Sherlock wacht in einem bequemen Bett auf. Doch sein Blick ist noch verschwommen und seine Glieder fühlen sich an wie in Ketten. Das Zimmer ist viel zu grell und alles bewegt sich. Ihm bricht kalter Schweiß aus. Sein Körper braucht Stoff, er ist auf Entzug. Er versucht auf zu stehen, doch seine Arme und Beine sind viel zu schwer. Er versucht sich mit einem Ruck auf zu richten, doch seine Gelenke schmerzen als ihn etwas zurück hält. Plötzlich ist sein Geist hellwach: er wurde gefesselt! Seine Hand- und Fußgelenke stecken in dicken engen Manschetten, die wiederum mit Ketten an je einem der Bettpfosten fest gemacht sind. Sherlock zappelt, reißt mit aller Kraft an den Fesseln, brüllt vor Zorn, doch nichts tut sich. Die Ketten halten, nur seine Arme werden wund und zeigen leichte Blutergüsse. Plötzlich steht John im Zimmer. Oder stand er schon die ganze Zeit da?
„John, hilf mir, ich muss hier raus!“, keucht Sherlock, die Locken platt gedrückt auf der schweißnassen Stirn. „Um was zu tun Sherlock, den nächsten Schuss abholen?“, fragt John bitter, doch Sherlock hört ihm gar nicht zu. „Ich muss raus, ich muss wichtige Dinge erledigen, ich brauche einen neuen Fall, einen neuen Fall, ja genau, ich muss hier raus...“, murmelt der einst so große Sherlock Holmes im halben Delirium. „Ich hab dich her gebracht, damit du dich ausruhst und wieder zur Besinnung...“, versucht es Watson erneut, doch Sherlock schreit ihn an: „Hol mich endlich hier raus du Idiot, ich hab Wichtigeres zu tun als hier zu liegen.“ „Ich habe dich hier her geholt..“, beginnt Watson noch einmal, doch Sherlock keucht: „Hol eine Säge, ein Messer irgendwas das...“ „ICH! HABE DICH! HIER. HER. GEHOLT!“, schreit John seinen alten Freund an und sieht ihm dabei fest in die Augen.
Sherlock bleibt der Mund offen stehen. „Du?“ Erst eine schüchterne Frage. „Du.“ Eine Feststellung. Es rattert im Hirn des Detektiven. „DU!“ Jetzt ist es ein Schrei, ein wütendes Fauchen, all die Empörung, die man in nur ein Wort legen kann. Sherlock ballt seine Hände zu Fäusten und funkelt John böse an: „Warum?!“ „Warum? Echt jetzt?“, fragt Watson wütend. Er dreht sich weg, als müsse er ein paar wirklich verletzende Worte zurück halten und atmet tief ein.
Dann wendet er sich wieder Holmes zu und sagt ruhig, aber bestimmt: „Weil ich letzten Donnerstag nach dem Kino fast einen Herzinfarkt bekam, als ich in der öffentlichen Toilette am Picadilly einen halbtoten Stricher mit ner Nadel im Arm gefunden habe. Und dann direkt noch einen, als ich erkennen musste, dass das nicht irgendein Stricher, sondern Sherlock Holmes, der weltbeste Detektiv und mein bester Freund war! Und weil du absolut keinen Krankenwagen haben wolltest und drauf und dran warst, mir davon zu rennen. Erst als ich gesagt habe, ich bring dich nach Hause, hast du endlich still gehalten und bist mit gekommen. Da hab ich dich her gebracht. Also ein kleines Dankeschön wäre angebracht, denn vielleicht wärst du jetzt tot! Oder zumindest ein Riesenhype bei Instagram, mit deiner vollgekotzten Jacke als Sammlerstück bei Ebay und deinem Abtransport in die Entzugsklinik als nächste Schlagzeile in der Regenbogenpresse!“
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Die letzten Worte schreit der Doktor förmlich, sodass Holmes unwillkürlich zusammen zucken muss. Watsons Gesicht ist rot vor Wut, aber man kann auch die tiefen Furchen der Sorge dahinter sehen. „Okay. Dankeschön. Und jetzt mach mich los.“, antwortet Sherlock mit Nachdruck. John lacht auf: „Du kapierst es nicht, oder? Ich sagte gerade, ich hab dich Donnerstag gefunden. Wir haben jetzt Sonntag! Ich habe die letzten Tage gebraucht, um dich einigermaßen stabil zu kriegen, ich lass dich doch jetzt nicht gehen, damit du dir den nächsten Schuss holst und mir elendig verreckst. Ich bin dein Arzt, ich werde dich behandeln und ich lasse dich erst gehen, wenn du außer Gefahr bist!“
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Wieder ist Sherlock sprachlos. So kennt er seinen Doktor gar nicht. Diese bestimmende Art war er von seinem leicht schüchternen, manchmal etwas tollpatschigen Freund nicht gewöhnt. Klar, er konnte ihm intellektuell nie das Wasser reichen und das hatte Sherlock den armen Kerl immer spüren lassen, hatte ihn manchmal sogar vorgeführt und konnte sich so sicher sein, dass John ihm immer brav folgen würde. Und nun auf einmal solche dominanten Worte? Aber wo ein Wille ist... Sherlocks Stimme zittert ein wenig, doch er gibt sich betont sachlich als er sagt: „Sehr nett John, aber ich kann auf mich alleine aufpassen. Das war nun ein einmaliger Ausrutscher, ich danke dir für deine Fürsorge, aber den Rest schaffe ich alleine und ich...“ „Nein!“, schneidet Watson ihm das Wort ab. „Was, nein?“ Holmes ist irritiert. „Nein. Du gehst nirgendwo hin.“, meint John nur.
Jetzt wird es Sherlock zu dumm: „Oh, hat der liebe Watson in der Ehe seine dominante Hausherren Seite entdeckt? Mary scheint dir ja sehr gut zu tun!“ „Hör auf, Sherlock...“, setzt John an, doch der Detektiv legt nach: „Sie muss dir ja ziemlich zusetzen, wenn du dich jetzt so an mir austoben musst!“ „Bitte Sherlock!“, will ihn der Doktor unterbrechen, aber er spottet: „Wahrscheinlich hast du deshalb auch plötzlich eine Vorliebe für SM-Spielzeug entwickelt, damit du wenigstens im Bett mal das Sagen haben kannst. Ich hoffe sie verlässt dich...“ „SIE HAT MICH SCHON VERLASSEN!“, bricht es schließlich aus John heraus. Und in die nachfolgende Stille ergänzt er: „Wie hätte ich wohl sonst Zeit gefunden, dich zu betreuen.“
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Plötzlich ist Sherlock sehr kalt. Hilfesuchend sieht er sich im Zimmer um. Jetzt erst erkennt er, dass es sich tatsächlich um Johns und Marys Schlafzimmer handeln muss. Auf der anderen Seite des Zimmers steht ein weiteres Bett, ähnlich dem, in dem er liegt. Die Fenster haben nette Gardinen, doch diese könnten mal wieder gewaschen werden. Auf dem Nachttisch neben seinem Bett steht medizinische Ausrüstung, Kartons von Medikamenten zur Suchtbehandlung, Einwegspritzen und Ähnliches. Darunter eine feine Staubschicht in deren Umrissen etwas fehlt. Ein Fotorahmen vielleicht? Tatsächlich scheinen einige persönliche Gegenstände zu fehlen.
Nicht, dass etwas von Johns Sachen fehlt, aber in manchem Regal ist eine Lücke und auch an der Wand scheinen Bilder zu fehlen. Schließlich fällt Sherlocks Blick auf Johns Hand. Sein Ehering ist weg! Dem Anschein nach schon eine ganze Weile. Sherlock merkt, wie die Beschäftigung seines Hirns mit so einer lachhaften Beobachtung ihm bereits Erleichterung bringt. Aber das ist nicht normal. Er hätte es sofort merken müssen. Direkt, beim Aufwachen, im Vorbeigehen quasi. So jedoch muss John ihn auf dieses Thema stoßen und er sieht nun in den Augen seines Freundes, dass es ihm lieber gewesen wäre, nicht darüber zu reden.
„Das tut mir leid.“, antwortet er schließlich. Und dann fast mehr zu sich selber: „Wie konnte sie nur?“ Doch diese Frage lässt einen Schmerz durch Johns Gesicht zucken, der ihn unübersehbar gezeichnet hat. „Ich geb dir etwas gegen die Schmerzen“, murmelt John, der Frage ausweichend. Er zieht eines der Präparate in eine Spritze auf und injiziert es in den Zulauf eines Tropfs, der neben dem Bett steht und der, wie Sherlock auch jetzt erst verwundert feststellt, mit seiner rechten Armbeuge verbunden ist. Die linke hingegen ist von einem großen Pflaster abgedeckt, doch selbst jetzt kann Sherlock die vielen Einstiche erkennen, die er sich in den letzten Wochen zugefügt hatte. Dann dämmert er in einen unruhigen Schlaf weg. Das Letzte was er noch hört ist wie John sagt: „Mach dir keine Sorgen. Ich bin für dich da und lasse dich nicht allein.“ Oder träumt er das schon?
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