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Kapitel 1: Askari Schneider

Kapitel 1: Askari Schneider

…Träume und lebe sie. Wie sonst kannst du stolz auf dich sein. Schränke dich doch nicht ein, weil es ein anderer will.

"Askari, komm doch bitte mal runter!", ruft meine Mutter.

Stöhnend lege ich das Buch zur Seite und kämpfe mich aus meinem Decken. Ich schaue noch einmal schnell aus dem Fenster, um zu sehen, wie spät es ist. Die Sonne geht gerade unter. Es ist also Zeit zu Abendessen. Im Winter geht die Sonne nun mal früher unter.

Ich steige die schmale Holzleiter herunter. Mein Zimmer ist eine kleine Kammer direkt unter dem Dach. Klein aber gemütlich. Und ich habe hier ein Zimmer für mich allein. Es reicht für ein großes Bett, einen Schrank und ein kleines Badezimmer.

Darunter liegt der Wohnbereich meiner Familie mit den Zimmern für meine Eltern und meinen beiden Geschwister. Sie müssen sich eines teilen. Sie streiten sich gerne mal und dabei sind sie so laut, dass es bis zu mir nach oben reicht.

Darunter wiederum liegt die Schneiderei, die meine Eltern betreiben. Still setze ich mich an den Tisch. Meine Geschwister streiten sich schon wieder. Oder immer noch? Keine Ahnung. Es ist mir irgendwie auch egal. Es sind häufig irgendwelche Kleinigkeiten.

Mutter kommt mit einem großen Topf Suppe herein, während Vater ein Brett mit zwei goldbraunen Broten triumphierend über seinem Kopf durch die Gegend trägt. Er freut sich über alles, was er mit seinen eigenen Händen geschaffen hat. Er ist Handwerker durch und durch.

"Kommt jetzt und setzt euch!", befiehlt Mutter dem Rest der Familie.

Ich streiche meine rotblonden Haare aus meinem Gesicht. Die sind schon wieder viel zu lang. Ich muss Mutter fragen, ob sie sie mir wieder etwas kürzen kann. Ich sehe so doch nichts.

Ich beobachte die mir so vertraute Szenerie. Meine beiden Brüder, die durch den Raum toben. Mutter die Kopfschüttelnd daneben steht und mein lachender Vater, der einfach mitmacht. Es ist laut, aber mir auch so vertraut und irgendwie auch wichtig. Ich hoffe, dass es so für immer bleiben kann.

Ein Roter Faden dreht sich in der Luft. Bevor ich ihn auch nur näher betrachten kann ist er wieder weg. War wohl doch nur Einbildung. Ein gelber folgt demselben Weg, wie der Rote zuvor. Es folgt ein blauer und schon ist es das gesamte Farbspektrum. Eine Energie knistert in der Luft, bringt sie zum Vibrieren. Ich schaue zu meiner Familie herüber, sie aber scheinen es nicht zu bemerken. Als sich dann auch noch schwarze Fäden hinzufügen und die anderen beginnt zu umrahmen, dreht sich der Blick meiner Mutter auf das Ereignis.

„Seid doch mal leise, es kommt besondere Post. Fangt den Brief auf.“, ruft Mutter. Die Fäden hören auf sich zu bewegen und sammeln sich in einem Kreis. In der Mitte dieses Kreises ist es pechschwarz, ein Loch im Raum. Eine Hand mit einem Stück Papier streckt sich durch das Schwarz. Die Hand lässt das Papier fallen und zieht sich dann wieder zurück.

„Askari, schnell…“, beginnt Mutter. Ich schnelle nach vorn und schnappe mir das Papier, denn es war kurz davor in den Topf zu fallen, den Mutter auf den Tisch gestellt hat. Und das Chaos geht weiter. Diesmal dreht es sich aber um das Papier in meiner Hand.

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"Für wen ist der Brief?", fragt Vater und stellt das Brot zu der Suppe.

Auch meine Geschwister kommen aufgeregt zum Tisch. Sie hüpfen um mich herum und versuchen einen Blick auf das Papier zu erhaschen. Dabei schreien sie: "Zeig mal!"

Schnell zeige ich ihnen, dass es sich nur um Buchstaben handelt und ihr Interesse ist fast wieder verflogen. Ich überfliege die ersten Zeilen.

"Für wen ist der den nun?", fragte Vater erneut und versucht sich den Zettel zu schnappen.

„Deine Tochter hat den Zettel, also darf sie auch vorlesen.“, schimpft meine Mutter und hält somit meinen Vater auf nach dem Papier zu greifen.

Ich habe derweil die ersten Zeilen überflogen und lese ihn nun vor: "Sehr geehrte Askari Schneider, ich freue mich ihnen mitteilen zu können, dass sie ihr fünfzehntes Lebensjahr im Rahmen des Praktischen Jahres als Waldläufer verbringen werden."

Daraufhin folgte Stille und dann kam auch schon Mutter zu mir gerannt und umarmte mich kräftig. "Das ist ja wunderbar", sagt sie.

Auch Vater ist erfreut: "Das ist eine wunderbare Chance Askari. Dir stehen danach alle Türen auf. Mit diesem Praktischen Jahr wird euch Fünfzehnjährigen ermöglicht, die Berufswelt neu zu entdecken. Ihr sollt das ausprobieren, was ihr wollt. Ihr könnt in jedes Berufsfeld des Königreiches herein schnuppern. Mir ist aber nicht bekannt, dass der Waldläuferbund ebenfalls diese Möglichkeit bietet. Ich hätte ja auch gern eine solche Chance gehabt. Wenn…"

„Das ist sehr schön mein lieber, aber diese Wahl hat jetzt nur deine Tochter“, unterbricht Mutter Vater und entlässt mich aus der Umarmung.

„Aber ich kann mich doch gar nicht entscheiden", erwidere ich mit einer trotzigen Stimme.

Mutter wischt mir eine Strähne aus dem Gesicht. Sie lächelt mich an. „Du kannst jederzeit ablehnen, aber schätze zumindest die Möglichkeit“

Ich wende mich ab und schaue auf den Zettel, überfliege jedes einzelne Wort. Habe ich irgendwas übersehen. Sicher, dass sie mich meinen? Bei meinem Glück haben sie sich geirrt und all die Vorfreude und Hoffnung verschwindet beim nächsten Atemzug.

Und ich will doch gar nicht hier raus. Waldläufer reisen viel und treffen viele Menschen. Sie kämpfen, das Leben ist so nur noch gefährlicher. Schöner wäre es doch, dass ich einfach hierbleiben kann. Jeden Abend weiter Bücher lesen, tagsüber bei meinen Eltern arbeiten. Einfach, einfach. Mehr brauche ich doch nicht. Oder?

"Ich weiß, was dir durch den Kopf geht", sagt Mutter.

Ich drehe mich zu ihr um und ziehe eine Augenbraue hoch.

"Du sagst, das ist alles zu schwer und zu gefährlich."

"Aber das ist es doch auch", unterbreche ich sie.

Mutter schüttelt mit dem Kopf. "Das ganze Leben ist gefährlich. Du gehst jeden Tag diese schmale Leiter rauf und runter und arbeitest in einer Schneiderei mit vielen spitzen Gegenständen. Ja, das Leben ist gefährlich, doch nur mit einem kleinen Risiko wirst du leben. Du kannst die entscheiden, ob du überleben oder auch leben möchtest."

Das ist mir zu viel. Ich wende mich aber und springe meine Leiter nach oben. Unterwegs lasse ich den Zettel fallen. Langsam segelt er zu Boden, während ich in meinem kleinem Reich der Ruhe und Friedlichkeit verschwinde.

Welches Buch lese ich wohl heute Abend? Welche Welt wird mir diesmal Zuflucht bieten?