Novels2Search
Aufbruch [DE]
Pilot 2 - Seelenfrieden - Teil 2/2

Pilot 2 - Seelenfrieden - Teil 2/2

Als er wieder aufwachte und aus dem Aufpralldämpfer aufsah, war das Schiff in Schräglage und kaum wiederzuerkennen. Doch er lebte noch, was ein Glück! Hoffentlich hatten die Dämpfer überall funktioniert.

“Yotekom? Geht es Ihnen gut?” fragte der Komander.

“Weiß ich nicht…” stöhnte er heiser und hustete. “Ich spüre zumindest noch alles. Sie?”

Lashenko gab ein gequältes “Mhm” von sich. Er tastete mit seinen Fingern den Puls des Hauptpiloten, der immer noch bewusstlos auf dem Armaturenbrett lag. “Der lebt”, sagte er und merkte erst dann, dass sein Arm voller Blut war. “Antwan?” Er sah schräg hinter sich, wo dieser stöhnend im Sitz lag, das rechte Bein im Gang, aber bis auf eine Kopfverletzung ging es ihm zum Glück noch gut. Doch es war ein Fehler, hinter sich zu sehen, denn nach drei Sekunden spürte er heftige Kopfschmerzen, sodass er sich besser wieder umdrehte.

Einige Minuten vergingen, bis die Astronauten ihre Kräfte sammeln und sich um ihre Kameraden sorgen konnten. Etwa die Hälfte der Passagiere war wohlauf und kam mit leichten Blessuren und Prellungen davon. Die andere Hälfte jedoch war schwer verletzt und hatte beträchtliche Einschränkungen dadurch. Und andere hatte es noch schwerer erwischt. Im hinteren Teil von dem, was einst mal das Beiboot war, offenbarte sich Lashenko die gesamte grausame Realität dieses Unterfangens. Das Kind, nicht älter als drei Jahre, von dem D5 noch erzählt hatte, saß vor dem Sitz, in dem seine Mutter eingefallen in den Schulterbügeln lag und schüttelte sie am Bein.

“Mama, Mama! Aufwachen!” sagte es. Seine Mama wachte nicht auf.

Lashenko rief jemandem vom medizinischen Personal her, der die Mutter untersuchte. Der Mediziner senkte seinen Scanner und schüttelte den Kopf.

“Papa, warum schläft Mama?” fragte das Kind unentwegt weiter und der Vater nahm es weinend fest in seine Arme.

Die Todesursache stellte sich als Genickbruch heraus. Der plötzliche Kräftewechsel dieser Fahrt war zu viel für sie. Und wie die Mediziner berichteten, war dies nicht das einzige Opfer. Ein zweiter Siedler erlag aufgrund von Sauerstoffmangel im Gehirn und inneren Blutungen. Auf der Kupe hätten sie die Mittel gehabt, die beiden vielleicht noch zu retten, aber nicht hier in der Wildnis in einem Schiffswrack.

Lashenko spürte nichts.

Nun war auch Antwan wieder zu Bewusstsein gekommen und begab sich mit Mühen in die hintere Sektion.

“Was ist passiert?” fragte er.

Li zeigte mit der Hand in gespielter Übertriebenheit auf die tote Frau, als er ihn hörte. “Ich hoffe, Sie sind zufrieden”, sagte er. “Wegen Ihrer Unaufrichtigkeit mussten wir überhastet aufbrechen und deswegen sind Menschen gestorben, Antwan.”

Er hielt zitternd inne. “Ai! Das ist ungünstig. Aber es sind zum Glück noch genug Leute da, dass die Kolonie arbeitsfähig bleibt.”

“Arbeitsfähig?” Li brach in seinem Schock nach dem letzten Laut ab. “Ein Kind hat gerade seine Mutter verloren. Geht es Ihnen etwa nur darum? Dass die Leute für Sie arbeiten!?”

“Nein, nein! Natürlich nicht. Dass es dazu kommen musste, ist tragisch.”

Li schüttelte den Kopf und sagte mit erzwungener Ruhe: “Tragisch wäre es, wenn man den Tod nicht hätte verhindern können. Mit mehr Vorbereitung wäre das vielleicht gelungen.”

“Hey, wusste ich denn, dass eure Boote nicht mal vor ein paar Geröllhaufen sicher sind? Wenn ich das gewusst hätte, wären wir bei unserem Transportschiff geblieben.”

“Das… M-m. Nein. Jetzt reicht’s!” Li setzte bereits dazu an, auf Antwan zuzugehen, da packte Komander Lashenko ihn am Arm.

“Hören Sie auf, Yotekom! Auf der Stelle!”

“Komander…”

Lashenko zog ihn ins Cockpit. “Zetteln Sie hier keinen Kampf an, Yotekom, verstanden? Es gibt schon genug Verletzte!” sagte er scharf auf Terrango, damit die Siedler sie nicht verstünden. Seine Kopfschmerzen pulsierten heftiger.

Li hatte Feuer in den Augen und wollte in einem ähnlichen Tonfall etwas erwidern, dann schaffte er es aber doch, sich zu beruhigen, auch wenn es ihm sehr schwer fiel. Er sah zuerst missmutig Antwan an, dann sah er Lashenko in die Augen. “Komander, wenn ich etwas sagen dürfte, über die Ränge hinweg?”

“In dieser Situation?”

“Wenn es um die Sicherheit von uns allen geht?”

Lashenko erwiderte prüfend seinen Blick, dann sah er sich den Schutthaufen um ihn herum an. “Schön. Über die Ränge. Fangen Sie an, Mohamed.”

Li hielt einen Moment inne, um sich zu sammeln. “Diese ganze Mission über war ich Antwan misstrauisch, seit wir ihn kennengelernt haben. Die Begegnung mit ihm, als er uns angegriffen hatte, rechne ich da allerdings gar nicht mal mit ein.

“Sie haben Ihre Bedenken früh geäußert, das ist richtig.”

“Ja. Aber zu dem Zeitpunkt haben Sie und Gorbani nicht auf mich gehört. Natürlich haben Sie das Recht dazu, als meine Vorgesetzten. Die Entscheidung, den Siedlern – oder vielleicht sollte ich besser sagen, den Flüchtlingen zu helfen, damit kann ich leben, aber es gab zu viele unsichere Faktoren. Und jetzt stellt sich heraus, dass er uns wichtige Informationen vorenthalten hat, die die Sicherheit von uns allen gefährdet haben.” Er zeigte auf die verwundeten Siedler im hinteren Teil des Adlers. “Zwei Menschen sind tot und etliche müssen nun mit ihrem Verlust leben. Trotzdem nehmen Sie ihn noch in Schutz. Warum?”

“Das tue ich nicht!” sagte Lashenko aufgebracht, doch seine Schmerzen unterbrachen ihn. Er seufzte und rieb sich mit einer Hand die Augen. “Okay,” sagte er. Mit gezwungener Ruhe fuhr er fort: “Ich gebe es zu. Ja, ihm Vertrauen zu schenken hat sich am Ende als mein Fehler herausgestellt.” Anhand von Lis Reaktion sah Lashenko, dass er mit dieser Antwort wohl nicht gerechnet hatte. “In der Zukunft werden wir daraus gelernt haben und anders handeln. Aber wir müssen an das Jetzt denken. Wir haben hier und jetzt die Verantwortung für über fünfzig Leute, ob wir es wollen oder nicht. Wir können Sie nicht im Stich lassen. Dafür stecken wir schon zu weit drin.”

“Sie verstehen aber, dass wir damit weiterhin nach seiner Pfeife tanzen.”

Lashenko bejahte es nicht explizit, aber er merkte, wie seine Körpersprache verriet, dass Li Recht hatte.

“Nun gut”, sagte Li nach einer kurzen Zeit zur Beruhigung. “Sie haben Recht. Streiten hat keinen Sinn. Dann würde ich vorschlagen, Komander, dass wir unsere Situation analysieren.”

Komander Lashenko nickte ausdruckslos. “Dann machen wir das.”

Die beiden nickten sich zu und gingen aus dem Gespräch, wenn auch mit einem sehr angespannten Nachgefühl.

“Hey, seid ihr zwei fertig mit euren Verschwörungen da hinten? Wir müssen hier bald weg,” rief Antwan auf Yaswech. Scheinbar hatte er wirklich nichts verstanden.

“Zuerst müssen wir die Wunden versorgen, Antwan”, rief ihm Lashenko zu, ohne dabei nur einen Funken Emotion zu vermitteln. Hier sollte er ihm weiterhin nicht das Gefühl geben, ein Feind zu sein, zumindest solange wie sie mit ihm noch arbeiten mussten. Er kannte den Planeten und noch hatte er die Siedler auf seiner Seite.

Li, Lashenko und Antwan kämpften sich aus dem Wrack des schräg aufliegenden Adlers heraus, ebenso viele der Siedler, die zumindest soweit noch mobil waren. Sie betraten eine Gegend gespickt mit roten Felsen und niedriger Vegetation. Es stimmte, dass die Strahlung an der Oberfläche hier höher war als Menschen auf Dauer aushalten würden, aber laut ihren neusten Daten wären – zumindest für die meisten Besatzungsmitgleider der Kupe – dafür längere Aufenthalte von mehreren Stunden bis Tagen nötig, um ernsthaftere Schäden davonzutragen. Außerdem wurde es bald Nacht. Wenn sie sich im Schatten der Felsen aufhielten, sollten sie zumindest davor sicher sein. Also noch kein Grund für Blei im Schädel, auch wenn es sich für Lashenko gerade so anfühlte.

Er behielt das Schutzvisier seines Helms diesmal offen und er roch zum ersten mal die Luft dieser Welt. Es fühlte sich für ihn surreal an, endlich mal wieder Wind um die Haut zu spüren und den süßlichen Geruch zu vernehmen, den die Felsen und Pflanzen verströmten. Es war zwar schön, aber sehr schnell wurde er sich wieder der Situation bewusst, in der sie waren. Sie mussten diese Menschen so schnell wie möglich in Sicherheit bringen.

“Die Antriebe sind hin,” meinte Li, der sich auf die Anhöhe zu Lashenko begab. “Die Abstoßantriebe haben einen kompletten Totalschaden. Und die Koms größtenteils auch. Das heißt, wir müssen wohl oder übel zu Fuß.”

“Verstehe. Das ist schlecht.” Lashenko generierte eine holografische Karte mit seinem HAVI und dem Scanner, die zum Glück weitestgehend unversehrt waren. “Der eigentliche Landeort ist mehrere Kilometer in Richtung Nordwestwest und wir müssen eine unnachgiebige Landschaft überwinden. Sind wir denn so mobil?”

Li schüttelte den Kopf.

“Wir können fürs Erste auch hier bleiben,” sagte einer der Siedler und die beiden Astronauten sahen zu ihnen. “Diese Felsen sollten uns guten Unterschlupf geben. Und sobald die Nacht vorbei ist, sehen wir nach, was diese Gegend zu bieten hat.”

“Nein! Das ist zu gefährlich!” entgegnete Antwan ihm. “Nur in der Höhle bei der alten Siedlung ist es wirklich sicher. Glaubt mir!”

“Und Eadan? Wären wir da nicht auch sicher gewesen? Wir hatten alles. Jetzt weiß ich nicht mehr, warum wir das aufgegeben haben”, sagte eine Frau.

“Wir können nicht zurück. Das wäre genau das, was die auf Eadan wollen!”

Die Frau sah ihn ungläubig an.

“Die wollen uns nicht hier haben, sondern bei denen, wo sie uns kontrollieren können, in ihrer sogenannten Sicherheit. Schön behütet und brav in einem kuppelförmigen Käfig, der uns krank macht. Wo sie uns einsperren und mit Gift füttern. Hier wären wir frei, aber das passt denen natürlich nicht. Und daher jagen sie uns, bis sie uns haben!” Er drehte sich zu den restlichen Siedlern. “Versteht ihr denn nicht? Wir waren Sklaven! Habt ihr das schon vergessen!”

Unter den entmutigten Siedlern machte sich Gemurmel breit.

“Ihr wisst doch, dass die Gesellschaft auf Eadan verkommen ist. Daher ist es an der Zeit, dass wir aufbrechen und eine neue Gesellschaft aufbauen. So wie unsere Vorfahren, die Marsianer, die damals Eadan besiedelt haben. Genauso wie es ihre Vorfahren, die Terraner, taten, als ihre Gesellschaft verkommen ist.”

“Aber was ist mit den Toten, Antwan? Wir können sie nicht zurücklassen. Wir müssen sie beisetzen”, sagte eine Siedlerin.

Antwan schüttelte den Kopf. Er wurde von Zeit zu Zeit unruhiger. Lag das allein am Absturz? “Dazu haben wir keine Zeit. Wir werden sie zurücklassen müssen.”

“Das kann ich doch meiner Geliebten nicht antun, Antwan!” rief jemand hörbar aufgebracht. Es war der Vater des Mädchens, das seine Mutter im Zusammenprall eben verloren hat.

Antwan ging auf den Witwer zu und legte beide Hände auf die Schulter. “Esmat, Ich teile deinen Schmerz. Shayma war eine wundervolle Person und auch mir hat sie einiges bedeutet. Sie hat es nicht verdient zu sterben.”

“Wenn ich gewusst hätte, dass das passiert, dann…” Der Mann stand den Tränen nahe und drückte Antwans Hände feste.

“Wir werden zurückkehren und die Leiber der Toten begraben. Das verspreche ich dir, Esmat. Euch allen!” Er sah in die Masse um sich, während er langsam von ihm losließ. “Ich… ich meine wir sind so nahe an unserem Ziel. Wir können jetzt nicht aufgeben, nicht nach all den Jahren, hört ihr? So lange haben wir darauf hingearbeitet!”

Man merkte, wie emotional Antwan wurde. Er versuchte vielleicht, mit seiner Rede den Siedlern Mut zu machen, aber auf Lashenko wirkte er eher, als würde er die Fassung verlieren. Und er war sich sicher, dass es nicht die tote Frau war, die das in ihm auslöste.

“Deinen inspirierenden Worten alle Ehre”, mischte sich der Komander ein. Aber hast du dich umgesehen? Bis zur Siedlung ist es noch ein ganzes Stück und über dieses Gelände wird es kein Spaziergang werden. Dazu kommt, dass wir keinen Kontakt mehr mit der Kupe oder den anderen Beibooten haben. Mit ein bisschen Glück wissen sie zumindest, wo wir ungefähr abgestürzt sind, aber darauf können wir uns nicht verlassen.”

“Geht ihr,” sagte der Siedler Esmat. “Ich bleibe bei den Verletzten und bei meiner Frau. Wir werden einen Notsender bauen und mit euch in Verbindung bleiben. Sobald unsere Freunde vom großen Schiff uns kontaktieren, leiten wir sie zu euch weiter.”

“Aber die Angriffe?”

“Ich denke, hier kann man sich trotzdem gut verstecken, falls es dazu kommt. Davon abgesehen, sind wir ein viel größeres Ziel, wenn wir uns mit euch bewegen und euch verlangsamen.”

“Er hat Recht, Antwan”, stimmte Lashenko ein. “Die Verletzten sind nicht in der Lage, mit euch mitzugehen. Es wäre besser, sie später in einem weiteren Beiboot abzuholen, sobald die Gefahr vorbei ist.

Antwan schloss die Augen und begann langsam, dann immer schneller zu nicken. “Ich verstehe. Dann sei es so. Versprecht mir, dass wir eines Tages einander aufschließen werden.”

“Das werden wir!” sagte Esmat und packte seine Schultern.

Antwan tat es ihm gleich und sah ihm lange in die Augen. “Wir machen Kena’an unser eigen! Diese Welt wird ein Paradies werden! Wir schaffen das, wenn wir zusammenhalten!”

Zustimmende Rufe ertönten vereinzelt und die Siedler begannen, verhalten zu klatschen. Unsicher blickten sie sich an und begannen, murmelnd den Reiseproviant und alles zu sammeln, was sie tragen konnten und benötigen würden, um in ihrer zukünftigen Heimat zu bestehen.

Lashenko begab sich wieder zu Yotekom Li.

“Also was hochtrabende Reden angeht, ist an ihm wirklich ein Politiker verlorengegangen, wenn auch kein guter”, sagte Li abschätzig und humorlos. “Und die Geschichte zu verfälschen und für seine eigenen Zwecke zu benutzen, hat er auch drauf. Farmát würde bestimmt einiges geben, ihn in seinem Kabinett zu haben.”

Lashenko sah Antwan missmutig entgegen und ignorierte Lis Kommentar zur Terranischen Politik. “So langsam beginne ich Ihr Misstrauen gegen unseren Gast immer mehr zu verstehen, Yotekom.”

----------------------------------------

Der Weg über das Terrain war noch beschwerlicher als gedacht. Auch wenn es langsam Abend wurde, war es noch heiß genug. Die Vegetation war gerade mal niedriges Buschwerk und reichte nicht aus, um den Untergrund der wechselhaften Landschaft zu stabilisieren, sodass man wirklich jeden Schritt mit äußerster Vorsicht wählen musste. Mehrfach rutschten einige der Siedler auf dem losem Geröll ab. Dankenswerterweise war die Hälfte des Weges bereits geschafft, den Lashenko mit seinem Pfadfindertraining setzen konnte, allerdings würde er noch schwieriger werden, sobald die Genet-Sonne untergegangen ist und es hier stockduster werden würde. Auch jetzt schon fiel es den Menschen immer schwerer, das zu sehen, was vor ihnen lag. Sie wanderten am Hang eines Felsens vorbei, an dem ein schmaler Grat von mehr oder weniger flachem, aber noch lange nicht ebenem Gefälle war. Kleinere Splitter und größere Brocken säumten den Weg. Von jeder Größe war etwas dabei.

Li sah in den Himmel. Er sah atemberaubend schön aus, doch das Fehlen einer schützenden Decke bereitete ihm Unbehagen. Er schloss zu Lashenko auf, sodass sie nebeneinander hergingen.

“Komander, sie haben es sicherlich bemerkt, oder?”

Interessiert blickte er zu Li. “Was genau, Yotekom?”

“Das Ausbleiben der Luftschläge.”

Lashenko nickte. “Ja, das ist mir auch aufgefallen. Ich erwarte jederzeit, dass irgendwas in der Nähe passiert, aber bisher scheint die Kupe jeden möglichen Angriff abgefangen oder verhindert zu haben. Das ist gut.” Er behielt das Kom-Modul auf seinem HAVI weiterhin im Auge, im Falle dass ein Funkspruch von der Kupe zu ihm weitergeleitet wird. “Antwan sagte, die Ye’eadan kennen die Position des Überhangs nicht, unter der sich das Dorf befindet. Das würde dafür sprechen.”

“Ich bin gespannt, ob diese Höhle oder besser gesagt dieser Bunker tatsächlich sicher ist. Höhlen können einstürzen und die Felsen hier sehen mir sehr nach…”

Li brach ab, als Lashenko plötzlich über einen der Steine stolperte, zu Boden fiel und über die Felskante rutschte. Er reagierte blitzschnell, packte ihn am linken Arm und schleuderte ein Rettungskabel an den Fels, das sich geschwind daran ansaugte. Einige der Bewohner eilten ihm zu Hilfe, damit der nun kniende Li nicht ebenfalls herunterfiel. Er versuchte, sich in die Hocke zu begeben. Nach einiger Anstrengung gelang ihm dies auch, ohne selbst den Halt zu verlieren. Dann packte Lashenko Lis Hand nun auch noch mit seiner rechten und der Yotekom zog ihn erfolgreich hoch.

“Danke…” sagte Lashenko keuchend, als er wieder Halt auf dem schmalen Pass fand. “Das war knapp!”

“Sind Sie verletzt?”

“Nein, zum Glück nicht. Vielleicht eine Prellung, aber mir fehlt nichts.”

“Wir müssen hier wirklich besser achtgeben.”

“Ja– Das ist kein Andenspaziergang hier–” Er pausierte, um Luft zu holen. “Erst nach zwei Kilometern erreichen wir das flachere Plateau. Und mir fällt es mittlerweile auch viel schwerer, etwas zu erkennen. Verdammt, ist das schnell duster geworden! Ich gebe den Befehl an unsere Crew raus, die Nachtsicht einzuschalten. Leider können wir den Siedlern nicht dasselbe sagen, daher müssen wir alle auf sie aufpassen.”

“Wir könnten jedem ein Licht geben. Dann verlieren wir uns nicht so einfach.”

“Das ist eine gute Idee. Dann verteilen Sie bitte die Lichter, Yotekom.”

Ihre Karawane ging weiter und erreichte bald einen Abschnitt, der etwas breiter und ebener, und links und rechts gesäumt von gestreiften Büschen war. Mittlerweile sah man aber gerade noch so die eigenen Füße, sodass es höchste Zeit für sie wurde, die Lichter einzuschalten. Eine Erleichterung für viele der Menschen, für einen allerdings nicht. Antwan stürmte zu ihnen.

“Ihr Idioten! Macht das aus! Sofort!” rief er flüsternd und begann, sie ihnen aus der Hand zu reißen und auszuschalten. “Sofort aus! Wollt ihr uns alle umbringen!?”

“Warum? Was soll denn hier sein?” fragte Li ohne die Lautstärke zu senken.

“Pssst!” sagte er und zeigte den anderen mit erhobenem Zeigefinger, still zu sein. Er schaute – oder besser gesagt hörte sich um. Langsam bewegte er sich in die Richtung des Gebüschs und zog sein Gewehr. Er entriegelte es langsam und zielte. Die Stimmung in der Karawane war gespannter als ein Bogen. Keiner wagte es, auch nur ein Geräusch oder eine Bewegung zu machen, nicht einmal die jüngeren.

In einer flinken Bewegung schwenkte er das Gewehr ein Stück nach links und schoss.

Er schien etwas getroffen zu haben. Nach dem lauten Knall hörte die Karawane ein tiefes Grummeln aus dem Buschwerk. Es klang beinahe katzenartig, aber eine Katze war es ganz bestimmt nicht. Das Tier floh in die Büsche, doch die Offiziere konnten es nicht mehr ausmachen. Dafür bewegte es sich zu schnell.

“Ai!” fluchte Antwan leise.

“Haben wir es verjagt?” fragte Lashenko.

“Ja. Aber leider nicht getötet!

“Aber so wird es uns doch in Ruhe lassen, oder? Das ist doch gut oder nicht?” fragte Li.

“Nein! Das ist schlecht. Sehr schlecht. Das war ein– wir nennen es einen ‘Tenesh Kutkwat-Nebir’.” Das Rosetta-Modul ließ den originalen Namen bei, gab aber eine Übersetzung als Randnotiz.

“Ein Kleiner Strauchtiger? Na besser als ein großer, oder?” sagte Li unsicher lachend und in moderater Lautstärke.

“Leise!” fauchte Antwan ihn an. “Sie haben ein extrem gutes Gehör. Nicht dass sie jetzt eh schon wissen, wo wir sind. Und nein, das ist nicht gut!”

“Sie?” fragte Lashenko.

“Die Großen Strauchtiger sind Einzelgänger. Stark, aber ziemlich dumm. Wenn man sie in Ruhe lässt, lassen sie einen auch in Ruhe. Die kleinen hingegen sind Rudeltiere und jagen mit vier bis zehn Artgenossen. Sie sind außerdem nachtaktiv und extrem flink. Vor denen muss man sich in Acht nehmen!

“Aber der hier war alleine”, meinte Lashenko.

“Ja. So jagen sie. Einer schleicht sich an die Beute heran, um die Größe einer Herde auszumachen. Dann kehrt er zurück zu seinem Rudel und sie schlagen gemeinsam zu.”

“Ein Späher. Verstehe. Schleichen sie sich danach auch an die Beute heran oder machen sie eine Hetzjagd wie Wölfe?”

“Ich weiß nichts über Wölfe, aber wenn die Herde bereits alarmiert ist, verfolgen sie die Beute und greifen direkt an.”

“Dann sollten wir uns beeilen, bevor sie uns umzingeln. Li, sie wissen, was zu tun ist?”

“Ich denke ja. Ich meine, wenn sie ankommen, haben wir immer noch unsere Morph-Waffen.”

“Dazu dürfen wir es im besten Fall nicht kommen lassen. Ich habe einmal mit einem Wolf gekämpft. Denen geht man am besten aus dem Weg, auch wenn man ein Gewehr hat,” sagte Lashenko.

“Ich dachte immer, Wölfe greifen keine Menschen an.”

“Normalerweise nicht, solange sie nicht kurz vorm Verhungern sind. Dann können sie auch schon mal einsame Menschen angreifen.”

“Mit kleinen Strauchtigern kämpft man auch besser nicht, zumindest nicht hier, wo sie den Vorteil haben. Wie lange, bis wir aus diesem Buschwerk raus sind?” fragte Antwan.

“Noch ein paar hundert Meter”, sagte Lashenko. “dann kommt ein etwas offeneres Areal und dort ist die Siedlung nicht mehr weit.”

“Das könnten wir schaffen, wenn wir uns beeilen. Wenn es zu einem Kampf kommt, dann am besten dort.”

“Gut, dann lasst uns keine Zeit mehr verlieren. Verteilen Sie alles, was als Waffe verwendet werden kann, an die Bewohner. Befehlen Sie unseren Leuten, gefechtsbereit zu sein, Yotekom.”

“Ähm– Ja Komander!” sagte Li überfordert.

“Wir müssen einiges, was entbehrlich ist, erstmal hier lassen. Vielleicht können wir auch unseren Proviant auf der Strecke verteilen, damit sie aufgehalten werden”, meinte Lashenko.

“Gute Idee. Wir sollten die Siedler von allen Seiten schützen. Ich kenne den Weg und gehe voran”, erwiderte der ehemalige Einsiedler.

----------------------------------------

So ließen sie dann schwerere Rucksäcke auf der Strecke liegen und verteilten die Nahrungsmittel auf dem Weg. Es gelang den Astronauten mittlerweile, zu den anderen Gruppen, die schon bei der Siedlung und den Höhlen gelandet sind, Kontakt aufzubauen. Sie wurden von der Situation unterrichtet und würden Hilfe zum Treffpunkt senden.

Da die Strauchtiger bereits auf dem Weg waren, wurden nun doch die Lichter eingeschaltet, damit die Menschen, die viel schlechter sehen konnten, beim Laufen nicht erneut stolperten. Das sollte den anderen auch die Ortung erleichtern. Sie rannten, so schnell das Terrain es ihnen erlaubte. Auch hier im Buschwerk war es noch ziemlich felsig und voller Geröll. Doch die Menschen waren nicht die einzigen, die rannten.

Li befand sich links außen. Die Crewmitglieder haben einen Kreis um die Siedler gebildet und blieben in Funkkontakt. Alle wurden konstant geortet, damit sich niemand verlief und von der Gruppe entfernte. Antwan führte die Gruppe. Obwohl Li es sich selbst nicht zugeben wollte, vertraute er wenigstens auf seine Ortskenntnisse, wenn auch sonst nicht mehr viel bei ihm.

Einige Meter rechts neben ihm konnte er die Siedler mit ihrem Lampen noch ausmachen, die über Stöcke und Steine hinwegliefen. Und auch links von ihm bewegten sie sich.

Moment? Links sollte aber keiner sein!

Dort sah er nichts, aber er hörte Stöcke und Steine knistern.

Bald darauf sah er im dichten Buschwerk Schatten vorbeihuschen und das Geräusch umgerollter Steine wurde immer lauter. Er sah, wie zwei dieser Schatten auf seiner Höhe liefen und das Laubwerk zum Zittern brachten.

Und sie kamen immer näher. Das war schlecht! Panik ergriff ihn. Neben ihm unbekannte Monster und über ihm die Weite des sternenübersäten Alls. Gefahr aus allen Richtungen. Am liebsten wollte er sich am Boden festklammern, aber das konnte er nicht. Doch in ihm war noch eine weitere Angst. Eine viel ältere… und stärkere.

A case of content theft: this narrative is not rightfully on Amazon; if you spot it, report the violation.

Nein! Die Gefahr ist neben mir, nicht über mir! Er riss sich zusammen und machte der anderen Angst in seinem Herzen Platz.

“Li an alle, hier sind zwei Tiger auf neun Uhr!” rief er keuchend durch das Kom.

“Verstanden!” ertönte Lashenkos Stimme. “Hier sind auch mindestens drei. Ich erteile Schussfreigabe. Vielleicht wird sie das lange genug verscheuchen.”

“Verstanden!” sagten Li und die anderen Offiziere gleichzeitig.

Er wusste, was er tun musste. Li packte die ältere Angst und nutzte sie für sich.

Bin gespannt, wie euch das schmeckt!

Er entholsterte seine Handwaffe. Mittlerweile konnte er sogar Beine erkennen, aber wieviele es waren, sah er nicht. Sollte er sie mit seinen Morph-Kugeln treffen, wird sie das hoffentlich erst mal außer Gefecht setzen. Er schoss in Richtung der Schatten und hörte ein Brummen. Hatte er getroffen? Der Schatten entfernte sich. Es schien so, als würden die Tiere abdrehen. Vor sich hörte er Antwans Waffe, die im Gegensatz zu seiner richtigen Krach machte.

Li hatte sich getäuscht. Sie sind nicht abgedreht, sondern die Schüsse schienen sie nur aggressiver zu machen, denn jetzt bewegten sie sich klar auf ihn zu.

Ein Paar Meter noch, dann sind wir auf dem Plateau!

Das Tier sprang schräg aus dem Gebüsch und warf sich auf Li. Doch dieser reagierte schnell und hob seine Waffe. In dem Augenblick, als es kaum einen Meter mehr vor ihm war, zog er erneut ab und das Projektil traf dem Ungetüm mitten ins Gesicht. Es kreischte und klatschte auf den Boden. Ihm kam ein Triumphgefühl hoch, das ihn beängstigte, aber es gab ihm Kraft und die brauchte er jetzt.

Die Vegetation wurde immer dünner und er konnte bereits sehen, wie sich am Ende eine Lichtung auftat. Nur noch zehn Meter! Er hörte Schüsse und Rufe hinter ihm. Dann sprang er durch den Busch. Das Plateau!

Li und viele der anderen Crewmitglieder und Siedler rannten aus dem Buschwerk und endlich konnte er seine Artgenossen sehen. Wie besprochen, bildeten die Astronauten, die nun in einigen Metern Entfernung zueinander standen, vor dem Buschwald eine Linie, bis wenig später die Strauchtiger ankamen. Die Siedler waren nun alle an ihnen vorbei, da kamen auch schon die ersten von der Seite und das Feuergefecht begann erneut.

Die Tiger sprangen hervor und auf sie zu. Doch Li zögerte. War er von dem Aussehen des Dings überrascht? Es sah überhaupt nicht wie ein Tiger aus, so wie er es mal in Simulationen und Bilderbüchern gesehen hatte. Sie hatten ein gestreiftes Fell, aber da hörte die Ähnlichkeit auch schon auf. Stattdessen hatten sie sechs dicke Beine, der Kopf ging fast direkt in den Torso über und ihr Gesicht zierte drei kreisrunde Augen, sowie ein extrem breites, hässliches Maul. Vor Schreck vor diesem Anblick haute er dem Vieh eine mit seiner Waffe über, statt zu schießen, sodass sie aus seiner Hand flog.

Der Schlag war hart und der Strauchtiger blieb wie gebannt vor ihm stehen. Dann schüttelte er sich und sprang wieder knurrend auf ihn zu. Seine Stoßzähne, die auch bei geschlossenem Maul herausragten, trafen ihn und er fiel nach hinten, doch er konnte das Ungeheuer mit einem Tritt gegen seine Unterseite wieder von sich schleudern, bevor es zu einem erneuten Biss ansetzen wollte.

“Hör auf!” schrie Li. “Bleib weg, hörst du? Verpiss dich!”

Es war vergeblich. Das Tier kannte seine Sprache natürlich nicht. Er nahm sich einen Stock und haute damit auf es ein, trat nach ihm, aber das machte ihm kaum etwas aus.

Gab es denn keine Möglichkeit, es von ihm abzuhalten? Nicht mehr lange, dann würde ein Körperteil in seinem zähnebewehrten Maul landen.

Dann schlug eine kleine Explosion vor dem Tier ein, welches erschrocken zurückwich und die Haltung wechselte. Jemand hatte geschossen.

Das war doch Antwans Gewehr, oder nicht?

Er hatte Recht. Der Einsiedler rannte zu ihm und feuerte einen erneuten Schuss ab, der das Tier traf, aber nicht verwundete. Eingeschüchtert zog es sich zurück.

“Verletzt?” rief er außer Atem.

“Nein, es hat mich zum Glück noch nicht erwischt!”

Antwan stützte sich rechts neben Li auf das Gewehr und streckte ihm den Arm aus. Jener nahm ihn und zog sich wieder nach oben. Li hatte er damit gerettet, doch das war ein fataler Fehler für ihn. Der eben noch so devote Strauchtiger ging nun auf Antwans rechten Arm los und biss zu. Jener schrie unter Schmerzen auf und fluchte Dinge in seiner Sprache, für die es keine Wörterbucheinträge gab. Das Tier zog und riss an seinem Arm. Li durfte keine Zeit verlieren. Doch was sollte er… Dann sah er seine Pistole am Boden. Er rannte zu ihr und ohne zu überlegen, schoss er dem Tier mehrere Schüsse in sein mittleres Auge. Und langsam schien das Tier loszulassen und zu erschlaffen. Der Biss um Antwans rechten Arm lockerte sich und er zog den Arm erfolgreich aus dem Maul.

“Die Augen! Zielt auf ihre Augen!” rief Li und die anderen schienen ihn gehört zu haben. Mittlerweile sind auch die anderen Offiziere angekommen und halfen dabei, die Tiere zu vertreiben. Die Pseudo-Wildkatzen schienen es begriffen zu haben, dass mit den Menschen nicht zu scherzen ist, denn auch die letzte suchte nun das Weite, nachdem seine Kameraden nach und nach fielen. Die Menschen haben sie erfolgreich abgeschüttelt.

Sekunden nachdem der letzte Strauchtiger verschwunden war, hörte Li Jubeln, aber ihm war anders zumute. Was ist da mit ihm gerade passiert? Noch nie hatte er so etwas gefühlt, wie vorhin, und das verstörte ihn. Die unbekannte Angst, die Wut, der Triumph, war das noch Agoraphobie? Er wusste es nicht. Es waren zu viele Gefühle auf einmal.

“Scheiße! Das sieht übel aus!” sagte Li und wurde aus seiner Trance entrissen, als er sich Antwans Arm ansah. “Wir brauchen einen Notarzt, schnell!” Die zugestoßenen Astronauten hörten ihn und es eilte jemand von den Medizinern zu Hilfe.

Antwan wimmerte vor Schmerzen. Sein Arm war komplett bis auf den Knochen zerfleischt. Sie mussten schnell sein, bevor die Bakterien den Rest des Körpers infizierten. Eine Medizinerin band den Blutkreislauf zum Arm ab, gab ihm ein antibiotisches Mittel und umwickelte den massiv blutenden Arm mit einem Druckärmel.

“Uff”, sagte Li, dessen Herzschlag immer noch alle anderen Geräusche für ihn übertönte. “Bis der wieder verheilt ist, kann es Monate dauern.”

Mit einem ihrer Androiden-Kollegen hob sie Antwan auf eine Schwebetrage und sie transportierten ihn zur Siedlung.

“Was ist passiert?” rief Lashenko, der soeben herbeigeeilt kam. “Geht es Ihnen gut, Yotekom?”

Li hörte ihn kaum, aber er nickte. “Mir schon. Aber er hat die volle Ladung abgekriegt.”

“Ah. Man sieht’s.”

“Er hat mich vor einem der Viecher gerettet. Das muss man ihm lassen.”

Komander Lashenko lächelte leicht. “Hätten Sie nicht erwartet, was?”

Li schüttelte den Kopf. “Ich schätze, unser Proviant hat sie nicht wirklich aufgehalten.”

Der Komander zuckte mit den Achseln und begab sich zusammen mit Li, sowie den Sanitätern langsam in Richtung der Siedlung. “Pflanzenbasierte Erzeugnisse halten selten Fleischfresser auf.”

“Tja, zu blöd, dass Nikos nicht hier war. Vielleicht hätten wir mit ihrer Hilfe ja einen Dialog mit diesen Wesen aufbauen können.”

Lashenko lachte schallend, doch er verstummte schnell, als er merkte, dass Li ihn nur verwundert anstarrte.

“Moment, Sie meinten das doch gerade nicht ernst, oder?”

Li verstand die Frage nicht.

“Ah. Tut mir leid. Ich vergesse, dass Sie nie in der Wildnis waren.”

“Wie meinen Sie das, Komander?”

“Mohamed, das sind wilde Tiere. Die haben keine richtige Sprache so wie wir. Gerade dann nicht, wenn sie Hunger haben. Dann verstehen sie meistens nur jagen und fressen.”

“Oh, okay. Das… Das wusste ich.”

Lashenko kicherte und schüttelte amüsiert den Kopf. “Sie sollten wirklich mal in die freie Natur gehen. Auf Terra gibt es da viele Orte, die ich empfehlen kann.”

“Ja. Ja, womöglich haben Sie Recht. Das wäre gar keine schlechte Idee. Aber dann bitte ohne Raubtiere.” Er nahm einen kurzen Blick zurück in Richtung des Buschwaldes, der ihm in seiner Stille noch bedrohlicher vorkam. “Wissen Sie, vielleicht könnte ich in meinem nächsten Urlaub ja mal in die Mongolei fliegen. Wollen Sie mitkommen?”

Lashenko blieb kurz stehen und sah ihn hämisch an. “Wissen Sie, vielleicht lassen wir die Idee doch lieber. Die Mongolei wäre sehr weit unten auf meiner Liste und die würde ich Ihnen auch nicht empfehlen”, sagte er neckisch.

“Wirklich? Und warum, wenn ich fragen darf?”

“Also sagen wir mal so, im Wilden Westen Asiens würden Sie sicher nicht sehr lange überleben. Vielleicht eher Lappland. Da ist es schön ruhig und das einzige, was man befürchten müsste, sind wilde Elche.”

“Also hören Sie mal!”, sagte Li amüsiert, während sie sich mit den restlichen Offizieren zur Siedlung begaben. Doch die frische Erinnerung an dieses Gefühl wurde er nicht los.

----------------------------------------

Die Astronauten erreichten wenige Zeit später den Felsüberhang. Die nachkommenden Siedler des abgestürzten Adlers stießen zu den anderen auf und sie wurden mit offenen Armen empfangen. Lashenko sah aus der Ferne, wie bei einigen die Stimmung umschwang und wahrscheinlich war genau das der Punkt, als sie ihnen von den Opfern erzählten, die dieses Unterfangen für sich beanspruchte. Andernorts wurden Lager aufgeschlagen und Habitate inspiziert. Sie machten scheinbar bereits unter sich aus, wer welche der alten Gemäuer übernehmen darf. Vor allem waren es die Kinder, die sich in den Ruinen austobten.

Li und Lashenko waren auf einer unbebauten Anhöhe, von der aus sie das nicht mehr ganz so tote Dorf überblicken konnten, genauso wie die Sonne Genet, die gerade über Kena’an aufging und die ersten Lichtstrahlen an die Felsen in der Ferne warf.

Entgegen den ‘Vorschlägen’ der Medizinerin – was sehr nett formuliert war – sich zu schonen, ging Antwan auf seinem alten Gewehr gestützt zu den beiden Aurora-Offizieren. Er sah noch wilder aus, als zu der Zeit, als sie ihn getroffen haben. Sein rechter Arm lag in einer Armschlinge, seine Haut war voller Prellungen und seine Kleidung und Haare voller Staub.

Er sah herunter, als er die beiden erreichte. “Ah, mein Gewehr, es ist kaputt. Nun taugt es nur noch als Wanderstock. Naja, jetzt brauche ich es sowieso nicht mehr.”

“Du hast es tatsächlich geschafft. Du hast deine Leute hierhin gebracht”, sagte Lashenko nüchtern.

Antwan lächelte voller Bescheidenheit. “Das habe ich euch zu verdanken.”

“Mh. Und die Leute werden vor dem Regime hier sicher sein?”

“Machen Sie sich keine Sorgen, Komander. Die Ye’eadan werden ihnen hier nichts tun.”

“Ist das so?” Er blickte ihm tief in die Augen, doch Lashenkos typische Warmherzigkeit verflog für einen Moment. “Wir haben die Feuerkraft der Ye’eadan gesehen. Für uns sind sie kein Problem, aber wir werden bald aufbrechen. Können der Felsen und die Höhlen darunter einer solchen Barrage denn wirklich standhalten, so bröckelig wie das Gestein hier ist?”

Antwan erwiderte seinen Blick. Er wandte ihn weder ab, noch blinzelte er. Nein, er lächelte ihn nur an, mit einer Gelassenheit, die sie in ihm bisher noch nie gesehen haben. Die Müdigkeit, die er am Anfang noch hatte, war verflogen. Antwan sagte nichts.

“Oh, einen Moment… Ich erhalte gerade eine Meldung,” sagte Yotekom Li. “Das könnte die Kupe sein, ich übernehme das mit Ihrer Erlaubnis.”

“Nur zu”, erwiderte Lashenko.

Li sah auf dem Radar der Übersichtskarte auf seinem HAVI zwei Punkte. Das waren– Li weitete die Augen.

“Komander, ich glaube, wir haben ein Problem. Unsere Sensoren melden Schiffe, die sich von Südosten nähern.”

“Was für Schiffe?”

“Mehrere kleine. Ich glaube, es handelt sich dabei um Beiboote der Ye’eadan-Flotte. Wir sollten schleunigst die Evakuierung einleiten.”

“Lassen Sie das. Machen Sie sich bitte wirklich keine Sorgen, Yotekom Li. Es ist alles in bester Ordnung”, sagte Antwan immer leiser und betonte vor allem die letzten zwei Worte.

Lashenko stand mit verschränkten Armen neben ihm und sah Antwan an, der zufrieden in Richtung der Siedlung schaute.

“In bester Ordnung? Haben die Mediziner Ihnen zu viel Schmerzmittel gegeben? Oder läuft Ihr Übersetzer nicht richtig? Wir müssen die Leute in die Höhle bringen.”

Er schmunzelte und winkte ab. “Oh, ich habe Sie verstanden. Ganz deutlich. Es besteht keine Gefahr für die Siedler. Die Ye’eadan kommen, um mich abzuholen, Yotekom. Die anderen Siedler interessieren sie eigentlich nicht. Was soll ich sagen, das ist nun mal die Strafe, wenn man tötet.”

Li sah ihn überrascht an und sagte unsicher: “Was meinen Sie?”

“Ja,” sagte er und atmete dabei aus “...ich habe sie damals alle getötet.”

Nun veränderte sich auch Lashenkos Miene, bei dem was Antwan da sagte. Hatten sie das gerade richtig verstanden oder lag es immer noch an seinem Geisteszustand?

“Ausnahmslos”, sagte er mit einer nie dagewesenen Gelassenheit. “Und jetzt kann ich endlich dafür geradestehen. Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen und Ihrer Crew meinen Dank ausdrücken sollte für die Hilfe, die Sie mir geleistet haben.”

Endlich konnte Li den Mund aufmachen. “Warten Sie. Sie haben was!?”

“Eine Missernte gab es nie. Und auch Strahlung hat die Sielder nicht getötet. Das war ganz allein ich, Yotekom. Ich habe die Wassertürme vergiftet, verstehen Sie? Ich nahm das Gift von einer Pflanze hier auf dem Planeten – Ein gutes Arzneimittel, aber schon einige Blüten können gefährlich sein, passen Sie auf, wenn Sie noch hier bleiben wollen – Nun, dieses Gift habe ich extrahiert, nachts in die Tanks gefüllt und dann verließ ich die Siedlung. Über mehrere Tage wirkte es auf die Bewohner und recht bald gingen sie zugrunde.”

Li und Lashenko tauschten fassungslos einen Blick. Verarschte er sie gerade?

“Doch als ich zurückkam, realisierte ich überhaupt erst, was ich da getan hatte. Die einzigen Menschen die ich je kannte hatte ich eben getötet. Also bin ich gerannt. Gerannt und gerannt in die Wildnis, da ich es einfach nicht wahrhaben konnte. Oh, so viele schmerzhafte Jahre, die ich ziellos herumgewandert bin. So viele Jahre habe ich gereut und getrauert. Dann wurde mir klar, dass das nicht genug war. Ich musste meinen Fehler wiedergutmachen. Daher habe ich die letzten Jahrzehnte alles daran gesetzt, diese Siedlung wieder zu beleben. Und endlich! Endlich ist es vollbracht!”

Antwan lachte herzlich. Lauter und länger als sie es jemals zuvor von ihm gehört hatten. War er jetzt übergeschnappt? Nein. Irgendwie hörte es sich nicht manisch oder verrückt an, somdern fröhlich. Wirklich fröhlich.

“Und die ganze Geschichte mit der Verfolgung der Siedler war auch ausgedacht?” fragte Lashenko mit erzwungener Ruhe.

Antwan nickte langsam.

Dann lachte der Komander auf. “Nicht zu fassen! Ich wusste, dass etwas faul war, so wie die Siedler sich verhalten haben. Aber das!?”

“Es schmerzt mich wirklich sehr, dass ich euch so hinters Licht führen musste, aber es war notwendig, damit ihr mir helft, meine Siedlung wieder lebendig zu machen. Zusammen haben wir es geschafft und ich habe endlich Frieden gefunden. Ihr könnt meine Dankbarkeit gar nicht…”

“Genug!” unterbrach Lashenko ihn zornig. “Yotekom Li?” Der Komander entriss Li aus seiner Starre. “Sie haben die Erlaubnis, unseren Freund Antwan festzunehmen.” Er betonte das Wort ‘Freund’ überlang. “Sobald die Ye’eadan-Flotte eintrifft, werden wir ihn ihrem Justizsystem übergeben.”

Li atmete tief durch und ohne eine Emotion in seiner Stimme zu zeigen, sagte er: “Sehr gerne, Komander.” Dann nahm er Universalhandschellen aus seiner Tasche und fesselte Antwans Hände hinter seinem Rücken.

“Eine Frage aber noch, Freund. Warum?”

Antwan sah den Komander an, scheinbar verwundert.

“Warum ich es damals getan habe, meint ihr? Hm, tja, warum…” Er legte eine sehr lange Denkpause ein. “Ich– bin ganz ehrlich, ich weiß es gar nicht mehr. War es ein Disput?”

“Wollen Sie uns jetzt immer noch verarschen, Antwan? Das ist wahrhaft ehrenlos!”, entgegnete Lashenko.

Antwan schüttelte den Kopf. “Nein, wirklich. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, außer an Wut. Eine Menge Wut. Auf die damaligen Siedler, auf die Gemeinschaft, alles einfach. Aber an einen Grund… So lange ist es jetzt schon her.”

Li wusste nicht, was er sagen sollte. Und selbst wenn er es wusste, wäre alles trotzdem nicht richtig gewesen. Deswegen führte er Antwan schweigend ab und wies ein paar leicht verwirrte Wach-Offiziere an, ihn in Gewahrsam zu halten, bis die Schiffe eintrafen. Der ehemalige Einsiedler wehrte sich nicht. Er war müde. Sehr müde sogar.

Eine Stunde später war der Morgen schon weiter fortgeschritten und es war deutlich heller. Vom Horizont kamen zwei Schiffe, eines mit der vertrauten Färbung von Aurora und das zweite in schwarz-weiß und viel rustikaler als ihre eigenen Adler-Boote. Auf dem runden Hauptplatz der Siedlung, wo die Straßen zusammenführten, setzten sie zur Landung an. Das Aurora-Beiboot anmutig und leise, doch das andere Gefährt mit einem lauten Krachen, als die chemischen Triebwerke, die den Boden ansengten, aussetzten.

Entgegen den Wünschen der Offiziere hatten sich die Siedler in einem Halbkreis versammelt und auch wenn Antwan der Besatzung mehrfach versicherte, dass sie nichts zu befürchten hatten, empfingen die Offiziere des Landetrupps die Abgesandten der Ye’eadan bewaffnet. Antwan stand gefesselt hinter ihnen. Quasi zeitgleich öffneten sich die Luken der beiden Boote. im schwarz-weißen Schiff zu ihrer linken stand Khalil, die Kommandantin der Raumflotte von Eadan, die sie zuvor schon auf dem Projektor der Brücke sahen. Im Shuttle daneben stand Kaptan Jahan Gorbani, die die Arme verschränkt hielt.

“Aha!” sagte Khalil und blickte zum gefesselten Einsiedler. “Ich sehe, ihr seid uns zuvorgekommen. Wir würden ihn dann mal an uns nehmen.”

“Moment!” rief Lashenko und die zwei Soldaten, die gerade schon dabei waren, die Rampe aus dem Boot herunterzusteigen, wichen zurück, als die Sicherheitsleute ihre Waffen auf sie richteten.

“Antwan hat uns einiges erzählt über Sie, unter anderem, dass Sie die Strahlung hier unten gar nicht überleben könnten. Schätze das war dann wohl eine weitere Täuschung, was? Allerdings hat er uns auch etwas erzählt von… nun ja, sagen wir Ihrer Gesellschaft und der Rechtsform Ihrer Regierung.”

“Ich verstehe nicht, was Sie meinen. Eadan ist eine demokratisch-sozialistische Republik, so wie die Marsianer aus alten Zeiten. Wir können unsere Geschichte bis auf den Tamasuk zurückverfolgen. Wir schätzen Dinge wie Zusammenarbeit, Gleichheit, sowie die Rechte und Freiheiten des Individuums.”

“Sie werden die Siedlung nicht auflösen und die Bewohner zurücktransportieren?”

“Die Siedler zurücktransportieren? Wieso? Nicht, sofern sie etwas verbrochen haben oder gegen ihren Willen hier sind. Ah…” Sie rollte die Augen und nickte. “Ich merke schon, er hat ihnen einiges an Quatsch erzählt.”

Er sah sie misstrauisch an.

“Komander, lassen Sie ab. Das geht in Ordnung”, sagte der Kaptan. “Kommandantin Khalil und ich hatten ein langes und ausführliches Gespräch, während ihr hier unten wart. Und Antwan war, wie ihr euch denken könnt, das Hauptthema.”

Khalil nickte. “Und tatsächlich gab es schon seit längerem Pläne, diesen Planeten wieder zu bevölkern, die aber immer abgelehnt wurden, weil es zu teuer und aufwändig sei. Ich schätze, in Zukunft wird das noch einmal im Parlament aufgegriffen.”

Lashenko zögerte noch einige Sekunden, doch dann entspannte er sich. “Dann gehört er euch”, sagte er und zeigte seinen Leuten, Antwan den Ye’eadan zu übergeben. Die Kommandantin ging persönlich herunter, um ihn selbst in Gewahrsam zu nehmen.

“Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir die ganze Zeit einem Massenmörder geholfen haben”, sagte der Komander kopfschüttelnd.

Khalil drehte sich zu ihm, als sie das hörte. “Was sagten sie gerade?” Sie trat wieder zurück zu ihm. “Sagten Sie da ‘Massen-Mörder’?”

Lashenko stutzte. “Das ist doch der Grund, warum ihr hinter ihm her seid, oder nicht?”

Khalil blickte erst zum gefangenen Antwan, dann zu ihren Soldaten und dann zurück zu Lashenko. “Nein, ursprünglich nicht”, erwiderte sie langsam und betonte jedes Wort einzeln.

“Wussten Sie davon, Kaptan?”

Kaptan Gorbani sah ebenfalls überrascht aus. Sie hob die Arme in abwehrender Haltung.

“Ist dies wahr? Stimmt es, dass Sie Mord begangen haben?"

“So ist es, Kommandantin”, gestand Antwan ruhig.

“Wenn ich fragen darf, weswegen wird er eigentlich gesucht?” fragte Lashenko.

“Er wird angeklagt wegen Menschenexperimenten, ungenehmigten Genversuchen, Ärztlicher Ausübung ohne Approbation, Umgang mit gefährlichen Substanzen ohne Genehmigung, illegale Beeinflussung des Parlaments, Schmuggel, sowie Sabotage und Diebstahl.

“Genversuche…” murmelte Lashenko.

"Alles, um die Siedler gegen die Strahlung zu stärken”, entgegnete Antwan mit einer Beiläufigkeit, so als würde er bloß von einem Kochrezept reden.

Der Komander und Yotekom Li nickten sich gegenseitig zu. Es machte Sinn. Das erklärt dann auch die genetischen Anomalien.

“An allem bin ich schuldig, nicht dass es an meiner Haftzeit viel ändern wird. Aber ihr verdient die Wahrheit. Die ursprünglichen Siedler, die hier vor 40 Jahren noch lebten, sind alle durch meine Hand umgekommen.”

Khalil war ebenso fassungslos wie Li und Lashenko, als er es ihnen vorhin gestand. “Es hieße, die Siedler wären durch die Strahlung umgekommen.”

Antwan schüttelte den Kopf. “Ich kann Ihnen in Ruhe erklären, wie ich es getan habe.”

“Ja, das werden Sie wohl. Abführen!” befahl sie.

Antwan legte einen letzten zufriedenen Blick auf die Menschentraube und die Häuser in der Ferne, die im Licht von Genet erhellt wurden. Die Siedler blickten zurück, manche mit Trauer im Gesicht, manche mit Wut, doch die meisten mit Unentschlossenheit. Dann wurde er unsanft ins Schiff geschoben und die letzten Lichtstrahlen wichen von seinem Gesicht.

Gorbani begab sich zu Lashenko und den anderen Crewmitgliedern.

Sie sah zu ihnen, wie sie anfingen, Equipment zu verlagern und Siedlern dabei halfen, sich in der neuen Heimat einzuleben. “Wie ist die Lage bei euch? Wir haben erfahren, dass einer der Adler abgestürzt ist. Gab es Verletzte?”

Li nickte. “Leider ja. Und zwei Tote. Das jüngste Mitglied der neuen Kolonie wird nun ohne Mutter aufwachsen müssen.”

Gorbani starrte um Bestätigung suchend Lashenko an, dessen Miene genug sagte. Dann fiel ihr Blick zu Boden. “Großer Gott…” murmelte sie und schwieg.

Ein Mann näherte sich ihnen, mit einem kleinen Kind auf dem Arm, welches schlief. Es war der Witwer Esmat, und er kam, als hätten sie ihn beschworen. Er nickte ihnen zu. “Ich ähm… ich möchte Ihnen danken, für Ihre Unterstützung.”

Die Menschen blieben für einen Moment ruhig, dann ergriff Lashenko das Wort. “Werden Sie zurecht kommen?”

Esmat seufzte und drückte seine schlafende Tochter an sich. Aus ihrer Kleidung schaute das holografische Vögelchen heraus, welches D5 ihr geschenkt hatte. Es hatte sich zu ihr gekuschelt und schlief ebenfalls. “Uns bleibt wohl nichts anderes übrig. Nur frage ich mich, naja, sie ist noch zu jung, um das zu verstehen. Wie mache ich ihr klar, dass sie nicht mehr wiederkommt, wenn sie nach Mama fragt?”

“Ihr Verlust tut mir wirklich sehr leid. Uns allen. Wären die Umstände anders gewesen, hätten wir verhindern können, dass es überhaupt erst zu so etwas kommt”, versuchte Gorbani das herzzerbrechende Bild vor ihnen zu trösten.

“Es ist, wie es ist. Daran lässt sich jetzt eben nichts mehr machen”, sagte er und sah wieder zu seinem Kind.

“Immerhin habe ich sie aus Eadan rausgebracht. Da wäre sie bestimmt genauso unglücklich und krank geworden, wie ich. Aber so…” Nach einer Ewigkeit von betretenem Schweigen fuhr er fort: “Naja, wie dem auch sei, ich werde mal den anderen helfen, noch die restlichen Kisten rüber zu transportieren. Stellen Sie sich vor, die die wir zurückgelassen haben, würden gerne am Absturzort eine weitere Siedlung aufbauen.” Er lachte kurz auf. “Erstaunlich, was? Schon expandieren wir. Nun, es war mir eine Freude, Sie alle kennenzulernen. Wenn Ihr mal wieder in der Gegend seid, besucht uns doch mal. Bis dahin wird sich wahrscheinlich eine prächtige neue Kolonie entwickelt haben.” Er nickte zum Abschied und begab sich zurück zu den anderen in der Siedlung.

“Man muss ihn bewundern. Selbst nach diesen Geschehnissen hat er nicht seinen Optimismus verloren”, sagte Lashenko.

“Optimistisch sind sie wohl. Viel zu sehr. Das ist D5 auch aufgefallen. Nachdem ich verstanden habe, was sie damit meinte, bin ich dann mit der Kommandantin ins Gespräch gekommen und habe von den Genversuchen erfahren. Anscheinend hat Antwan die letzten Jahrzehnte damit verbracht, diese Siedler für seine Sache zu gewinnen und auf das Leben auf Kena’an anzupassen.”

“Ja, schön manipuliert hat er sie”, bemerkte Li.

Sie schüttelte den Kopf. “Und uns hat er genauso an der Nase herumgeführt, was? Für sein Ziel ging er ziemlich weit. Nun, immerhin hat er es getan, um die Kolonie wiederzubesiedeln, was wohl zumindest eine gute Sache ist.”

“Aber er hat unnötig viel riskiert, bitte vergessen sie das nicht”, warf Li mit scharfer Stimme ein, wohl ohne es zu beabsichtigen. “Vor allen Dingen Menschenleben. Am Ende war das alles wohl nur, damit er sich selbst einreden kann, dass er seine Tat ausgleichen konnte. Alles nur für seinen eigenen Seelenfrieden”, sagte er, immer noch verärgert und mitgenommen. Und das nicht nur von Antwans Verhalten. “Er… hat mir allerdings das Leben gerettet. Wenigstens das kann man ihm zugute heißen, wenn auch sonst nicht viel.”

Gorbani musterte Li, dessen Uniform bewies, was für eine Nacht sie durchgemacht hatten. Und das galt für alle hier. “Ich schätze, Sie haben Recht, Yotekom.”

Aus dem schwarz-weißen Schiff, in dem Li eine entfernte Ähnlichkeit zu den Strauchtigern sah, trat Kommandantin Khalil wieder zu den Astronauten der Kupe.

“Also”, begann sie. “Ihr seid ja nun an der ganzen Sache hier nicht ganz unbeteiligt gewesen.”

“Nochmal, wir wussten von seinen Verbrechen nichts, bevor die Siedler an ihrem Ziel angekommen sind und er gestanden hat”, unterbrach Lashenko sie.

“Unbeteiligt sagte ich auch. Nicht unschuldig.” Sie blickte ihn ermahnend von unten an, ohne den Kopf aufzurichten. Gorbani gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass sie das übernehmen würde.

“Nun, es gibt sicher noch Dinge zu klären”, sagte Gorbani bestimmt.

“Genau das. Wir würden Sie bitten, uns nach Eadan zu begleiten, wo sie unter anderem als Zeugen fungieren werden. Auch wenn Sie vielleicht noch andere Ziele auf Ihrer Reise haben, empfiehlt es sich doch, solche Dinge schnellstmöglich aus der Welt zu schaffen.”

“Keine Frage. Wir helfen Ihnen gerne dabei. Ich denke, dass das unsere Beziehung zu Eadan verbessern sollte nach dem Schlamassel. Und eine gute Beziehung zu neuen Kulturen aufzubauen ist ohnehin Hauptbestandteil unserer Mission.”

“Sehr gut, dann wäre das ja geklärt.” Jetzt sah man die Kommandantin zum ersten mal Lächeln. “Ich gebe Ihnen einige Tage Erholungszeit. Danach erwarte ich Sie in unserer Hauptbasis. Ist das für Sie zufriedenstellend?”

“Vollkommen.”

“Gut. Wenn das alles geklärt ist, Gorbani, dann stoßen wir an! Bis dahin”, sagte sie in einem heiteren Ton, den Lashenko zuvor noch nie von ihr gehört hatte. Und das war erschaudernd. Dann ging sie zurück zu ihren Leuten.

“Ihr beide scheint ja ganz schön ins Gespräch gekommen zu sein da oben”, sagte der Komander zu Gorbani.

“Ja, das ist richtig. Ich habe die letzten Stunden schon etwas Vorarbeit geleistet, was das Aufbauen von guten Beziehungen angeht.”

Wundert mich irgendwie nicht, dass das so schnell ging. Die beiden sind sich verdammt ähnlich, dachte Li.

“Aber im Ernst”, fuhr der Komander fort. “Mir macht es trotzdem noch Sorgen, was Antwan damals gesagt hat. Was, wenn Eadan doch ein Regime ist. Ich möchte ungern in eine Falle tappen.”

“Ich verstehe Ihre Sorgen und teile sie auch. Laut meiner Einschätzung nach zu urteilen, sollten wir aber gut davonkommen. Natürlich habe ich die Gesprächszeit auch dazu benutzt, um an Informationen zu kommen. Die Kupe muss ihre Flotte nicht fürchten und was ihr Regierungssystem betrifft, habe ich zumindest keine der typischen Zeichen einer Diktatur bemerkt. Außerdem wissen sie, wer hinter uns steckt. Heißt also, sollte uns irgendetwas passieren, wissen sie, mit wem sie sich anlegen.”

Lashenko nickte. “Das ist das Risiko unserer Mission. Wir müssen es wohl darauf ankommen lassen. In dem Falle bin ich allerdings wirklich gespannt, wie deren Lebensweise ist. Ich kann mir das gar nicht vorstellen, wie man auf so einer Venus leben könnte. Wie wohl deren Habitate aufgebaut sein müssen?”

“Ich teile Ihre Neugier. Die Art und Weise einer Kultur zeigt sich immer darin, wie sie sich an ihre Umgebung anpasst”, zitierte sie Ihren alten Professor.

----------------------------------------

Einen Standardtag später waren alle Beiboote wieder im Hangar der Kupe. Die letzten Sendungen an die Sielder in ihrer neuen Heimat waren abgeschlossen und alle Offiziere wieder an Bord. Bisher verweilte das Schiff noch im hohen Orbit von Kena‘an, doch es wurden bereits Vorbereitungen für den Transfer nach Eadan getroffen.

Kurz bevor seine Schicht anfing, ging Komander Lashenko, wie er es beinahe regelmäßig mittlerweile tat, in einen der Ruheräume nahe der Kantine. Dort genoss Yotekom Li nach getaner Arbeit ebenfalls etwas wohlverdiente Freizeit und las Zeitung. Er sah auf, als er die Schiebetür sich öffnen hörte und erblickte den Komander.

“Ah, Yotekom. Gut, dass ich Sie treffe.”

“Komander, gibt es etwas, was ich tun kann?” fragte er und war gerade im Begriff, aufzustehen.

“Bitte, Sie können sitzen bleiben. Wenn Sie gerade etwas Zeit haben, würde ich gerne noch etwas mit Ihnen besprechen. Ist es okay, wenn ich mich kurz zu Ihnen gesellen darf?”

“Ähm, selbstverständlich. Setzen Sie sich ruhig.”

“Gut. Ich hole mir einen Kaffee. Möchten Sie auch etwas zu trinken?”

Er verneinte, indem er die Hand hob.

Lashenko ging zum Getränkedrucker und bestellte sich einen Raf-Kaffee. Das Gerät piepte und ein holografisches Glas wurde generiert, worauf Vanillesirup, Sahne und Kaffee nacheinander eingegossen wurden. Er fand es schade, dass die gastronomischen Drucker der Kupe größtenteils nur holografisches Geschirr benutzten, anders als es früher auf Aurora-Schiffen der Fall gewesen ist. Auch wenn es sinnvoll war, da so weniger unnötiges Material produziert oder mitgeführt werden musste, schmeckten die Getränke daraus ganz anders. Er nahm sich den fertigen Kaffee und setzte sich zu Li.

“Ich muss gestehen, dass Sie Recht hatten.”

Überrascht sah der Yotekom von seinem Artikel auf und legte die Tafel beiseite. “Oh, das… Dürfte ich eventuell fragen, worauf Sie sich genau beziehen?” Er wirkte sehr unsicher, so gewählt, wie er sich auszudrücken versuchte.

“Die ganze Sache, mit Antwan und den Siedlern. Ich hätte Ihrem Urteil vertrauen sollen, statt nur zu versuchen, einen Erfolg für das Programm zu erzielen. Sie haben ein gutes Gespür für Gefahr und ich denke, das alles wäre anders ausgegangen, wenn ich Ihnen mehr zugehört hätte.”

“Aha. Nun, ich danke Ihnen, schätze ich.” Man merkte, dass er dies nicht häufig zu Ohren bekam. “Aber es war doch der Kaptan, der die Entscheidung am Ende traf, nicht Sie.”

“Richtig, klar, aber nur auf mein Drängen hin. Wäre ich mit meiner Argumentation etwas weniger vehement gewesen, wäre uns sicher einiges erspart geblieben.”

“Das hieße dann aber auch, dass Kena’an vermutlich nie mehr kolonisiert worden wäre und die Siedlung vielleicht noch Jahrzehnte lang in Ruinen läge.”

“Das ist natürlich möglich, aber dann wären auch keine Menschen gestorben oder schwer verletzt worden. Kaptan Gorbani sagte, dass es dies niemals wert sei. Sie kennen den Kaptan was diese Sachen angeht, aber ich stimme ihm in diesem Fall zu.”

Li legte die Hände zusammen in den Schoß und sah aus dem Panorama an der Backbordseite des Schiffs, das die wunderschöne Sicht auf Kena’an freigab.

“Ich weiß nicht”, fuhr er fort. “Die Dinge hätten auch ganz anders kommen können. Meiner Einschätzung nach hätte Antwan auch ohne uns auf Biegen und Brechen versucht, sein Ziel umzusetzen. Und dabei hätte er sicher noch mehr Opfer in Kauf genommen. Wären wir nicht gewesen, hätte er wahrscheinlich die steinzeitlichen Schiffe von Sayna zur Übersiedlung genutzt. Dadurch wären sie einem noch höheren Risiko ausgesetzt gewesen. Wer weiß, wie viele Menschen wir in Wirklichkeit dadurch gerettet haben, dass wir unsere Schiffe angeboten haben. Am Ende bin ich froh, dass wir die Siedler aus seinem Einfluss befreien konnten, auch wenn es leider Leben kostete.”

Lashenko nickte und nippte an seinem Kaffee. “Sie haben nicht Unrecht. Das wäre ein wahrscheinliches Szenario gewesen.”

“Darf ich Ihnen auch etwas sagen, Komander?” fragte Li nach einigem Zögern.

Lashenko hob sein Glas als Zeichen, dass er fortfahren sollte.

“Ich glaube, so etwas hat noch nie ein Vorgesetzter von mir getan.”

Der Komander sah ihn fragend an.

“Also, so offen zuzugeben, dass man einen Fehler gemacht hat. Die meisten, die ich hatte, waren immer darauf bedacht, ein Bild der Perfektion aufrechtzuerhalten, da sie meinen, man würde sie sonst nicht respektieren. Aber ich bin ganz ehrlich, …” Er lehnte sich zu ihm nach vorn. “Diese Aufrichtigkeit respektiere ich mehr als alles andere. Und daher möchte ich mich ebenfalls entschuldigen, dass ich mich zuvor so unangebracht benommen habe.”

“Akzeptiert. Niemand von uns ist unfehlbar, egal ob als Admiral oder als Ensin.”

“Ja. Schade, dass nicht mehr so denken. Eine Menge Organisationen hätten eine weitaus bessere Führung.”

Lashenko lächelte. “Yotekom, ich denke, aus Ihnen wird ein ausgezeichneter Kommandant. Ein perfekter vielleicht sogar. Da bin ich zu einhundert Prozent überzeugt von.”

Li wirkte wieder überrascht und verwundert, wenn auch nicht so stark wie anfangs. Vielleicht war das etwas zu viel des Lobs und es wirkte wie Schmeichelei auf ihn. Er fing daraufhin an zu lachen, worauf Lashenko einstimmte.

Previous Chapter
Next Chapter