Die erste Stufe war genauso anstrengend, wie Soda es sich vorgestellt hat. Schließlich muss sie jedes Mal einen Klimmzug machen, um auf die obere Fläche der monumentalen Treppenstufe zu kommen. Mit einem geschickten Sprung greifen ihre Hände die nächste Stufe. Diesmal reicht ein Klimmzug nicht aus. Der Kopf der Bestie starrt sie mit ihren toten Metallaugen an.
Klick
Der Mechanismus, welcher den Kopf aus seiner Fassung löst, macht dasselbe Geräusch, was Soda auch beim Zerstören der Tür und der rissigen Mauer gehört hat. Sie schafft es nicht, diesem Angriff auszuweichen, sie ist zu langsam.
So sterbe ich also ?
...
Was eine Scheiße...
Tut mir Leid Blume, ich hätte auf dich hören sollen...
Zischend fliegt eine leuchtende Kugel auf Soda zu.
...wie schön...
„Soda !"
Was ?!
„Mach, dass du da wegkommst !"
Blume schreit so laut, er nur kann vom anderen Ende der Treppe herunter. Er hat eine improvisierte Waffe, bestehend aus verschiedenen Materialien, um seine rechte Schulter gebunden. Eine Rauchschwade aus dem Lauf der Waffe lässt darauf schließen, dass das leuchtende Geschoss von ihm geschossen wurde.
Der Kopf des Roboters rastet schlagartig wieder ein, während ein buntes Feuerwerk vor der mechanischen Bestie explodiert. Ohne auch nur eine Sekunde damit zu verschwenden, auf Soda zu starren, stürmt der Roboter die Treppe hoch.
„Blume ! Pass auf !"
Brüllt Soda laut die riesige Treppe hoch.
„Hau von hier ab !"
Antwortet Blume und rennt vor dem anstürmenden Monster in Sicherheit. Soda nutzt ihre verbleibende Kraft, um sich schnellstmöglich die einzelnen Stufen hoch zu kraxeln. Schreiende Menschen und das Knittern von zerstörten Metall füllen die sonst so stille Umgebung der Fabrik.
Als Soda oben angekommen ist, dämmert es bereits. Doch ihr Blick ist nicht auf die aufgehende Sonne fixiert, nein.
„Die Kommune…"
Wimmernd sieht sie aus ihrer unverdient sicheren Distanz dabei zu, wie das riesige Metall Biest seinen Kopf auf die Hütten in der Kommune rammt. Schreiend versuchen die Menschen von dort zu fliehen, werden aber entweder von einem der vielen Gliedmaßen der Bestie, oder von den fliegenden Hütten als Kollateralschaden getroffen.
Dicke Rauchwolken ziehen die Luft, gefolgt von Körperteilen und Hütten. Instinktiv rennt Soda auf die Kommune zu. Sie weiß genau, dass sie nichts ausrichten kann. Doch dabei zuzusehen wie ihre Heimat zerstört wird aufgrund ihrer Taten, lässt Sodas Gewissen nicht in Frieden.
„Du Scheißteil !"
Sie schreit wütend, geladen von Rage und Adrenalin.
Die Metall Schlange beachtet Soda nicht, sondern schlängelt sich tiefer in den Wald hinein und hinterlässt dabei eine ähnlich destruktive Spur, wie in der Kommune.
Blutiges Metall liegt verteilt und verbeult in den zertrümmerten Mauern des Dorfes. Ihre einstigen Nachbarn sind bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt und verunstaltet. Fleischfetzen, gemischt mit Klamotten, welche eine tote Gesellschaft verzieren. Und Soda ist mittendrin.
„Nein...das kann nicht wahr sein…"
Ihre Beine zittern und geben nach. Heiße Tränen laufen ihre Wange herunter, ihr Atem stockt. Würgend entleert sie ihren Mageninhalt auf den blutigen Boden – für welchen Soda alleine verantwortlich ist – und schaut gebrochen durch ihre zerstörte Heimat.
Ihre zittrigen Finger greifen in den blutigen Boden und vergraben sich peinigend in diesen. Dass ihre Fingerkuppen längst bluten, interessiert sie nicht. Zu groß ist ihr Selbsthass. Soda weiß genau, dass sie all das angerichtet hat.
„Es tut mir leid…"
„Scheiße !"
Sie schafft es nicht, ihren Blick vom Boden abzuwenden. Das, was sie nämlich umgibt, ist viel zu grausam. Es ist noch brutaler, wenn sie sich vor Augen führt, dass Soda selbst diese Maschine auf das Dorf gehetzt hat. Wäre sie nicht in diese Fabrik gegangen, hätte Blume keine Rettungsaktion starten müssen.
Quietschende Räder, welche durch die Blutpfützen fahren, schaffen es doch, Soda zum Anheben ihres Kopfes zu zwingen.
„Flamme !"
Lacht sie fröhlich und erleichtert...ihre Mimik versteift, wird leer und zerrissen.
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Nicht Flamme ist auf diesem Rollstuhl, sondern ein halbierter Fleischklumpen, welcher das letzte Überbleibsel von ihrem einstigen Freund darstellt.
„Nicht du auch noch…"
Würgend und schluchzend nimmt sie die Griffe des Rollstuhles in die Hand.
„Ich sollte dir doch die Metallwände holen...nicht wahr ?"
„Danach gehen wir Blume auf die Nerven…"
Eine unendlich tiefe Trauer breitet sich in ihr Aus. Ehe sie auch nur einen weiteren Atemzug machen kann, lässt das Adrenalin in ihrem Körper langsam nach. Die Flucht vor der Bestie, die riesigen Treppen und der Sprint zur Kommune, all das fordert jetzt seinen Tribut.
Dunkelheit. Endlose Stille inmitten endlicher Natur. Soda driftet ab, spürt wie ihre Besinnung langsam ihrer geistigen Anwesenheit entgleitet. Ihr Gesicht küsst die blutrote Pfütze auf dem Boden. Als würde die Last ihrer Taten sie nun in die Knie zwingen. Ein Gemisch aus Scham und Angst kreist durch Sodas Körper.
Was würde Blume jetzt sagen ? Er war immer ihre Anlaufstelle für Probleme gewesen – der alte Mann wusste einfach alles.
Inmitten tiefer Einsamkeit und Verzweiflung stößt Soda auf eine kostbare Erinnerung, wahrscheinlich sogar ihre kostbarste…
Die warme Sonne scheint unschuldig auf eine grün-bedeckte Wiese in welcher eine vielzahl an Tieren ihre oftmals unscheinbare Präsenz an den Tag legen. Neugierige Ohren von hüpfenden Karnickeln ragen über dichte Gräser empor und streifen vereinzelt ein paar Blüten. Unbeschreibliche Gerüche dringen charmant in ihre Nase : der Duft der Natur ist sauber und rein. Das einzig konträre in diesem Gesamtbild, ist die brennende Zigarette zwischen den rußigen Fingern des Alten.
„Was machen wir hier ?"
Fragt Soda, gut zwei Köpfe kleiner als sie jetzt ist. Ihre Stimme ist merkwürdig hoch und ihre Aussprache klingt ungenau.
„Genießen."
Melancholisch-rauchend antwortet Blume, während er den grauen Rauch gen Himmel pustet.
„Aber...hier ist doch nichts zum genießen ?"
„Vielleicht nichts greifbares, nur etwas für die Optik, für deine Augen, Soda."
Schweigend verlieren sich die neugierigen Augen von ihr in dem Schauspiel von Mutter Natur, welches sich mit epochaler Größe vor den beiden erstreckt. Grün soweit das Auge reicht, im wahrsten Sinne des Wortes.
„Schön…"
Murmelt Soda, verträumt.
„Und endlich."
„Endlich ? Was heißt das ?"
„Das etwas vergeht, nicht für immer da ist, Soda"
„Die Tiere und Pflanzen sterben also ?"
„Nichts ist für die Ewigkeit bestimmt. Aus dem Toten entsteht Leben. Das Leben ist irgendwann verwirkt und der Tod breitet sich aus. Niemand kann diesen Kreislauf unterbrechen, es ist die Geschichte eines jeden Lebewesens."
Mit jedem unbeschwerten Atemzug merkt Soda, wie sie sich zusammenzieht. Krampfhaft reibt sie mit ihren Fingernägeln über ihre Kehle, Blut läuft aus ihrem Mund, Tränen aus ihren Augen. Erst geben ihre Beine nach, dann der Rest ihrer Körperspannung. Sand, Eisen und Blut.
Ein großer Pfropfen an Blut und klebrigen Schmutz hustet Soda auf den aus selbigen Materialien bestehenden Boden. Es war kein böser Traum, die Kommune ist wirklich zerstört. Prüfend zwickt sie sich, gefolgt von Schlägen in ihr eigenes Gesicht.
„Du bist so dumm !"
„So verdammt dumm !"
Doch bis auf Hämatome auf ihren Wangen, hilft ihr das ganze nicht. Soda hat bestimmt schon ein dutzend Leichen gesehen – oder was von diesen übrig ist – und schiebt währenddessen den Rollstuhl von Flamme vor sich her. Vielleicht ist es ihre Art, sich von ihm zu verabschieden, oder sie ist irre geworden. Vielleicht resultiert Ersteres aus Zweitem.
Jede Hütte aus wessen Dach sie einst geklettert ist, ist zerstört. Jede Person, die sie einst kannte, ist tot. Inmitten ihrer Einsamkeit blickt Soda bedrückt auf die zerstörte Werkstatt, in welcher sie Tag und Nacht verbracht hat.
Da der Roboter verschwunden ist, unterscheidet sich Soda, seinen ehemaligen Lieblingsort, ein letztes Mal zu besuchen. Von der Werkstatt ist nur noch das klapprige Fundament übrig. Vereinzelt liegen Schrauben, Nägel und andere Bauteile auf dem Boden verteilt.
Zerfledderte Bücher liegen in Fetzen, verteilt in der Asche von dem, was einst ihr heiligster Ort war. Viele Bücher dieser haben ihr einst beigebracht zu lesen, zu schreiben und zu rechnen...natürlich mit der Hilfe von Blume.
„Soda…"
Eine schwache Stimme, welche versteckt unter einigen der zerstörten Bauteile ertönt, dringt mit einer unverkennbaren Vertrautheit in ihr Ohr. Schnell dreht sich Soda zum Ursprung der Stimme. Ein Mann, alt und eingeklemmt zwischen zwei Metallwänden. Seine untere Körperhälfte ist von seinem Oberkörper getrennt.
„Soda...du lebst...ein Glück…"
„Blume du- dein Körper !"
„Mach dir nichts draus. Mein Schicksal ist schon seit Jahren besiegelt."
Blume hustet einige blutige Pfropfen aus seiner Kehle und hebt seinen Kopf zitternd an. Obwohl seine Haut so blass war wie noch nie zuvor, ist sein Blick noch immer warm und weise. Als hätte er all das kommen sehen.
„Es ist meine Schuld. Ich hätte auf dich hören sollen !"
Soda fällt schluchzend auf die Knie.
„Mach dir keine Vorwürfe, Soda. Reue führt nur zu einem größeren Schmerz. Und Schmerz führt zwangsläufig zum Tod."
Sein Blick wird schwächer, weniger intensiv und warm. Mit letzter Kraft hält er das Leben im Inneren seines Geistes.
„Unterhalb dieser Werkstatt Soda…Die Tür…"
Sein Kopf fällt gen Boden. Blume liegt in seiner eigenen Blutpfütze. Seinen letzten Moment hat er einzig und allein Soda gewidmet. Schließlich braucht die Kleine immer was zu tun.
„Blume...bitte verlass mich nicht."
Verzweifelt fleht Soda den leblosen Körper vor ihren Augen an, wohl wissend, dass die Lebensgeister ihn bereits verlassen haben. Seine letzten Worte hallen in ihrem Kopf wie ein Echo.
„Unterhalb der Werkstatt ?"
Murmelt Soda leise vor sich hin. Bis auf die demolierten Regale und Werkzeuge findet sie weit und breit nichts in dieser Werkstatt. Vielleicht liegt es auch daran, dass sie nicht in die Richtung von Blumes zerteilten Kadaver gucken möchte. Ihren einstigen Mentor so zu sehen, verkraftet Soda nicht...nicht jetzt.
Erschüttert beginnt sie damit, jeden Winkel der Ruine nach einer Art Falltür oder einer Treppe, von der sie bislang nichts wusste. „Nichts, Nichts und nochmal nichts. Verdammt !" Zischt Soda vor lauter Wut, welche nach wie vor gegen sich selbst gerichtet ist. Obwohl Blume ihr von Reue abgeraten hat, ist es unmöglich für sie, ihre Gefühle dauerhaft zu unterdrücken.
Seufzend lehnt sich Soda an eine Wand, als sie spürt, wie ihr Rücken leicht in diese einrastet.
Klick
Der klapprige Holzboden öffnet sich und Soda gerät ins Staunen. Eine Treppe ähnlich wie die aus der Fabrik – nur mit kleineren Stufen – erstreckt sich mit einer gespenstischen Länge vor ihren Augen.
„So etwas war die ganze Zeit hier versteckt ?"
Zwar sind die einzelnen Stufen von einem merkwürdig-grellen blauen Schimmer beleuchtet, dennoch kann Soda nicht das Ende der Stufen sehen – genau wie in der Fabrik. Seltsamerweise strahlt der Ort für sie eine gewisse Vertrautheit aus und scheint Soda förmlich zu rufen.
Ihr Mut erreicht seinen Höhepunkt, als sie sich ein letztes Mal zum zerfledderten Körper von Blume dreht.
„Ich mache das wieder gut...irgendwie…"
Brummt sie entschlossen und beginnt mit langsamen Schritten in die Tiefe der mysteriösen Treppe zu steigen. Es ist ihr egal, was für ein Schrecken da unten auf sie warten mag. Wenn es Soda hilft, diesen Roboter, der ihre Kommune zerstört hat, irgendwie zu besiegen, ist ihr jedes Leid der Welt recht.
„Alles oder nichts…"