve war recht traurig darüber, dass sein Werk so wenig anklang fand, bis endlich eine ältere Britin das Bild gekauft hat und jedem der es hören oder auch nicht hören wollte sagte, dass genau so etwas in England jetzt modern sei. Ich hab ihr danach das Geld wieder gegeben und das Bild in eine Decke gewickelt auf dem kleinen Dachboden versteckt.

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Unser Leben verlief ansonsten recht ruhig und geregelt. Wir teilten uns die Aufgaben im Haus so gut es ging, auch wenn ich meist die schweren Sachen übernahm, wie Renovierungsarbeiten, oder Holzhacken. Oder Strom. Das lag zwar nicht daran, dass es schwer war sich um die Kabel zu kümmern, und Steve fand auch ich übertrieb, aber es gab mal einen Zwischenfall nach dem ich ihm einfach verbat, wieder am Strom zu arbeiten. Ich war gerade dabei eine Wand in der Küche neu zu Fliesen, als ich ihn schreien hörte. Ich hab sofort alles fallen lassen, eine Fliese ging dabei zu Bruch, und bin zu ihm gerannt. Er lag in seinem Zimmer auf dem Boden und hielt die Faust an den Körper gepresst. „Verdammter Mist.“, fluchte er. Neben ihm lagen ein Schraubenzieher, Kabel und die Abdeckung einer Steckdose. Er hatte versucht, die Dose für seine Nachttischlampe wieder ordentlich in die Wand zu montieren, weil sie etwas schief in den Raum hing, seit wir sein Bett neu ausgerichtet hatten und dagegen gekommen waren. Ich trat direkt die Kabel bei Seite und bin runter zu ihm auf die Knie gegangen. Ich fragte sofort: „Was ist passiert Stevie?“ „Mist.“, schnaufte er, „Ich hab eine gewischt gekriegt!“

Das blöde an unserem Haus war, vieles war schon älter und nicht unbedingt von Profis errichtet worden. Auch die Sicherungen passten nicht immer zu allen Anschlüssen, die es in einem Zimmer gab. Zum Beispiel gehörte meine Zimmerlampe zur Sicherung für das Badezimmer und eine der Küchensteckdosen war mit der Lampe auf der Terrasse verbunden. Und nun stellte sich also raus, dass die Steckdose an Steves Bett eben auch nicht zur Sicherung für sein Zimmer gehörte. Ich hatte direkt Panik, denn ich wusste, dass ein Stromschlag den Herzrhythmus stören kann und Steves Herz war ohnehin schwach und gefährdet.

Ich hab also sein Hemd auf gerissen und mein Ohr an seine Brust gepresst, um zu hören, ob es vielleicht außer Takt schlug. Steve hat sich erschrocken, er rief geschockt: „Bucky, was tust du denn da??“ Ich legte den Finger an den Mund und zischte: „Schsch! Bleib ruhig! Ich muss hören, ob alles in Ordnung ist!“ Ich hielt ihn mit meinem rechten Arm fest, die Hand an seinem Rücken, quasi genau hinter seinem Herz, während ich mit der linken versuchte, meinen eigenen Puls zu fühlen, um vergleichen zu können. Nun war ich wegen meiner Sorge um Steve etwas aufgeregt, also war es normal, dass mein Herz etwas schneller geschlagen hat. Ich war jedoch auch viel fitter als Steve und so hätte sein Herz in jedem Fall höchstens so viel schlagen dürfen wie meines. Aber es war schneller! Viel schneller!

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Es klang, als ob es jederzeit zerspringen könnte und ich bekam richtig Angst um ihn. Ich hielt ihn noch fester und lauschte, doch es schien immer schlimmer zu werden. Als ich kurz hoch sah, weil ich meinte ihn schnauben zu hören, musste ich feststellen, dass sein Gesicht und seine Brust ganz rot waren. „Oh nein, Stevie! Hast du grad wieder nen Anfall?“, fragte ich panisch. Er sah mich mit großen Augen an und stammelte: „N-nein, nein es ist alles gut, wirklich!“ „Lüg doch nicht, dein Herz schlägt wie verrückt und du keuchst! Ich rufe den Arzt!“, bestimmte ich, doch er hielt mich fest: „Nein warte Bucky, bitte! Bitte, gib mir bloß ne Minute, es ist nichts, ich schwöre!“ Er wollte nicht, dass ich den Arzt rufe. Ich kam mit Dr. Murdock sehr gut aus, da ich wegen einer Kriegsverletzung am linken Arm öfter hin musste, und konnte nicht verstehen, warum Steve ihn nicht mochte. Das habe ich erst viel, viel später verstanden. Und dann mochte ich ihn auch nicht mehr.

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Einmal, zu Steves Geburtstag, hab ich ihm ein besonderes Geschenk mitgebracht. Eigentlich hatten wir vor gehabt ein paar Tage weg zu fahren, einfach ins Blaue, mit meinem Motorrad. Aber dann bekam er wieder mal Kopfschmerzen und wollte lieber in Ruhe zu Hause bleiben. Also war ich in der Stadt und suchte nach etwas, was ihn aufmuntern und ihm trotzdem ein wenig Abwechslung bieten könnte. Da bemerkte ich, wie sich ein Typ in einer Gasse an der Regentonne zu schaffen machte. Er hatte einen Beutel dabei und wollte den in die Tonne werfen, doch der Beutel bewegte sich! „Hey, was machen Sie da?“, rief ich also alarmiert. Der Kerl zuckte zwar zusammen, verteidigte sich jedoch als sei es das Normalste auf der Welt mit: „Bloß ne Katze ersäufen! Das Vieh is nicht gesund!“ Ich war gleich bei ihm und forderte: „Wieso, was stimmt denn nicht damit? Zeigen Sie mal her!“ Der Typ wollte zwar was erwidern, aber als ich ihm dann gegenüber stand, hat er doch einfach wortlos den Beutel auf geschnürt.

Er ließ mich rein gucken und ich versetzte wütend: „Das is ja noch ein Baby!“ Aber er meinte schlicht: „Ja. Ich bin eigentlich auch nicht jemand, der einfach die Kätzchen kaputt macht, aber das hier wird nix mehr! Die andern aus dem Wurf sind richtig schön geworden, groß und kräftig, tapsen schon herum! Aber das hat nicht mal die Augen auf! Schon seit vier Tagen sind die andern alle fertig, nur mit dem stimmt etwas nicht! Da mach ich's besser weg! Wenn Sie ne Katze brauchen, kann ich Ihnen gern eine der anderen verkaufen.“ „Also wollen Sie's nur umbringen, weil es anders ist?“, entgegnete ich zornig, worauf der Kerl mich perplex ansah. Und da entschied ich spontan: „Wenn Sie sie eh nicht wollen, dann geben Sie die Katze mir! Ich hab nichts dagegen, dass sie etwas länger braucht als die anderen.“ Der Typ hat mich aus gelacht und gemeint, dass ich mir bloß ein krankes Vieh ins Haus holen würde, aber er übergab mir den Beutel mit dem zerbrechlichen Inhalt. Also brachte ich Steve die Katze mit.

Erst hat er mich angesehen als ob ich verrückt wäre, wir hatten früher ja nie die Mittel für ein Haustier. Aber als ich ihm erzählt habe wie ich an das Kätzchen kam, hat er es mir gleich ab genommen. In seinen Händen wirkte es auf einmal gar nicht mehr so klein. Er hat es sich dann in die Brusttasche gesteckt, um es warm zu halten. So kam Francis zu uns. Steve hatte den Namen ausgesucht, weil er meinte der passe zu beidem. Erst später fanden wir raus, dass Francis ein Kater war. Er wuchs unter Steves liebevoller Fürsorge auch zu einem stattlichen Exemplar heran. Das Tier war zwar durchaus eigensinnig und konnte auch mal tagelang weg bleiben. Aber wenn er zu Hause war, hat er sich immer in Steves Nähe aufgehalten, ihm tote Mäuse und Ratten mitgebracht, oder auf seinem Schoß geschlafen. Kein Wunder, für ihn war Stevie ja sowas wie seine Mama. Ganz zu Anfang fand ich es kurz bedenklich, wie mütterlich Steve mit dem kleinen Wesen umging. Aber dann habe ich entschieden, dass ich wohl genauso handeln würde, wenn ich sein Leben erhalten und es pflegen würde. Vielleicht war das falsch.