Also sah ich zu, dass ich mich nun doch ordentlich ab schminkte, und mich so gut es ging ausgehfertig machte. Ich war schon länger nicht mehr draußen gewesen. Es gab für mich inzwischen kaum noch Gründe, überhaupt das Rote Haus zu verlassen, und ich verzog mich lieber in mein eigenes Reich. Insofern war es mir dann etwas peinlich, dass die einzige Hose, die ich tatsächlich an ziehen konnte, im Grunde die meines Overalls war. Aber unter meinem schwarzen Mantel würde der nicht so auffallen. Die schäbigen Hausschuhe, die mir als einzige Fußbekleidung noch geblieben waren, wären da schon schwieriger zu verstecken. Ich hoffte einfach, dass man im Dunkeln nicht so darauf achten würde. Zuletzt setzte ich die Brille auf und meinen Hut, unter dem ich die langen Haare versteckte. So einigermaßen präsentabel führte ich meinen alten Freund raus in das Nachtleben, über den Vordereingang des Clubs.
Ich war etwas überrascht, wie viel doch tatsächlich noch los war. Ich hatte zwar durchaus bemerkt, dass die Stadt ihre Heimkehrer noch bis in die Nacht feierte, aber das schlug sich eher in mehr Kunden bei uns nieder. Also noch ein Grund weniger, abends unterwegs zu sein. Es beschämte mich. Ich hatte mich so an mein neues Leben gewöhnt, mich so gut darin eingerichtet, dass es nun schwer war, diese Logik ab zu schütteln. Dass Bucky mich gefunden hatte, brachte einfach alles durcheinander. Natürlich war ich froh, ihn wohlbehalten wieder zu sehen. Aber ich hätte nie gewollt, dass er von meinem lasterhaften Lebensstil erfährt! Und dann wegen mir auch noch ein Schwerverbrechen verübt! Ich machte mir deswegen Vorwürfe. Auch wenn die Sache nur wegen Hank so eskaliert war, dachte ich doch, vielleicht hätte ich ihm früher öfter Grenzen setzen sollen, damit er dieses eine Mal einfach ging, statt so brutal zu werden. Aber das alles wäre ohnehin nie passiert, wenn ich nicht das tun würde, was ich nunmal tat.
Bucks ließ mich dankbarerweise mit Fragen in Ruhe, und erzählte stattdessen von der Überfahrt, während wir zum Central Park spazierten. Dort trieb sich tatsächlich noch ein Imbissverkäufer rum, bei dem mein alter Kumpel dann seine Bestellung auf gab: „Zweimal Hotdogs mit allem, aber einer nur Ketchup und einer nur Senf, okay?“ Ich lächelte. Es erinnerte mich wirklich an früher. Während der Uni hatten wir uns in der Mittagszeit oft Hotdogs geholt, weil sie so praktisch waren und schnell satt machten. Leider hat sich Bucks oft im Gehen damit bekleckert, wobei die Senfflecken meist leichter raus zu bekommen waren als der Ketchup. Also hatte er sich irgendwann angewöhnt, immer ohne Ketchup zu bestellen, während ich ohne Senf bekam, weil ich Schärfe nicht gut vertrug. Es tat gut, sowas Vertrautes zu tun. Ein Hauch von Geborgenheit.
Leider hielt es nicht lang, weil ich dann beim Anblick meines Hotdogs direkt daran dachte, dass ich inzwischen keine Probleme mehr hatte, sowas zu schlucken, und fast das ganze Würstchen in einem in den Mund nehmen konnte. Ein doch erstaunliches Talent, welches ich meinem Freund durchaus gern demonstriert hätte, wenn es nicht so offensichtlich wäre, woher ich das konnte. Aber das Essen tat mir gut, es füllte meinen grollenden Magen und befriedigte den Appetit, den die Zigarette ausgelöst hatte. Und dass Bucks dafür bezahlte, konnte ich immerhin annehmen. Schließlich war der Grund dafür, dass ich heute kein Bargeld bei mir hatte, das Versprechen was ich ihm geben musste.
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Nachdem wir gegessen hatten und ich seine eher trivialen Fragen zu den Veränderungen in der Stadt erfolgreich beantwortet oder verdrängt hatte, kamen wir an einer irischen Kirche vorbei. Bucky war dafür, dass wir eben rein gingen und eine Kerze stiften sollten, was für ihn unüblich war. Ich hingegen wäre lieber weiter gegangen, anstatt Fuß in das Gotteshaus zu setzen. Was wiederum unüblich für mich war. „Na komm schon Steve! Ich kann auch das Geld für dich auslegen, damit wir beide eine anzünden. Vorgestern war doch Sarahs Todestag, oder? Sie freut sich bestimmt, wenn du ihr noch eine schenkst!“, meinte mein Kindheitsfreund. Er wusste tatsächlich noch, wann meine Mom gestorben war. Und nahm an, dass ich ihrer gedacht hatte. Das tat weh, und ich nickte schuldbewusst, um an seiner Seite durch die schweren Eichentore zu treten.
Da es spät war, war die Kirche leer, und außer den Gedenkkerzen gab es kaum Licht, doch die strahlten dafür umso zahlreicher vor den verschiedenen Heiligenfiguren. Bucks tauchte seine Finger ins Weihwasser, und schlug ein Kreuz vor seinem Gesicht, was ich ihm nach tat. Ich fühlte mich dabei wie ein Betrüger, und war ein kleines Bisschen überrascht, dass ich mir nicht die Hand verbrannte. Still traten wir vor die Marienstatue, unter der ebenfalls eine große Anzahl Kerzen brannte, sodass kaum noch Platz über war. Bucks warf zwei Vierteldollar in den Opferstock und reichte mir eine der frischen Kerzen, die für die Gläubigen bereit lagen. Stumm zündete er seine an einer bereits brennenden Kerze an, stellte sie zu dem glimmenden Lichtermeer, und setzte seine Mütze ab. Dann ging er auf die Knie, schloss die Augen, und begann zu beten.
Leise, flüsternd. Doch da es totenstill war und er auf meiner rechten Seite stand, konnte ich dennoch Fetzen davon hören. Es klang wie: „... und für die Überfahrt... kein Unfall... dafür dass... und danke, dass ich Stevie wieder gefunden habe und er lebt...“ Vielleicht hat er es lauter gesagt als gewöhnlich, damit ich es höre. Aber normalerweise hätte ich auch längst neben ihm gekniet und ebenfalls konzentriert gebetet. Doch ich konnte nicht. Ich konnte nicht mal die Kerze anzünden. Ich stand bloß stumm da, zitternd vor Kälte und vor Scham, und schaute zu der Marienstatue auf.
Mom hatte oft mit mir zu Maria gebetet. Sie sagte immer: „Steven, wenn du irgendwelche Sorgen hast, dann komm zu mir. Aber wenn du jemals nicht mit mir reden kannst, dann geh zu ihr! Sie war auch eine Mutter. Also kannst du ihr auch alles sagen. Sie wird dich immer beschützen. Und sie wird dir alles verzeihen.“ Und nach ihrem Tod hatte ich auch stets so gehandelt. Aber ich konnte es nicht mehr. Ich sah bloß hoch in dieses gütige Gesicht unter dem Heiligenschein und blieb wie erstarrt stehen, während mir die Tränen in die Augen traten. Ich musste mich sehr zusammen reißen, keinen Ton zu machen. Ich wollte Bucky nicht stören. Und nicht riskieren, dass er hörte, wie ich weine.
Also legte ich den Kopf noch mehr in den Nacken, und schloss die Augen, damit die Tränen an der Seite runter liefen, und ich nicht die Nase hoch ziehen musste. Meine Hand ballte sich um die Kerze, so fest, dass ich Angst hatte sie zu zerbrechen, während ich verzweifelt versuchte mich zu beruhigen. Bucks würde nicht ewig mit beten beschäftigt sein. Ich musste mich irgendwie zusammen reißen. „Du kannst ihr alles sagen.“, hörte ich jedoch wieder die Stimme meiner Mom, und ein Schluchzen entfuhr meiner Kehle. Nur kurz und leise, aber in der leeren Kirche echote es dennoch wie ein verräterischer Fluch. Ich wollte mich abwenden, da stand Bucks aber schon auf und fragte besorgt: „Steve, was hast du denn? Geht es dir nicht gut?“
Ich wollte mich verstecken, doch weil er die Hand auf meine Schulter legte, gab ich bitter zurück: „Wie soll es mir denn schon gehen?“ Er sah unsicher zwischen meinem Gesicht und der Kerze hin und her und versuchte aus zu weichen: „Hast du noch nicht gebetet? Danach geht es dir sicher besser!“ Aber ich ballte immer noch die Faust, und nun brach der Wachs doch durch, worauf ich die Kerze einfach eilig zwischen die anderen stellte, um mich mit einem möglichst abweisenden: „Was bringt das schon?!“, rum zu drehen und Richtung Ausgang zu gehen. Mein Bauch tat weh, und ich wollte einfach nur raus. Bucky lief mir jedoch gleich nach und wollte wissen: „Aber Stevie, was ist denn los? Für dich war Maria doch sonst...“ „Sie ist nur eine Statue, Bucks! Es ist nichts dahinter! Da ist niemand, der einen hört!“, schnitt ich ihm blasphemisch das Wort ab.
Statt schockiert zu sein, hakte er verwirrt nach: „Früher hast du gerne zu ihr gebetet!“ „Da führte ich auch nicht so ein sündiges Leben!“, gab ich schnippisch zurück, denn Buckys höfliche Ignoranz ging mir langsam auf die Nerven. Er konnte sich doch denken, wie unwohl ich mich hier fühlen musste. Wollte er mich so bestrafen, oder umstimmen? Doch da behauptete er: „Sicher nicht so sündig wie meines!“ Ich blieb verwirrt stehen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Bucks wirklich was Schlimmeres getan haben konnte, als ich. Aber dann sah ich wieder vor mir, mit wie wenig Emotionen er Hank die Luft ab gedrückt hatte, und mir fröstelte erneut. Aber dann schnaubte ich abwehrend. Er hatte wenigstens eine Ausrede. Er war Soldat, hatte in diesem Krieg gekämpft. Er musste töten. Er hatte keine Wahl gehabt. Und ich...
„Wollen wir wetten?“, holte Bucks mich aus meinen Gedanken. Ich schaute skeptisch zu ihm hoch, und er deutete mit einem Nicken auf den Beichtstuhl, vor dem wir zum Stehen gekommen waren. Mir wurde direkt wieder eng in der Brust und mein Herz schlug schneller. Mein Kumpel schlug jedoch vor: „So spät ist es noch nicht. Ich bin sicher, ich kann den Pater aus dem Bett holen, damit wir beichten können! Dann wirst du ja sehen, wer von uns länger drin sitzt.“ Ich wusste was er vor hatte. Er wollte, dass ich mich von meinen Sünden rein wusch. Früher bin ich durchaus regelmäßig beichten gegangen. Es tat gut, sich einfach die Sorgen von der Seele zu reden. Doch nun wogen meine Verfehlungen so schwer, dass ich mich nicht traute, sie noch jemandem an zu vertrauen. Und ich wollte sie eigentlich auch lieber verdrängen.
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Mein alter Freund sah mich herausfordernd an. Da fällte ich eine Entscheidung. Ich raunte: „Ich weiß was Besseres!“, und ging zur Tür des Beichtstuhls, die für den Priester vorgesehen war. Ich öffnete sie und deutet Bucks ein zu treten. Er kam verwundert näher und vergewisserte sich: „Was denn? Du willst BEI MIR beichten?“ Es schien ihm unangenehm, doch ich sagte schlicht: „Du willst es doch eh wissen! Also bitte!“, und winkte erneut. Bucks runzelte weiter die Brauen, doch dann ging er hinter den Vorhang, um sich auf den Platz des Beichtvaters zu setzen, während ich die Tür schloss. Dann trat ich selbst in die Kabine für den reuigen Sünder, auch wenn ich mir immer noch wie ein Verräter vorkam.
Bucks räusperte sich zögerlich: „Okay, dann also... ähm...“ „Vergieb mir Vater, denn ich habe gesündigt!“, begann ich dann aber, „Meine letzte Beichte liegt fünf Monate zurück.“ „Fünf Monate?“, wiederholte Bucks ungläubig, doch als ich nur stumm nickte, murmelte er unsicher: „Nun, dann ähhh, dann ist wohl nicht so viel Schlimmes passiert, oder?“ „Psch, hast du eine Ahnung!“, schnaubte ich bitter, doch als ich sein besorgtes Gesicht durch das Gitter sehen konnte, schaute ich wieder schuldbewusst auf meine Schuhe. Bucks flüsterte eindringlich: „Also, willst du mir erzählen, was passiert ist?“ Ich öffnete ein paar Mal den Mund, doch der Kloß in meinem Hals hinderte mich daran, etwas aus zu sprechen.
So versuchte er es über die Rolle, die ich ihm zugewiesen hatte: „Nun denn... Hast du flasche Götter angebetet?“ Ich schüttelte leicht belustigt den Kopf. „Den Namen des Herrn beschmutzt?“, hakte er nach. Ich schüttelte weiter den Kopf. Auch als er fragte: „Vater oder Mutter beleidigt? Oder einen anderen Menschen umgebracht?“ Wieder mal wunderte ich mich über den harten Sprung in den 10 Geboten, mehr jedoch, dass mein Freund weiterhin so wertfrei über den Tod reden konnte, ohne jedes Schuldbewusstsein in der Stimme. Zugleich fragte ich mich, ob Bucks das mit der Sonntagsruhe vielleicht absichtlich ausgelassen hatte.
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Denn hier hätte ich schon was zugeben müssen. Erstaunlich viele Kunden kamen nach der Messe quasi direkt zu uns. Ich zuckte zusammen. Vielleicht hatte er es auch vergessen. Bucks war nie so bibelfest wie ich gewesen. Doch als er weiter machte: „Hast du andere überfallen oder ausgeraubt?“, musste ich genervt einwerfen: „Hör auf mich zu schonen Bucky! Du manipulierst die Fragen so, dass ich verneinen muss! Und fleischliche Begierden hast du ganz ausgelassen, obwohl du weißt, dass das vor Raub und falschem Zeugnis kommt. Ich habe aber gestohlen, ich habe gelogen, und ich habe rum gehurt!“
Ich sah wie er zusammen zuckte, wie er vermied mich an zu sehen. Er wollte es schon beiseite wischen: „Nun, wenn es dich reut, dann sün...“ „Und ich werde es wieder tun!“, unterbrach ich trotzig. Jetzt starrte er mich schockiert an und rief aus: „Was? Aber wieso?“ Ich musste mich abwenden und er bohrte nach: „Steve, wieso solltest du es wieder tun? Ich hol dich da raus, ich sorg für dich, ich kann dich beschützen, warum solltest du dahin zurück gehen?“ Ich blickte runter auf meine abgewetzten Hausschuhe, atmete tief ein und sagte bloß: „Es ist mein Zuhause.“ „Aber das muss es nicht sein! Du kannst zu mir kommen, ich gebe dir ein neues Zuhause! Dann bist du frei und musst sowas nie mehr machen!“, ereiferte sich mein Kumpel, sodass ich resignierte: „Du kapierst es nicht! Es ist nicht so einfach...“
„Doch, ist es!“, beharrte Bucks, und ich schoss zurück: „Ach ja, hast du plötzlich reich geerbt und kannst in Saus und Braus leben, dass du dir leisten kannst, mich mit durch zu füttern? Hast du überhaupt eine Ahnung, was das heißt? Die Mieten sind gestiegen, die Preise für Lebensmittel und Medikamente auch...“ Er unterbrach mich: „Das schaffen wir schon! Mensch Steve, weißt du nicht mehr, ich wollte damals schon mit dir zusammen wohnen, dann hätten wir uns die Kosten geteilt, doch du warst zu stolz dafür! Aber es ist okay, Hilfe an zu nehmen, also warum willst du meine nicht?“ „Weil ich dir nichts dafür geben kann!“, erklärte ich frustriert, „Es wäre keine Gemeinschaft, das hier ist der einzige Job, den ich kriegen kann!“ „Das stimmt doch nicht, Stevie!?“, behauptete mein alter Freund, und ich stand verzweifelt auf, wollte schon gehen und murrte noch: „Du verstehst es einfach nicht.“ Da hielt er mich zurück: „Halt, warte bitte!“ Ich blieb stehen, schaute ihn jedoch nicht an. Er versprach hastig: „Bitte Steve, dann erklär es mir! Ich werde dich nicht verurteilen, okay? Aber hilf mir, es zu verstehen!“
Also setzte ich mich wieder. Mir schwirrte leicht der Kopf und mein Puls stieg erneut, bei dem Gedanken tatsächlich vor Bucks aus zu packen. Ich wollte nicht, dass er mich hasst. Dass er mich abstoßend findet. Und vielleicht so wütend wird, dass er mich an schreit. Oder schlimmeres. Ich kannte ihn doch nicht mehr. Er hatte sich so stark verändert. Und ich mich noch mehr. Könnten wir überhaupt noch Freunde sein, jetzt? Und wenn er die Wahrheit kannte? Haltsuchend griff ich mit meiner Rechten in das Trenngitter und schluckte schwer. Dann zuckte ich zusammen, weil Bucks seine Linke ebenfalls so ins Gitter steckte, dass seine Hand quasi auf meiner lag, und sie fest hielt. Sie war so warm. „Bitte Stevie! Ich will es nur verstehen!“, flüsterte er eindringlich.
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Also atmete ich noch ein paar Mal tief ein und aus, um dann stockend zu berichten: „Dann muss ich wohl ganz von Vorne anfangen. Damals, als ich dir noch geschrieben habe. Ich hab dir doch mal erzählt, dass ich mich mit meinen Zeichnungen bewerben wollte, oder?“ Mein Kumpel nickte stumm. Also sprach ich weiter: „Es war überall das Selbe. Sie fanden meine Bilder gut, wollten gerne welche zur Ansicht behalten, sagten sie würden sich melden. Aber ich bekam nie eine Zusage. Nicht in der Werbebranche, nicht bei den Illustrierten, auch nicht bei einzelnen Firmen, wenn diese einen Zeichner suchten. Keiner wollte mich.“ „Aber hattest du nicht einen Job bei dieser Baufirma?“, warf Bucks ein. „Ja, bei Loyson und Sinch, als Anstreicher. Und ich kam damit einigermaßen über die Runden.“, gab ich ihm Recht, „Tja, und dann passierte der Unfall.“
Ich musste unwillkürlich meine linke Schulter bewegen. Wenn es kalt war, tat sie immer noch etwas weh. Buckys Finger streichelte über meine Hand, und von dem Kitzeln musste ich grinsen. Also sprach ich schnell weiter: „Im Grunde war es die Schuld vom Vorarbeiter, weil der das Gerüst nicht richtig gesichert hatte. Jedenfalls, einer der Kollegen ist gestolpert und hat seine Bretter fallen gelassen. Eins hat mich in die Seite getroffen, ich brach rückwärts durch die Absperrung und fiel zwei Stockwerke tief auf den Rücken, direkt auf einen Haufen Baumaterial und eine Werkzeugkiste. Und dann steckte mir ein Schraubenzieher in der Schulter.“
Mein Kumpel zog scharf die Luft ein, ließ mich aber aus reden: „Die anderen sind zwar zu mir hin, um mir auf zu helfen. Aber statt mich ins Krankenhaus zu bringen, haben sie mich nur rein ins Haus gebracht, damit man mich nicht mehr so schreien hört. Und sie haben den Schraubenzieher einfach raus gezogen und mich verbunden. Immerhin die Beine waren ja nicht gebrochen, also konnte ich doch weiter arbeiten.“ Ich verzog das Gesicht vor Wut. Und erklärte knapp: „Die Firma wollte keine Verantwortung übernehmen, und als ich doch zum Arzt bin und krank geschrieben wurde, haben sie mich gefeuert. Ich hab ihnen noch mit einem Anwalt gedroht, doch der Vorarbeiter hat mich ausgelacht und gesagt, dann würden alle sagen, dass ich betrunken war, und den Unfall selbst verschuldet habe.“
Bucks schnappte empört nach Luft: „Gott, Steve, das ist ja furchtbar! Diese Mistkerle! Warum hast du mir nichts davon geschrieben?“ „Was hättest du denn machen sollen?“, gab ich zurück, „Du warst doch am Kämpfen, hast mir geschrieben, wie grausam es ist, wie kalt und einsam dir oft war, dass ihr manchmal nicht genug zu Essen hattet. Warum sollte ich dich da noch mit Sorgen um mich belasten?“ Er widersprach: „Moment mal, so habe ich das aber nie geschrieben!“, doch ich schaute ihn prüfend an: „War es etwa nicht so? Bucks, ich kann zwischen den Zeilen lesen, ich weiß wie du klingst, wenn du mir was verheimlichst! Und außerdem hatte einer der Kollegen einen Bruder der ebenfalls an eurer Front gekämpft und ihm davon geschrieben hat.“
Buckys Schultern sanken ertappt zusammen, doch dann forderte er: „Okay, also wolltest du mich schonen. Aber was ist dann passiert? Das ist doch nicht die einzige Firma in New York, bei der du hättest arbeiten können?“ Ich verzog den Mund zu einem gezwungenen Lächeln, um auf zu zählen: „Nein. Aber mein Vorgesetzter verbreitete nicht gerade das beste Image von mir. Er schimpfte ich sei ein Querulant, ein Störenfried, der die Kollegen aufwiegeln würde, und ein Schwächling der nichts taugt noch dazu.“, ich spürte wie sich in Bucky Widerspruch formierte und redete schnell weiter, „Naja, und da meine Schulter lange zum Heilen brauchte und ich so den Arm kaum bewegen konnte, war ich für die meisten Handwerksberufe auch nicht mehr zu gebrauchen. Ich hab es dann noch in anderen Brachen versucht. Als Sekretär bei einer Versicherung, als Aushilfe in einer Bäckerei, und in einem Modegeschäft als Verkäufer. Aber ich bin überall raus geflogen.“
„Was denn, du? Welcher Idiot wirft dich denn raus?“, wollte Bucks ungläubig wissen. Also erklärte ich: „Die Selben Idioten, die auch Frauen belästigen, die Armen verachten, und keine Schwarzen bedienen wollen.“ Mein Kumpel runzelte überrumpelt die Stirn, also holte ich aus: „In der Versicherung arbeitete ein Typ, der immer die Sekretärinnen begrapscht hat, und dem ich dazu mal die Meinung gesagt habe. Leider war das der Sohn vom Chef. Offiziell haben sie mich gefeuert, weil ich zu lange brauchte, um die Aktenstapel von A nach B zu bringen, wegen meines Arms. Bei der Bäckerei bekam ich Ärger, weil ich abends die Brote die ich in den Müll werfen sollte einfach an ein paar Kinder verschenkt habe, die sie sonst aus den Mülltonnen gefischt hätten. Aber ich kam durch mein Asthma ohnehin nicht mit dem ganzen Mehlstaub zurecht. Tja, und in dem Modegeschäft hab ich einem schwarzen Herrn einen Anzug anpassen und verkaufen wollen, aber der Besitzer war dagegen.“
Bucks seufzte resigniert. Immerhin das war typisch für mich. Dass ich mich mit den Chefs anlegte, und dabei auf die Schnauze fiel. Ich schloss meinen Bericht: „Naja, und so hatte ich bei den Unternehmen und der Arbeitsvermittlung bald einen Ruf weg: zu klein, zu schwach, zu langsam, aber vor allem: zu vorlaut. Und so hagelte es immer mehr absagen.“ Ich blieb eine Weile still und hing meinen Erinnerungen nach. So im Nachhinein konnte ich regelrecht zusehen, wie die Abwärtsspirale begann und sich immer mehr und mehr zusammen zog. Ich spürte, dass Bucky ein Kommentar auf den Lippen lag. Warum ich denn nicht länger durchgehalten hatte, mir Geld geliehen habe für was Eigenes, oder ihm nicht wenigstens Bescheid sagen konnte. Aber er hielt sich daran, mich nicht zu verurteilen und wartet darauf, dass ich weiter sprach.
Also erzählte ich: „Das Ganze hat mich wohl doch sehr unter Stress gesetzt, denn ich bekam immer öfter schlimme Bauchschmerzen, mit Übelkeit und Erbrechen. Einmal war es so schlimm, dass ich Blut gespuckt habe, und da konnte ich es dann nicht mehr ignorieren. Im Krankenhaus haben sie mich dann direkt da behalten und operiert.“, mein Kumpel blickte mich besorgt an und ich stellte klar, „Zwei Magengeschwüre waren durch gebrochen. Ich hatte die Schmerzen vorher einfach ignoriert, weil ich auch in der Schulter immer noch welche hatte. Dazu noch die reguläre Migräne, und die Arthritis... du kennst das ja.“, er nickte, „Es gab Wochen, da musste ich zweimal in die Apotheke, nur um Schmerzmittel nach zu kaufen. Und dann war doch alles umsonst, weil ich ohne Job eh nur zuhause war.“
Das war einer der Gründe, warum ich nicht unbedingt gehen wollte. Die verdammten Tabletten hatten irgendwann einfach nicht mehr gewirkt. Und dann hat mir im 'Roten Haus' mal jemand was anderes Angeboten. Damit ließen sich die Schmerzen aushalten, es ging mir damit einfach besser. Und meinem Körper konnte es doch egal sein, ob die Drogen, die ihn kaputt machten, nun legal oder illegal waren. Aber bei dem Kapitel waren wir noch nicht. Bucks guckte mich inzwischen immer mitleidiger an. Das war mir peinlich, ich wollte nicht, dass er in mir jemand wehr- und hilfloses sah. Ich wollte nicht so sein. Auch wenn ich mich damals immer öfter so fühlte.
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Ich fuhr also fort: „Durch die ganzen Arztrechnungen wurde es dann immer knapper mit dem Geld. Irgendwann war ich mit der Miete im Rückstand. Dann wurde mir der Strom ab gedreht. Ich hab versucht, mich über Wasser zu halten, hab versucht irgendwas als Tagelöhner zu bekommen, aber auch da wurde ich wenn dann als Letzter ausgewählt. Ich begann alles zu verkaufen was ich nicht unbedingt brauchte: Meinen Schreibtisch und den Stuhl, die Winterkleidung, Schüsseln, Gläser, meine Zeichensachen...“ Buckys Hand schloss sich etwas um meine. Er wusste, wie viel mir das Malen bedeutete. Wie sehr ich auf mein Werkzeug gespart hatte. Ich wischte mir verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel.
Es zog mich sehr runter damals. Aber ich war ohnehin schon tief gesunken, wie ich ihm beichtete: „Es wurde immer schlimmer. Aus Rechnungen wurden Mahnungen, der Vermieter drehte die Heizung ab und drohte mir mit Rausschmiss. Ich hatte zum Schluss fast nichts mehr übrig, nur noch meine Matratze auf dem Boden, eine Decke, ein Handtuch, zwei Töpfe, ein Messer, einen Schraubenzieher und einen Löffel, und das, was ich am Leib trug. Und meine Zeichenmappe, mit dem Foto meiner Mutter drin.“ Ich musste die Nase hoch ziehen, und wischte mir mit dem Ärmel die Tränen weg. Da schob Bucks ein Taschentuch durch eine der Maschen im Gitter, das ich mit einem Leisen: „Danke.“ annahm.
„Bitte. Lass dir Zeit.“, flüsterte mein Freund, und es schnürte mir fast die Kehle zu. Noch fühlte er mit mir, machte sich Vorwürfe, bloß weil ich versagt hatte. Wie würde er aber den Rest der Geschichte aufnehmen? Ich redete schnell weiter: „Ich hatte sogar die Lampen und die Küchenmöbel verkauft, die eigentlich zur Wohnung gehörten. Ich wusste, dass ich meine Kaution nicht zurück bekommen würde, und ich musste irgendwie meine Medizin bezahlen.“ Ich schaute Bucks nicht mehr an. 'Du sollst nicht stehlen' heißt es in der Bibel. Doch ich hatte es getan.
Gequält berichtete ich weiter: „Ich hatte solche Angst, auf der Straße zu landen. Ich hab wirklich mein Bestes getan, bin morgens ganz früh zu den Märkten hin und habe gefragt, ob ich wo aushelfen kann. Und wieder am Nachmittag, wenn ab gebaut wurde. Manchmal klappte das und ich bekam ein paar Dollar. Danach hab ich immer alles an losem Obst und Gemüse eingesammelt, was noch so rum lag, zusammen mit der Holzwolle, und den halb leeren Steichholzheftchen, die die Leute einfach auf den Boden warfen. Und damit habe ich dann zuhause gekocht.“, ich war ein bisschen stolz auf mich, dass ich so noch eine Weile ausgehalten habe, „Holzreste und Papier in den großen Topf für das Feuer, und Gemüse und Wasser in den kleinen, zum Kochen. Oft hab ich so dann auf der Matratze gesessen, den Kessel zwischen den Beinen, und die Decke um mich geschlungen.“
Mein Kumpel mahnte besorgt: „Aber das war doch gefährlich!“ Ich zuckte mit den Schultern und meinte: „Ich musste nur aufpassen, dass das Feuer nicht aus ging, und ich mich nicht verbrannte. Aber zumindest hatte ich es dann etwas warm. Ersticken konnte ich nicht, dafür pfiff der Wind zu sehr durch die Fensterritzen. Und immerhin das Wasser war nicht abgestellt worden.“ Ich musste erneut Pause machen und tief durch atmen. Soweit war alles noch einfach und nachvollziehbar gewesen. Erst jetzt kam der richtig schwierige Teil. Das, wo es anfing. Und wo dann kein Weg mehr zurück ging. Bucky drückte nochmal meine Hand und fragte sanft: „Was ist dann passiert?“ Ich hatte das Gefühl, dass es immer kälter wurde, aber seine Hand strahlte weiter eine wohlige Wärme aus. Ich fragte mich, wann er sie wohl angeekelt weg ziehen würde. In mir kamen wieder Tränen hoch, als ich neu ansetzte und ihm zuerst stockend, dann immer flüssiger, von den Ereignissen erzählte, die mich zu dem gemacht hatten, was ich nun war.
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