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Es könnte jeder sein

Diese fünfte Geschichte passierte einem Mädel, mit dem ich zur Therapie ging. Da man keine persönlichen Informationen aus solchen Sitzungen weiter geben darf, kann ich nicht mehr über die beteiligten Personen sagen. Aber es war eine aufrichtige Geschichte, und das Mädel war wegen Paranoia und Angststörungen in Behandlung. Der Grund warum sie dort gelandet war, lag darin, dass sie vor einigen Jahren von jemandem gestalkt wurde. Meistens hatte sie einfach ein ungutes Gefühl, als würde sie von fremden Augen beobachtet. Und für einige Zeit dachte sie, dass sie verrückt sein muss. Aber dann fingen ihre Freunde an, sie nach einem Mann zu fragen, den sie manchmal in ihrer Nähe bemerkten. Er wartete vor den Gebäuden, in dem sie sich befand, wie Restaurants oder dem Friseur. Folgte ihr zur U-Bahn. Immer knapp außer Sicht, zu weit entfernt, um ihn zu identifizieren, und verschwande sobald man anfing, ihn zu beobachten. Sie bat die Polizei um Hilfe, aber die sagten, solange sie nicht einmal weiß, wer es war oder wie er aussah, könnten sie nichts tun.

Und dann kamen die Einschläge näher. Ihr Müll wird durchwühlt. Post wurde gestohlen. Blumen verschwanden von ihrem Balkon (es war nur Erdgeschoss, aber trotzdem...). Auch hier konnte niemand sagen, wer es getan hatte, oder ein Muster finden, wo oder wann die Person als nächstes zuschlagen würde. Das Mädel war sehr verängstigt und zog in eine andere Wohnung. Eine bezahlbare Einzimmerwohnung. Zuerst schien sie dort etwas Ruhe zu finden. Doch eines Tages passierte etwas. Sie war spät von der Uni nach Hause gekommen, hatte ihren Mantel aufgehängt, ihren Rucksack neben den Tisch gestellt und war vor dem Zubettgehen duschen gegangen. Zum Entspannen.

Aber als sie ins Zimmer zurück kam, bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Die Angst kroch wieder in ihren Kopf. Also fing sie an, sich um zu sehen. Öffnete einen Schrank. Um ihn leer vor zu finden. Und sie erstarrte. Stand einige Minuten still da, innerlich schreiend. Dieser Schrank enthielt einige ihrer privatesten Sachen. Eine Kiste voller Fotos, alter Tagebücher, Sammelalben aus dem Urlaub mit Freunden. Alles weg. Sie rief die Polizei. Sie konnten keinen Einbruch finden, fragten, ob sie sicher sei, dass sie die Tür abgeschlossen habe, ob sie sicher sei, dass die Sachen nicht einfach verlegt seien. Sie fühlte sich so hilflos und verängstigt. Sie verbrachte diese Nacht im Haus ihrer Mutter.

Keine zwei Tage später halfen ihr Freunde, ihre Sachen zu ihrem Freund zu bringen. Er versprach sie zu beschützen. Kaufte Sicherheitsschlösser für die Wohnung, obwohl es ihn extra kosten würde, wenn sie mal ausziehen würden (große Löcher in die Wohnungstür zu bohren, um spezielle Schlösser ein zu bauen, ist nicht gerade das, wovon Vermieter in meinem Land begeistert sind), und bekam sogar Sicherheitsschnapper für die Fenster. Er stellte sicher, dass er sie nach der Uni abholte und sie zu ihren Terminen begleitete. Aber rund um die Uhr konnte er trotzdem nicht da sein, beide hatten Nebenjobs, um ihr Studium zu finanzieren. Also blieb ihre Angst und sorgte dafür, dass sie immer nachprüfen musste, dass ihr Zuhause sicher war, wenn sie zurück kam. Also Schuhe und Jacke nicht direkt ausziehen, jedes Zimmer betreten, jeden Schrank öffnen, immer den Duschvorhang zurück gezogen halten, unters Bett schauen. Und dabei die Schlüssel wie Krallen in der Hand halten. Immer auf dem Sprung.

Und eines Tages lief das Fass über. Das Mädel war allein zu Hause und schlief aus. Ihr Freund hatte die Jalousien runter gelassen, damit sie nicht von der Sonne gestört würde. Es war ein warmer Tag, also wachte sie langsam und schläfrig auf. Blinzelte zu den Jalousien hin. Zu einem Schatten. Einer Gestalt vor dem Fenster. Einem Augenpaar, das sie anstarrte. Ihr Herz blieb fast stehen. Sie griff nach ihrem Telefon auf dem Nachttisch und versteckte sich unter der Decke, wie ein kleines Kind, das Angst vor Monstern hat. Rief panisch ihren Freund an und wiederholte hektisch flüsternd: „Er ist da! Er ist hier! Er steht vor dem Fenster, er sieht mich an! Bitte komm schnell!“

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Es fiel ihr schwer zu sprechen, da ihre Zähne klapperten, während ihr ganzer Körper vor Angst zitterte. Und die ganze Zeit spähte sie durch ein kleines Loch, zwischen den Falten der Decke hindurch. Zu diesen Augen, die sie anstarrten und kaum blinzelten. Ihr Freund versuchte, sie zu beruhigen, versuchte, ihr bei zu stehen, brachte einen Kollegen dazu, die Polizei zu rufen, damit er nicht auflegen musste, und beeilte sich, nach Hause zu kommen. Sie weinte und betete darum, dass der Mann gehen sollte, voller Angst, er könnte vielleicht das Fenster einschlagen und herein kommen. Und dann erinnerte sie sich, dass er doch scheinbar schon einmal einen Schlüssel für ihre Wohnung benutzt hatte. Und dass die Türen von ihrem Freund von außen verschlossen, aber nicht verriegelt waren.

Sie war so in Panik, dass sie nicht einmal mehr vernünftig sprechen konnte. Als sie also ein paar Tränen weg wischte, um nochmal nach zu schauen, nur um fest zu stellen, dass der Mann weg war, stieß sie ein Kreischen aus und erschreckte ihren Freund. Er fragte sie, was passiert sei, aber sie war schreiend aufgesprungen und flehte: „Nein, nicht, bitte nicht!“, während sie zur Haustür rannte und sich dagegen warf, als wolle sie eine einfallende Armee aufhalten. Winselnd schloß sie die Riegel, suchte mit den Augen nach Hinweisen auf einen Eindringling, während sie daran dachte, dass sie sich vielleicht gerade mit ihm eingeschlossen hatte, wenn er schon drinnen war. Panisch bewaffnete sie sich mit einem Stuhl und begann, die Wohnung so zu erkunden, wie sie es nach ihrer Rückkehr tun würde, öffnete jede Tür und jeden Schrank, sogar den Wäschekorb und Kisten, in die nur ein Kind passen würde.

Als sie wieder im Schlafzimmer war und unter dem Bett nach sah, hörte sie ihren Freund aus dem Telefon schreien, das sie fallen gelassen hatte. Sie versuchte, ihre Situation zu erklären, als es laut an der Tür klopfte und sie erneut vor Angst aufschrie. Dann ein weiteres Klopfen, lauter, aggressiver. Sie war so verängstigt, dass sie am Liebsten auf und davon gerannt wäre. Es wurde weiter geklopft und geschrien, ein lauter, wütender Mann schrie, und sie hatte solche Angst... Aber schließlich hörte sie ihren Freund am Telefon, wie er rief: „Liebling, ich bin es! Ich und die Polizei, du musst uns reinlassen!“ Immer noch völlig verängstigt fragte sie: „Aber woher weiß ich, dass du es bist?“ Er versuchte sie zu beruhigen und sagte schließlich: „Ich bin am Fenster zum Wohnzimmer! Komm gucken!“ Also ging sie zurück ins Wohnzimmer, und als sie ihren Freund vor dem Fenster stehen sah, konnte sie sich endlich ein wenig beruhigen und die Riegel der Tür öffnen. Nur um weinend in seinen Armen zusammen zu brechen, als er endlich mit der Polizei herein kam.

Ihr Freund versuchte ihr zu helfen. Sie zu beruhigen. Versicherte ihr, dass sie in Sicherheit war. Aber sie konnte ihm nie wieder glauben. Es war nicht seine Schuld, aber die ganze Situation führte schließlich dazu, dass sie sich trennten. Ihre Noten waren bereits schlechter geworden und sie konnte ihr Studium nicht fortsetzen. Sie wurde weit weg von ihrer Stadt in eine psychiatrische Klinik gebracht, und da konnte sie sich endlich wieder sicher fühlen. Inzwischen war sie in ein anderes Bundesland gezogen, hat einen anderen Beruf ergriffen. Hatte immer noch ein paar alte Freunde, aber die besuchten sie nur gelegentlich, und in den ersten anderthalb Jahren traf sie sie, wann immer sie sie besuchten, nur an öffentlichen Orten und achtete darauf, danach einen komplizierten Weg nach Hause zu wählen.

Aber das Trauma hat sie nie wirklich verlassen, und so war sie, als es wieder Zeit für eine Behandlung war, in dasselbe Institut gekommen, in dem ich war. Sie hat uns ihre Geschichte erzählt, und es hat die meisten von uns zutiefst erschüttert. Sogar die Männer in der Gruppe, ziemlich stark aussehende Typen, waren sich einig, dass so ein Stalker sie ebenfalls ausflippen lassen würde, und waren froh, dass das Mädel kein schlimmeres Schicksal erleiden musste.

Sie weinte noch etwas und sagte, wie sehr sie ihre persönlichen Sachen vermisse. Die alten Bilder mit ihrer Familie, einige Originale, von denen niemand eine Kopie oder ein Negativ hatte. Was sie immer noch nicht los ließ war das: Sie haben nie heraus gefunden, wer der Stalker war. Die Polizei fand keine Spur, keiner ihrer Freunde oder Familie hatte eine Vermutung, und sie kann sich immer noch nicht erklären, wie oder warum jemand sie wählen würde. Bloß ein durchschnittliches Mädchen, keine Berühmtheit, sie war nicht mal in der Schule beliebt. Aber die Polizei sagte ihr, dass es in den meisten Fällen tatsächlich um zufällige Personen ging, die jemanden verfolgten, den sie kaum kannten. Wie ein Nachbar, ein Kollege, der Verkäufer in einem örtlichen Geschäft... Es hätte jeder sein können, schloss sie. Einfach jeder.

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