Deus Ex Interlude: Sams freier Tag
Es kam nicht häufig vor, dass ein Cybermancer von Sams Kaliber es nötig hatte jeden Tag durchgehend zu Arbeiten wie andere Leute, oder auch nur wie viele andere Cyberpunks und Mercs, einen regelmäßigen Fluss an Aufträgen erledigen, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Außerdem half es keine Miete zahlen zu müssen, wenn er sich auf den Straßen und in verlassenen Gebäuden niederließ. Sam nutzte seine Neuros eigentlich nur für eines: Hardware. Er hatte bereits den größten Teil seiner Augs verbessert und es ist kaum noch erkennbar, dass es einst einmal Corpo Equipment für reiche Schüler war. Er wusste auch schon genau was er sich als nächstes leisten würde, aber dafür benötigte er eine MENGE Creds. Es handelte sich um einen Cortex auf Supraleiter Basis. Er würde seine Gedanken damit auf ein Rekordhoch boosten können und sich mehr Zeit für seine Hacks nehmen. Weniger technisch bewanderte würden den Effekt als Verlangsamung der Zeit beschreiben, die Signale im Gehirn würden auf eine Geschwindigkeit kommen, mit der es möglich war, mit der richtigen Kühlung, einen 10 Minuten Hack in weniger als Einer durchzuführen.
Das Problem war jedoch, dass die Aug nur als Militärequipment, Prototyp oder High Level Corpo Ausrüstung verfügbar war und zwischen 150.000 und 200.000 Neuros kostete, je nachdem in welchem Schwarzmarkt man sich befand. Dann kamen noch die Kosten der Installation dazu und natürlich die nötige Hardware, damit einem der restliche Kopf nicht explodieren würde. Kurz gesagt: Sam würde sich in großes Risiko begeben müssen um schnell an so viel Geld ranzukommen.
Im Moment saß er im Schneidersitz auf einem Corpo Gebäude und ließ den Blick über die Stadt wandern. Der Stadtteil Toky0.2 war einer der modernsten. Hier fand man die größten Hochhäuser, die teuersten Autos, die schönsten Leute und die beste Tech. CEOs waren hier häufig um an irgendwelchen Meetings teil zu nehmen und ließen sich von ihren Bodyguards bewachen, die in der Regel bis unter die Zähne bewaffnet waren, mit Top Tier Augs. Hier konnte man sehr schnell, sehr reich werden, oder sehr schnell in einer Grube landen. Sam war sich dessen bewusst und hatte sich, zum ersten Mal wirklich, Zeit genommen um die Sache gut durchzudenken.
Sein augmentierter Blick blieb an einem kleinen Mann in den späten Dreißigern hängen, der gerade aus dem Heck eines Wagens stieg, den man wohl eher als Schiff kategorisieren sollte. Nein, nicht dreißig. Er musste deutlich älter sein, durch technische Hilfsmittel und Biomanipulation jung gehalten. Ein vielversprechendes Ziel. So jemand musste ein hohes Tier in einem der hiesigen Unternehmen sein. Wenn Sam an ihn rankommen würde, könnte er versuchen ihn zu beschatten und sein Haus ausfindig machen. Security war natürlich ein Problem. Zum einen war er permanent von gigantischen Bodyguards umringt und im Visier von mindestens einem Cybermancer, der sich versteckt hielt. Zum anderen, waren solche Häuser meist wahnsinnig gut gesichert, was einen klassischen Einbruch im Grunde unmöglich machte. Und zu allerletzt war da noch das Problem, dass solche Leute meistens von einer der Rettungs Corps beschützt wurde, die beim kleinsten Anzeichen von Verletzung, Unwohlsein oder ähnlichem einen Trupp aus Commandos und Medics losschicken würde. Die Aussicht, es mit denen aufnehmen zu müssen, ließ einen eiskalten Schauer durch Sams Nacken fahren.
Er ließ sein Ziel jedoch zu keinem Zeitpunkt aus den Augen. Er hatte auf dem Weg hierher alle offenen Data Tubes auf CCTV-Kameras geprüft und in alle, die er fand, eine kleine Backdoor eingebaut, durch die er nun auf sie zugreifen konnte. Hunderte Augen versorgten ihn durchgehend mit Informationen. Jedes Mal, wenn etwas die Sichtlinie unterbrach, konnte er einfach durch die Kameras blicken und konnte jede Bewegung seines baldigen Opfers erkennen.
Er schien zu InnoSync zu gehören, soweit Sam wusste, war das eine Mutterfirma von verschiedenen Unternehmen in der Datenverarbeitungsbranche. Das Gebäude selbst zu gut gesichert um aus der Ferne darauf zugreifen zu können, also musste sich der nun angefixte Cybermancer auf altmodische Weise Zugriff verschaffen. Rein, Data Port finden, verbinden und dann erstmal die Verteidigung von innen heraus zerlegen.
Sam stöhnte und streckte sich, bevor er sich von der Kante, die hoch über den Straßen der Stadt hing, entfernte. Er hasste es, wenn er Sachen nicht einfach digital erledigen konnte. Er war auch nicht so gut darin, wie es ihm gerne Lieb wäre. Vor einigen Monaten hatte Sam sich veränderbare Augenlinsen und Haar Augs besorgt, um sich Inkognito durch die Stadt bewegen zu können, als er es sich mit einer Gang aus EEI verscherzt hatte. Aber eine gewöhnliche Verkleidung würde hier nicht helfen, musste er sich eingestehen, während er sich im Spiegel des Aufzuges betrachtete. Er brauchte einen Grund um da zu sein, vielleicht einen Termin oder eine Einladung. Bei einem früheren Job hatte er sich als Kammerjäger ausgeben müssen, um sich in ein kleines Büro zu schleichen, ob das wohl funktionieren würde?
Aber all das Theorisieren brachte Sam nicht weiter und er nahm sich vor, es weiterhin geduldig anzugehen. Also erstmal zurücklehnen und alles bedenken. InnoSync war eine Corp, die sich auf Datenverarbeitung fokussierte. Sein Ziel war aller Vermutung nach ein Executive dort und war wichtig genug um durchgehend bewacht zu werden. Die meisten Unternehmen hier in Toky0.2 waren rund um die Uhr von bewaffneten Wachen, Autogeschützen und oft von Cybermancern geschützt, das legte nahe, dass es bei InnoSync ebenso war. Sam würde also nicht nur auf den Mancer seines Ziels aufpassen müssen, sondern auch den der Corp selbst. Also schleichen, oder unter falschen Prämissen reinzukommen war fast unmöglich, wenn er von potenziell mehreren Mancern gleichzeitig beobachtet und überprüft wurde.
Sam nahm in einem kleinen, hübschen Café, im Stil der späten 1900ern Platz und ging ununterbrochen seine Kameras durch. Er konnte nicht sagen, auf was er hoffte, aber er wusste, nicht was er sonst für den Moment tun konnte.
“Hi, was kann ich dir bringen?” erklang eine synthetische Stimme, mit leicht metallischer Resonanz. Er blickte auf und sah eine Kellnerin in eleganter Uniform, aus weißem, beigem und grauem Stoff. Ihre Haut war komplett metallisch und erinnerte an unbehandelten Edelstahl. Ihre Augen erstrahlten in einem sanften Gold und sie hatte ein kleines Gadget in ihrer Hand. “Ich,” er räusperte sich und versuchte sich ein wenig zu fangen, “Ich nehme einfach einen Synthkaffe und irgendetwas leichtes, süßes dazu.” Sie notierte sich etwas auf ihrem Gadget und bedankte sich dann. In einer geschmeidigen und eindeutig langen trainierten Bewegung drehte sie sich um 180 Grad und ging steten Schrittes zurück. Sam hatte einige Mühe, sich aus der Trance ihrer Bewegungen zu reißen und sein Blick folgte ihr, bis sie hinter einer Tür verschwand, die scheinbar zur Küche führte.
Love this novel? Read it on Royal Road to ensure the author gets credit.
Er stöhnte kaum hörbar und gestand sich ein: er war nicht gut in dieser “Bedacht vorgehen” Sache. Aber er war sich sicher, es würde übel für ihn enden, wenn er wie sonst einfach improvisieren würde. Er beendete die Übertragungen der Kameras und rief stattdessen seine Kontaktliste in seinem HUD auf. Viele Namen, die meisten davon Aliase und Codenamen, darunter war einer, den Sam mit einem kleinen Stern markiert hatte.
“Fisher☆”
Fisher war einer der wenigen Fixer, mit denen Sam öfters zusammenarbeitete und der einzige dem er wirklich vertraute. Sie kannten sich seit Jahren und haben sich bereits mehrfach gegenseitig aus brenzligen Situationen gerettet. Er war das was einem Freund am Nächstem war in Sams Leben. Er startete einen HoloCall.
“Sammy, was gibts? Was kann der beste Fixer der Stadt für dich tun?” ging eine tiefe, aber fröhliche Stimme ran. “Hi Fisher. Ich brauch jemanden der weiß wie ich in ein gut gesichertes Corpo HQ komme und auch unbemerkt wieder rauskomme. Mehrere Cybermancer und ein Haufen Waffen, die geradezu darauf warten jemanden umzulegen.” Es vergingen einige Sekunden in absoluter Stille, als Fisher schließlich doch antwortete: “Die müssen dich einladen, ansonsten kommst du nicht unbemerkt durch. Was kannst du mit mir teilen?” “InnoSync Headquarter in Toky0.2.” “Das soll doch wohl ein Witz sein. Bist du wahnsinnig?!” blaffte Fisher durch den HoloCall. Sam zuckte innerlich zusammen und antwortete nur: “Nein. Ja. Kannst du helfen? 15%.” “Sam, ich weiß du bist gut, aber selbst die Top Mercs lassen die Finger von HQs wenn möglich. Aber ich weiß ich kann es dir nicht ausreden. Ich melde mich in einem Tag wieder. Wenn du kannst, komme bei mir vorbei, wenn nicht, rufe ich dich um die gleiche Uhrzeit an.”
Und damit war das ganze Gespräch geklärt und der Anruf beendet. Sam ließ den Kopf in seine offenen Hände fallen und dachte darüber nach, was er als nächstes tun sollte, als er erneut die leicht metallische Stimme vor sich vernahm: “Hier bitte.” Er hob den Kopf und sah in zwei goldene Augen, die voller Wärme schienen. “Harter Tag, huh?” “Kann man so sagen. Danke” antwortete er müde. Sein Enthusiasmus war über die letzte Stunde zum größten Teil verebbt und ließ nur die übliche Leere zurück.
“Ich kann das verstehen. Du wirkst nicht wie ein Executive, bist du auch nur ein kleiner Fisch umgeben von Haien, so wie ich?” Sam trank einen Schluck des Synthkaffes und stellte fest, dass es einer der besten der Stadt war. Er musste kurz über die Frage nachdenken und antwortete schließlich: “So etwas in der Art. Kleiner Fisch, unmögliche Aufgaben...” Sie sah zu ihm hinab und setzte sich dann zögerlich. Sam hatte kein Problem damit und schenkte ihr ein kleines Lächeln. “Ich bin Ev, aus Celestia. Und du?” Sams Augenbrauen schossen in die Höhe “Celestia? Also bist du entweder aus einer reichen oder fanatischen Familie. Weiß nicht was schlimmer zum aufwachsen ist. Oh und ich bin Jamie, bin nicht von hier, nur auf der Durchreise.” Ev lachte kurz auf und antwortete dann: “Fanatisch. Große Anhänger der Kirche der heiligen Maria. Hatten sogar vor mich in das große Kloster dort zu verkaufen.” “Nein. Wirklich?! Wie bist du da rausgekommen?” Die Wärme ihrer Augen und die Freundlichkeit ihres Gesichtes brach kurz zusammen und ließ eine tiefe Trauer durchscheinen. Ev war jedoch gut genug trainiert, um diesen Moment nicht mehr als den Bruchteil eines Augenblickes anhalten zu lassen und sah sofort wieder aus, wie zuvor.
“Ich bin geflohen und habe begonnen hier und da kleine Jobs zu erledigen. Beim Kellnern bin ich dann schließlich geblieben.” Sam musste sich dazu zwingen keinen Kommentar zu machen und versuchte das Gespräch oberflächlich zu halten: “Ich könnte mir nie vorstellen Kellner zu sein, ich bin viel zu ungeschickt und die meisten Menschen mögen es scheinbar nicht, dass ich sie beleidige, wenn sie mich nerven.” Das entlockte Ev ein kleines Kichern und ließ ihre Augen weniger aufgesetzt wirken.
“Ich werde das hier auch nicht mehr lange machen. Ich versuche seit einer Weile einen eigenen kleinen Laden zu eröffnen. Aber nicht hier, Toky0.2 ist mir zu kompetitiv. Vielleicht nicht mal in der Stadt selbst. Habe von Nomaden Klans aus Westeuropa gehört, die den ländlichen Raum in Frankreich wieder bewohnbar machen wollen. Ich stelle es mir wunderschön vor, nicht mehr von der Stadt erstickt zu werden” “Frankreich? Ich dachte da wäre es wie hier in Deutschland, dass es erst in ein paar Jahrzenten möglich sei, die Gegend bewohnbar zu machen. Was lässt dich glauben, dass ein paar Nomaden das hinkriegen?” “Was lässt dich glauben, dass die Corps die Wahrheit sagen? Ich würde auch alle Leute lieber in der Stadt behalten, wo sie für mich schuften können, umgeben von Millionen Möglichkeiten, sein bisschen Geld auszugeben.”
Sam stutzte und ließ seinen Blick einige Sekunden auf Ev verweilen. Er hatte noch nie so darüber nachgedacht. Er hatte zwar noch nie das Interesse die Stadt zu verlassen, aber er kannte unzählige Leute, die sofort flüchten würden, wenn es anderen Ortes die Möglichkeit gab zu überleben. Aber was Ev sagte, machte eine Menge Sinn. Die Invasion war immerhin schon Jahrzehnte her und noch immer gab es nur vereinzelt kleine Wahlkampagnen in denen versprochen wurde, etwas zu unternehmen um die Landschaft wieder herzustellen. Aber nie war es ernst gemeint.
“Habe ich jetzt deine Welt auf den Kopf gestellt?” lachte Ev. Sam war sich nicht bewusst wie lange er nachdenklich in die Leere gestarrt hatte und fing sich: “Ein wenig. Aber ich bin durch und durch für die Stadt gemacht. Er zeigte auf den alten Data Port an seinem Hals, den er zur Täuschung offen trug, um wie ein gewöhnlicher Dataworker zu wirken. Es war der mittlerweile funktionslose Port seiner alten Corpo Hardware und war hochwertig genug um zu zeigen, dass er auf einer guten Corpo Schule war, ohne zu einprägsam oder besonders zu sein.
“Ohne Data Tubes wäre ich ziemlich nutzlos.” “Hm. Habe so Dinger an vielen hier in der Gegend gesehen, ist, um sich mit Netzwerken zu verbinden, stimmts?” “Ja genau. Damit kann ich auf Daten zugreifen und sie bearbeiten und weitersenden. Ist kein glorreicher Job, aber könnte schlimmer sein.” erklärte Sam, nein, Jamie. “Ich habe nur ein Basis Modell, ist also nichts Besonderes.” ergänzte er.
“Ev, was zur Hölle machst du da?! Ich bezahle dich doch nicht zum Sitzen und plaudern!” posaunte eine empörte Stimme, so unangenehm, wie Fingernägel auf einer Tafel durch das Café. Evs Augen wurden riesig und sie stand hektisch, geradezu panisch auf. Der Stuhl stürzte zu Boden und Ev beeilte sich diesen wieder richtig hinzustellen und zurück zur Küche zu eilen. Alles geschah so schnell, dass Sam sich nicht verabschieden konnte. War vermutlich besser so. Wenn er bezahlte würde er noch ein paar platonische Worte mit ihr wechseln und sich dann aufmachen um das InnoSync Gebäude persönlich in Betracht zu nehmen.