Die weiße Frau
unbekannt
1023 nE, Kulipp 7/48 (Lichtstunden)
Vorsichtig hatte sie im Fackellicht den Khanjar aus dem Leinen gewickelt und studierte andächtig den kunstfertig gearbeiteten Griff aus schwarzem Augit, der in einem Vogelkopf endete. Zögerlich und mit einem leisen Schleifgeräusch befreite sie dann die gebogene, spitz zulaufende Klinge aus ihrer Scheide und begutachtete denselben dunklen Kristall, der zu seinem Ende mehr und mehr ins Farblose überging.
Hätte sie nicht um die Bedeutung dieses Dolchs gewusst, wäre ihre Bewunderung wahrscheinlich nicht so schnell einem flauen Gefühl in ihrer Magengrube gewichen. Ähnlich wie seine Geschwister vermochte es dieses kleine Stoßmesser ihre Ehrfurcht binnen weniger Augenblicke Respekt und Beklommenheit weichen zu lassen.
Sie ließ die Klinge wieder zurück in ihr Futteral gleiten, wickelte es erneut in das Stück Leinen ein und platzierte das Relikt aus dem ersten großen Krieg mit den Noraniern auf einem steinernen Sockel. Sie hatten nun alle vier beisammen: Den Dolch, die Sichel, die Sense und das, was von dem Streitkolben übrig geblieben war.
Langsam schritt sie auf einen zweiten Sockel zu, wo ein anderes Leinenpaket abgelegt worden war. Es war nun fast sechs Zyklen her, dass sie die Sichel zufällig hier in den Ruinen von Alt-Sharyngol gefunden hatte. Ein weiterer Zyklus war nötig gewesen, um ihren Ursprung zu ergründen. Aber als ihr und ihrer Mutter klar wurde, was ihnen da das Schicksal in die Hände gespielt hatte, war es ein Leichtes, die anderen davon zu überzeugen, auch nach den restlichen dreien Ausschau zu halten.
Als zweites waren die Bruchstücke des Streitkolbens in ihren Besitz gelangt – der Dei-Klan hatte ihn nahezu freiwillig übergeben. Die Sense hatte ihre Tante aus dem Norden beschafft, schwieg sich aber beharrlich darüber aus, was es sie gekostet hatte – sie war danach nicht mehr dieselbe gewesen. Und den Dolch, der war vor wenigen Umläufen nach drei Zyklen der Vorbereitung endlich in den Besitz ihrer Mutter gelangt. Und jetzt lagen sie alle vier vor ihr. Die Geschenke der Zoraya, geschmiedet in den Feuern der Westerooger Mienen und verschollen nach dem Sieg über die Matronen.
Die Begallin verzog verächtlich die Oberlippe und starrte auf die eingeschnürte Sichel hinab ohne den Kopf vorzubeugen. Wie anders würde das Leben ihres Volkes aussehen, hätten sich die Matronen damals nicht geschlagen gegeben müssen. Die Magyster wären nicht an die Macht gekommen und die Honora hätten die Begallen zu altem Ruhm und voller Stärke wieder auferstehen lassen. Doch stattdessen brach ihr Volk auseinander und die Klans gingen sich gegenseitig an die Gurgel. Es hätte abzusehen sein müssen, dass sich die Noranier diese Chance nicht würden entgehen lassen.
Ihre Fingernägel gruben sich tief in das Fleisch ihrer geballten Fäuste. Der Schmerz störte sie dabei nicht – vielmehr rief er ihr ins Bewusstsein zurück, warum sie hier war und dass sie nicht der Betäubung der Niederlage erliegen wollte, wie die meisten von ihnen.
Du bist eine Shikah, reiß' dich zusammen.
Das dies nur die halbe Wahrheit war, verdrängte sie ebenso wie der Schmerz in ihren pochenden Handballen.
Im Gegensatz zu den Magystern hatten sich die Honora geschworen, sich ihrem Schicksal nicht einfach so hinzugeben und so lange zu kämpfen, bis ihr Volk wieder frei durch Volos Blutwälder streifen konnte. Doch keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass die Magyster sich in Aussicht auf Waffenruhe auf die Seite der Besetzungsmächte schlagen würden. Das Blut ihres Volkes war das Blut ehemaliger Sklaven und die Magyster schienen sich darauf zu besinnen, dass Dienen dem Kampf vorzuziehen sei. Die Honora hingegen besannen sich darauf, was sie schon immer gewesen waren – ein freies Volk, stolz und ungebändigt. Die Spaltung der Begallen hätte nicht bildhafter sein können als die Besetzung ihres Landes durch die noranische Krone und die Trennung der Begallenwälder in Nord- und Südbegall durch die Kolonie Neu-Noranien. Und auch wenn der Süden tobte und alles versucht hatte, sich gegen die Besetzung aufzulehnen, so wurde er vor dreizehn Zyklen durch das eigene Blut verraten und zum Schweigen gebracht.
Letztendlich begann der Untergang ihres Volkes und die Rückkehr vieler ihrer Brüder und Schwestern in die Sklaverei in ihren Augen mit den vier Relikten, die nun vor ihr lagen. Und da drei von ihnen noch intakt waren, so musste dies bedeuten, dass es noch drei Erben derer geben musste, die für ihren Fall verantwortlich gewesen waren.
Sie schloss die Augen und atmete wenige Male tief durch. Sie durfte sich nicht von ihren Emotionen davontragen lassen – vor allem nicht bei dem, was ihr heute noch bevorstand. Sie warf einen letzten Blick auf die kristallernen Bruchstücke des Streitkolbenkopfes, las eine Scherbe davon auf und führte sie an ihre Brust. Ein... und aus.
Zwölf Zyklen.
Während sie die Scherbe zwischen ihren Fingern drehte und musterte, kämpfte sie damit, ihre Tränen zu unterdrücken und ihr eigenes Blut an ihren Händen erinnerte sie daran, warum sie tat, was sie tat. Sie räusperte sich verhalten, legte die Scherbe zurück und drehte den vier Waffen der Zoraya den Rücken zu. Im Gehen las sie ihren Rucksack und ihre Fackel vom Boden auf und trat aus der kleinen, feuchten Kammer hinaus in den alten Ratssaal. Kaum hatte sie die Schwelle übertreten, glitt die Steinwand hinter ihr zur Seite und schloss den Raum mit einem dumpfen Aufschlag von der Außenwelt ab. Als sie sich umdrehte, war von der Tür zur Kammer nichts mehr zu sehen.
Eine erledigt, fehlen noch drei.
***
Sie hatte den Ratssaal durch einen der Tunnel verlassen und war ihm in Richtung Norden tiefer in den Felsen hinein gefolgt. Alt-Sharyngol war damals, lange vor der Großen Flut, von ihren Vorfahren in einen Felsen geschlagen worden und dann als Folge der Überschwemmungen zum Großteil geflutet und aufgegeben worden. Die Ruinen der alten Stadt waren heute nur schwer begehbar und die Magie, die ihre Pforten verschlossen hielt, war bis zum heutigen Umlauf noch aktiv. Hätte sie damals nicht nach einem möglichst unzugänglichen Ort gesucht, wäre sie wohl nie auf die noch freien Hallen und Tunnel und die Sichel gestoßen. Schon als Kind waren die Ruinen für sie mehr ein bedrückendes Mahnmal gewesen als ein Ort, des sie freiwillig hätte besuchen wollen. Und die Geschichten über Geister und seltsame Bestien, die hier ihr Unwesen treiben sollen, hatten ihr Übriges dazugetan. Darüber hinaus hatten es die Shikah verboten, die Ruinen zu betreten. Warum genau, hatte sie auch als Erwachsene nie in Erfahrung bringen können.
Hier im oberen Teil des Gesteins waren die meisten Gänge überraschend trocken und je höher sie stieg, desto mehr mischten sich Moose und rankenartige Pflanzen in das Erscheinungsbild, obwohl es überwiegend dunkel war.
Vorsichtig stieg sie über aus der Wand und Decke gebrochenen Geröll hinweg und duckte sich unter einer gigantischen Wurzel hindurch, die den Gang von der einen zur anderen Seite ein Mal vollkommen durchbohrte. Mit einer Hand suchte sie Halt an ihrer Rinde, während sie sich zwischen Holz und Stein tiefer in den Gang hinein durch quetschte. Es versetzte sie immer noch in Erstaunen, wie tief manche Bäume der Blutwälder ins Erdreich vordrangen, aber so beharrliche Wurzeln wie diese hatte sie bisher sonst nur ein Mal in den Höhlen von Shivnekh gesehen. Vorsichtig richtete sie sich wieder auf, schwang den Rucksack über die Schulter und leuchtete mit der Fackel ihren weiteren Weg aus. Auf dem kalten Stein hallten ihre Schritte von den Wänden wider und ein leichter Luftzug verriet ihr, dass sie bald an ihrem Ziel angekommen sei.
Dann, plötzlich, mischte sich unter die Geräusche ihrer Stiefelabsätze und dem Knacken der Flamme das Echo mehrerer kleiner Steinchen, die in der Dunkelheit über die Bodenplatten weiter hinten im Gang gekullert kamen.
Die Begallin verharrte einen Augenblick und lauschte.
Nichts.
Sie wollte gerade wieder ihren Weg fortsetzen, als sich in den Schatten etwas von den Ranken an der Wand löste und unbeholfen in ihre Richtung taumelte. Das Wesen war nicht sonderlich groß, ging ihr vielleicht gerade einmal bis zur Hüfte und als es in den Lichtkegel der Fackel trat, erkannte die Frau, dass die Kreatur ebenfalls vollkommen aus Ranken zu bestehen schien.
„Eine Leshy.“, sie legte den Kopf etwas schief und schwang die Fackel vor sich hin und her.
Was suchst du so weit hier unten?
Sie führte die Fackel nun in einem weiten Bogen vor sich her und die Flamme rauschte bedrohlich durch die Luft.
„Bleib, wo du bist!“ - für gewöhnlich fehlten ihren Worten niemals der Nachdruck – doch hier unten hallte ihre Stimme fremd von den Wänden an ihre Ohren zurück. Ein Schulterzucken - sie war sich ohnehin sicher, dass die entführten Kinder der Kumowaci sie nicht verstehen konnten.
Mit auf den Boden schlagenden Ranken zog sich die Leshy weiter über den Boden in Richtung der Lichtquelle und hinterließ mit fingerlangen Dornen schmale Furchen im weichen Stein.
Um sich ein wenig Zeit zu verschaffen, ging die Begallin langsam ein paar Schritte rückwärts und versuchte in dem Chaos übereinander gleitender Ranken so etwas wie einen Rumpf oder einen Körper des kleinen Naturgeists auszumachen. Für gewöhnlich taten Leshys niemanden etwas zuleide, aber diese hier war anders - weder scheu noch sanftmütig.
Dann stieß sie mit ihrer Schulter an die schwere Wurzel, die ihr den weiteren Rückweg versperrte. Zähneknirschend sah in Richtung des Spalts, durch den sie sich zuvor hindurchgezwängt hatte. Die Leshy hätte sie eingeholt, ehe sie zur Hälfte hindurchgeschlüpft wäre.
„Du willst es anscheinend nicht anders.“, entnervt ließ sie die Fackel sinken und war sie dem Rankenknäuel entgegen. Als diese auf den Boden aufprallte und einige Funken der Leshy entgegen sprangen, zog diese ihre Ranken zurück, ehe sich der Dornenbusch schüttelte und wie eine Spinne sich zu einer der Wände zog und auf die Begallin zu rauschte. Diese jedoch hatte inzwischen ihren Krummsäbel gezogen und die freie Hand in Richtung der Fackel ausgestreckt. Noch während die Leshy sich den Stein entlang zog, war ein Funke der Flamme in ihre Hand zurückgesprungen, den die Frau auf halben Wege durch die Luft abfing und der Pflanzenkreatur entgegenschleuderte. Mit einem kurzen Rauschen schlug der Feuerball vor der Leshy in die Wandplatte ein und setzte die dort wuchernden Ranken in Brand. Die Leshy hingegen hatte sich rechtzeitig zurückziehen können und sprang nun von der Wand zurück auf den Boden. Mit peitschenden Dornenranken krallte sie sich nun weiter in Richtung der Quelle des Angriffs, während sie zusätzlich Ranken nach allen Seiten hin ausschickte und nun ein lebendes Netz aus Dornen auf die Begallin zugerast kam.
Instinktiv machte die Frau einen weiteren Schritt zurück, nur um festzustellen, dass die Wurzel sie weiterhin an jeglicher Flucht zu hindern schien. Noch immer flackerte in ihrer freien Hand ein Funken, über den hinweg sie die Leshy auf sich zukommen sah. In ihrer Verzweiflung griff sie an die Klinge ihres Säbels, die sogleich lichterloh in Flammen aufging, zog eines ihrer Beine an, drückte sich hinter sich von der Wurzel mit aller Kraft ab und stieß nach vorne auf die Leshy zu.
***
Verdammt, was hast du dir nur dabei gedacht?, mit zwei spitzen Fingern hob sie eine regungslose, mit Dornen besetzte Ranke vom Boden an und ließ sie nach einem Augenblick leblos zurück auf den Boden klatschen. Im Schein ihres brennenden Säbels beäugte sie den Kadaver der Leshy argwöhnisch. Und wieso warst du so wütend?
Vorsichtig schob sie mit dem Knauf ein paar der Ranken auseinander bis sie einen kleinen, schrumpeligen Körper mit viel zu kurzen Gliedmaßen und einem knollenartigen Gesicht freilegte. Vorsichtig schob sie den Knauf in eine Öffnung, der ein Maul hätte sein können und legte dort weitere Dornen frei. Auch an den stumpfen Gliedern: Dornen.
„Was zum-“, die restlichen Worte verschluckte sie als ein Zucken die Kreatur durchzog. Ehe sie nachdenken konnte, hatte sie ausgeholt, und den Kopf der Leshy mit dem Knauf zerquetscht. Jetzt blieb sie ruhig – endgültig.
Was auch immer mit ihr passiert war, eine Leshy, so wie sie sie kannte, war dies nicht. Mit gekräuselter Stirn blickte sie den dunklen Gang entlang. „Ich hoffe für dich und deinesgleichen, dass du dich alleine hierhin verirrt hast.“ Die Begallin ließ die Flammen des Säbels erlöschen und steckte ihn zurück an ihren Gürtel. Dann zog sie ihren Mantel aus und wickelte die tote Leshy darin ein. Es liegt mir fern, euch schaden zu wollen. Aber du hast ja geradezu darum gebettelt.
Als sie das Gesicht der Leshy zudeckte, wandte sie ihren Blick ab. Sie hatte schon davon gehört, dass es Unglück bringen sollte, einer Leshy Leid zuzufügen. Immerhin waren es unschuldige Kinderseelen, die Wym zu sich genommen hatte und als Schutzgeister an bestimmte Orte schickte. Aber anders als die anderen Leshy aus den oberen Stockwerken der Ruinen, war diese hier weder freundlich noch friedlich gewesen. Sie zwang sich, diese Gedanken aus ihren Kopf zu vertreiben, hob die Fackel auf und setzte ihren Weg mit der toten Leshy im Arm fort.
***
Ihre Schritte hatten sie durch größere Kammern, Schächte und weitere Tunnel kontinuierlich weiter nach oben geführt und mit jedem Meter, den sie gewann, wurde die Luft in den Gängen etwas besser und die Wände grüner und grüner. Als sie einem Tunnel bis ans Ende einer langen Treppe gefolgt war, streichelte ihr eine frische Brise das kantige Gesicht. Der holzig-süße Geruch von Lippenblütlern kitzelte sie in der Nase und sie holte ein Mal tief Luft. Frischluft.
Ein Blick nach oben verriet ihr, dass sie angekommen war. In der großen Halle, in der sie sich nun befand, zogen sich Wände und Terrassen über zwei Etagen in die Höhe, ehe sie in einen trichterförmigen Schacht übergingen, der nahezu vollends von Pflanzen überwuchert war. Gut zehn weitere Meter darüber stieß der Schacht aus den Waldboden hervor und sammelte das Licht Thebes ein, das die Halle um Begallin herum in ihr Licht hüllte.
Kaum hatte sie den Lichtkegel betreten, lösten sich aus den üppig begrünten Beeten des ersten Stockwerks kleine, knollenartige Wesen, mit Umhängen und Hüten aus Blättern und Knopfaugen aus bunten Kieseln. Mit reichlich Vorsicht beäugten sie die Besucherin und versuchten sich etwas unbeholfen hinter den steinernen Streben der Geländer versteckt zu halten.
Erleichtert atmete sie aus.
Hier ist alles also noch beim Alten.
Langsam trat sie ins Zentrum der Halle, befreite die tote Leshy von ihrem dunkelroten Mantel und legte sie behutsam auf den Boden. Danach zog sie sich an den Rand des Lichtkegels zurück und wartete.
Als es offensichtlich wurde, was sie dort platziert hatte, fuhr ein Raunen durch die Halle – vielmehr ein Rascheln von Blättern als würde eine aufgewühlte Böe durch die Ränge der Leshys fegen. Mit einem Klacken landete ein kleiner Stein kurz vor der leblosen Leshy auf den Boden und hüpfte über die verzierten Bodenplatten und blieb auf dem Abbild einer Schlange liegen. Ein weitere Klacken und dieses Mal war es eine Nuss, die den Leichnam am Kopf traf.
Stille.
Einen Augenblick überlegte die Frau, was sie tun solle, als mehr und mehr Steine, Nüsse und Wurzeln in die Mitte des Raumes auf die Dornen-Leshy geworfen wurden. Verwirrt verfolgte sie das Treiben bis sie eine der Leshys ganz in ihrer Nähe bemerkte, die mit ausgestreckten Armen unbeholfen auf sie zu gewankt kam und auf ihre Fackel deutete. Diese Leshy hatte etwas, was sie als freundliches Gesicht bezeichnet hätte - mit Augen aus zerschlagenem Schotter und einem Nusskranz auf dem Kopf.
Auch als die Leshy nach ihren Hosen griff und spürbar daran zog, vernahm sie in ihrem Tun nichts Feindliches und ließ sich sanft von ihr zurück ins Zentrum der Halle ziehen.
Die Leshy sah wortlos zu ihr auf, legte den Kopf ein wenig schräg und deutete erneut auf die Fackel und anschließend auf die tote Leshy zu ihren Füßen.
„Ihr wollt, dass ich sie verbrenne?“, sie stemmte die freie Hand in die Hüften, legte die Hand aber auf dem Knauf ihres Krummsäbels ab. Das war ihre Art ihren Gegenüber zu zeigen, dass er sich gut überlegen sollte, was er von ihr verlangte.
Ein weiteres Zupfen an ihren Hosenbein verriet ihr, dass es wohl so war.
„Ich warne Euch, ich will später keinen ungebetenen Besuch von euch bekommen.“
Für gewöhnlich betteten Kumowaci Ihresgleichen in Ton und suchten den skurrilen Statuen ein geeignetes Plätzchen für ihre letzte Ruhe. Soweit sie wusste, wurde Leshys dieselbe Ehre zu Teil. Zumindest waren einige der Tonfiguren aus den oberen Ebenen selbst für einen Kumowaci zu klein gewesen. Nun einer Leshy diese Ehre zu verwehren bedeutete für gewöhnlich Ärger und würde sicher erzürnte Baumgeister wie Dryaden, Nochleans und Boggarts anlocken. Besuch, auf den sie wahrlich wenig Lust verspürte.
Die Leshy neben ihr deutete erneut auf die Fackel und dann auf den Boden vor sich.
„Deine Entscheidung.“, behutsam führte die Begallin die Flamme der Fackel hinab und verharrte mit zittriger Hand über der toten Leshy. Ein Schnauben, ein Festigen des Griffs, ein letzter Ruck und - die Leshy an ihrer Seite war etwas unbeholfen an ihr hochgesprungen, hatte sich am fleckigem Saum ihres Ärmels festgeklammert und zog mit ihrem Gewicht ihren Arm und somit die Fackel herunter auf das Knäuel dorniger Peitschen.
Mit einem Zischen gingen die Ranken in Flammen auf und das Feuer fraß sich an ihnen weiter entlang bis es am Rumpf angekommen war.
Ein weiteres Rauschen der Leshys zog durch die Halle ehe es ganz leise wurde und nur das Knacken des Feuers die Stille gelegentlich durchbrach.
Ihr war mulmig zumute. Sie hatte sich immer gut mit Feuer verstanden und eine enge Beziehung zu ihm über die Zyklen aufgebaut. Sie war sogar in einem Zyklus des Sommers geboren worden. Aber jemanden – oder in diesem Falle etwas – brennen zu sehen, bereitete ihr stets Unbehagen.
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Ihresgleichen und viele andere Frauen auch hatten unverdient ihr Ende in den Flammen gefunden. Sogar vor Männern machte das Feuer manchmal nicht Halt. Als sie noch ein Mädchen gewesen war, waren dies bloß Schauergeschichten gewesen, die man sich erzählt hatte, um vor den grausamen und ruchlosen Meitillen zu warnen. Vierarmige Monster mit wilden Mähnen und Hufen, die ihre Gefangenen und Feinde ihrer Göttin Mateer auf grausamste Weise zu Tode folterten. Als sie heranwuchs und im Krieg gedient hatte, musste sie lernen, dass dies keine Märchen waren. Meitillen waren zwar weniger schreckenerregend als die Monster aus ihrer Fantasie, aber ihr Fanatismus und ihre Kälte ließ sie bereitwillig jeden Magienutzer, der ihnen fremd war, in Flammen aufgehen. Ihre Geistlichen schwärmten aus wie Insekten und hetzten nahezu jeden, der in ihren Augen auch nur ansatzweise die Fähigkeit vermuten ließ, Hexenwerk zu betreiben, in den Tod. Ihre berüchtigtsten Jäger waren dabei die Inquisitoren. Geistliche, die sich besonders gut auf das Aufspüren und Ausmerzen von Bedrohungen verstanden und – wie sich später für die Begallin herausgestellt hatte - eine ganz besonders befriedigende Art von Opfer darstellten. An ihnen hatte sie gelernt, dass es ihr Freude bereitete, ihnen alles mit gleicher Münze heimzuzahlen.
Heute,... heute allerdings mussten sie diese Ungeheuer im Süden dulden. Die oberste Magystra war nach dem Bürgerkrieg zu Ende des letzten Noran-Begallen-Kriegs dermaßen paranoid geworden, dass sie zum eigenen Machterhalt den Feind ihrem eigenen Blut auf den Hals hetzte.
Die Inquisition war zwar nicht sonderlich erfolgreich - dafür sorgten die Honora schon -, aber allein ihre Duldung war zugleich eine größere Beleidigung und eine schändliche Erniedrigung des stolzen Südens.
Wenigstens war sie bereits tot, waren ihre letzten Gedanken als sie dem Feuer dabei zusah, wie es die Leshy verschlang. Viele ihrer Schwestern hatten dieses Glück nicht gehabt und das Echo ihrer Schreie, die der Blutwald an die Ohren ihres Volkes getragen hatte, suchte sie für einen Moment heim. Sie wandte den Blick ab und erneut schnitten ihre langen Nägel in das Fleisch ihrer Ballen.
Schmerz hatte sie schon immer beruhigt.
Als die Flammen erloschen waren, zogen sich die Leshys zurück und ließen sie allein zurück. So war es bisher immer gewesen. Leshys waren trotz ihrer Scheue vorwitzig und handelten bisweilen recht unbesonnen, aber ihre Neugierde versiegte stets genauso schnell wie sie gekommen war. Sie nahmen am Leben der Sterblichen nicht Teil, sie waren stille Beobachter und Boten für die mächtigeren Naturgeister.
Sie ließ den Blick durch die Halle streifen und blieb an einer schmalen Tür hängen. Jetzt, da sie wieder wie gewohnt nur für sich war, war es an der Zeit, Mutter zu besuchen.
***
Es war einer der wenigen Augenblicke, in denen sie allein waren - nur sie zwei, niemand sonst. Ein mildes Lächeln erleuchtete ihr Gesicht und erlosch ebenso schnell wie es gekommen war. Eigentlich war ihr weniger danach, die wenigen Worte, die sie für gewöhnlich fand, an ihre Mutter zu richten und der Kloß in ihrem Hals verstärkte ihren Drang einfach still am Fuße des Steinsargs zu verweilen. Langsam tasteten ihre Augen die feinen Linien im Stein ab, die die Umrisse des unter ihm zur Ruhe gebetteten Leichnams nachzeichneten. Sie trat einen weiteren Schritt an das Grab der Frau heran, die sie geboren hatte, und zupfte eine einzelne Blume mit lilafarbenen, spitz zulaufenden Blütenblättern aus dem Riemen ihres Rucksacks und legte sie an ihren Füßen nieder.
Im Flimmern ihrer Fackel beobachtete die Frau ihren eigenen Schatten, den das Feuer an die Wand neben ihr warf und der sich nun langsam zum Kopfende des Sargs bewegte. Das Abbild ihres weit ausladenden, fächerartigen Goldrevers verlieh ihr das Antlitz einer aufgebrachten Kragenechse. Auf halber Höhe ließ sie die linke Hand locker neben sich gleiten und streifte mit zwei ausgestreckten Fingern über die steinerne Hand des Sargdeckels. Kalt und rau wie zu Lebzeiten.
Kurz hatte sie das Bedürfnis, ihre Hand gänzlich hineingleiten zu lassen und fest zuzugreifen, doch stattdessen zog sie, als sie den nahenden Moment der Schwäche bemerkte, ihre Hand vor ihre Brust zurück und vergewisserte sich mit einem Blick in Richtung des Türbogens, dass dieser Augenblick in dieser kleinen, stickigen Kammer verweilen würde.
Es ist eine Schande., hallte ihre eigene Stimme in ihrem Kopf wider, als sie das Steingesicht musterte. Sie konnte sich kaum an das alte Gesicht der Frau erinnern, die sie vor über zwanzig Zyklen zurückgelassen hatte und der Sargdeckel vermochte es auch nicht, sie darin etwas wiedererkennen zu lassen. Sie musste sich darauf verlassen, dass es stimmte, was die Shikah sagten und sie ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war – und das war gewiss eine Schande. Ein langes, schmales Gesicht mit dominantem Jochbein, eingefallenen Wangen und einem herzförmigen Haaransatz entsprach dem begallischen Schönheitsideal und hatte ihr in ihrer Jugend reichlich Verehrer beschert. Nicht, dass sie auch nur an einen von ihnen interessiert gewesen war und soweit sie Altansarnais Erzählungen über ihre Mutter Glauben schenken wollte, hatte diese sich auch nur gezwungenermaßen mit „schwachen“ Männern abgegeben. Ihre Haltung bezüglich des anderen Geschlechts hatte bei den Shikah immer schon für Zündstoff gesorgt. Altansarnais Tochter Bolortuyaa hatte nie auch nur eine Gelegenheit ausgelassen zu bemerken, dass das einzige, was sie höher trug als ihr Ego ihre eigene Nase sei.
Bis vor kurzem hätte sie bei jeder ihrer einfältigen und neidsamen Bemerkungen mit der Fassungen ringen müssen, doch wie es das Schicksal so wollte, wusste sie, was den Shikah in den kommenden Perioden bevorstand und erfüllte sie mit einer befriedenden Genugtuung.
Ihr Brustkorb hob sich unter einen tiefen Seufzer als ihre Aufmerksamkeit auf die immer noch dort ruhende, blasse Hand gelenkt wurde. Wenigstens in dieser Hinsicht erinnere ich niemanden an jemanden. Die Haut der Begallin war aschfahl - vom Scheitel bis zu den Zehen fand man nicht einen Flecken pigmentierter Haut. Auch ihr Haare, die sie zu einem gewaltigen Zopf geflochten hatte, der ihr bis in die Kniekehlen reichte, war ausnahmslos weiß. Es war vermutlich bei ihrer Geburt gewesen, als diese Überraschung ihrer Mutter den einzigen Augenblick aufrichtiger Freude ins Gesicht getrieben haben musste. Sie hatte geglaubt, es wäre ein Zeichen Deimeters, eine Gunst der Totenhexe und Herrin des Winters, dass Haut und Haar ihrer Tochter ebenso weiß wie Schnee waren wie das ihre.
Umso größer war ihre Enttäuschung gewesen als sie sich entgegen aller Erwartungen zum Feuer und nicht zum Eis hingezogen gefühlt hatte. Der Dei-Klan hatte seine Pforten für sie verschlossen gehalten, nur um einen Zyklus später ihre verhasste Cousine geradewegs in ihre Reihen zu zerren und nicht mehr gehen lassen zu wollen. Mutter hatte ihr dies nie verziehen. Und sie ihr auch nicht.
Mit ihrer Flucht nach Westeroog hatte sie einen Keil zwischen sich und ihre Mutter getrieben, den sie in den letzten zwölf Zyklen behutsam zu entfernen versuchten. Nur neben dem Aussehen hatte sie wohl auch ihren Stolz geerbt.
„Es ist eine ganze Weile her, dass wir miteinander gesprochen haben, Mutter.“, einer ihrer Finger fuhr über die steinernen Lippen des Abbilds der toten Begallin. Und ich hoffe, du wirst mir mehr zu sagen haben als das, was ich zu tun und zu lassen habe. Wenigstens dieses eine Mal. Der Blick der weißen Frau ruhte auf ihrem leblosen Ebenbild. Bitte.
Mit einem Augenrollen bei ausbleibender Antwort steckte sie die Fackel in einen Halter an der Wand und ließ ihren Rucksack über die Schulter zu Boden gleiten. Ein letzter Blick über die Schulter und dann verließ sie den kleinen Raum und ging zurück in die Halle.
***
Ihre Schritte lenkten sie dieses Mal unter die schweren Balkone aus beschlagenem Gestein in eine Ecke der Halle, wo einst ein gewaltiges Abbild vierer Begallinnen in den Stein geschlagen worden war. In den 150 Zyklen seit die Stadt aufgegeben worden war hatten sich auch hier Blattwerk und Wurzeln einen Großteil der Wand wieder zu eigen gemacht und hüllten die Frauen in eine dichte, grüne Decke. Jedes Mal, wenn sie Bokkat ins Gesicht sah und die kräftige Wurzel bewunderte, die der Herbst-Maid die Luft abzuschnüren versuchte, konnte sie nicht widerstehen zu dem Dolch herüber zu gehen, den sie auf Bodenhöhe in eben jene Wurzel getrieben hatte, und sie andächtig zu streicheln. „Das machst du hervorragend.“
Bet und Beganey, die Schwestern des Frühjahrs und des Sommers, waren von der Zeit nahezu vollkommen verschont geblieben und hatten es sich lediglich in der neuen Begrünung bequem gemacht – ihre Gesichter und die Arme waren noch gänzlich frei und von rachsüchtigen Ranken und Wurzeln verschont geblieben.
Ihr Blick fuhr weiter zur kleinsten und im Vergleich zu ihren Schwestern deutlich schmächtigeren Statue von Betam – oder das, was von ihr übrige war. Schon viele Zyklen bevor die Begallen diese Stätte aufgegeben hatten, hatte die Anhänger Bokkats das Bildnis ihrer Schwester zerschlagen und die Bruchstücke in den Abwassergruben des Tempels entsorgt. Sie hatte eine schiere Ewigkeit nach dem Fragmenten ihres Gesichts weit unten in den gefluteten Höhlen, Gängen und Tunneln gesucht und es noch immer nicht gänzlich wieder zusammensetzen können.
Betams Kopf ruhte zu ihren Füßen – oder dem, was davon übrig geblieben war. Man hatte damals, nach ihrem Aufstieg, sie schlichtweg versucht aus der Steinwand zu schälen und jede Erinnerung daran auszulöschen, dass sie einst zu den dreien, die heute als die Zoraya bekannt waren, gehört hatte. Die klaffende Wunde offenen Steins war in diesen Umläufen vollständig von den Luftwurzlern und Ranken vereinnahmt worden und nur noch ein paar vermeintliche Zehen, die zwischen ihnen hervorlugten, konnte man mit viel Mühe als das ausmachen, was sie einst gewesen waren.
Der Anblick der zerschlagenen Betam setzte ihr weniger zu als das erhabene Lächeln Bokkats, die trotz ihrer Luftnot nahezu hämisch auf die Begallin herunter blickte als wolle sie ihr damit verdeutlichen, das Deimeter hier unten keine Macht besäße. Doch erstens war sie sich sicher, dass Deimeter selbst nichts darauf gab, dass man sich an sie als Betam erinnerte, und die Herbst-Schlampe beim Anblick des Nacht-Tempels von Sharyngol voller Neid erblassen würde; und zweitens hatte sie selbst dafür gesorgt, diesen Ort für die Zoraya nach besten Wissen zu entweihen. Nicht nur der Dolch in der Wurzel, der sie an ihren Verrat an ihrer Schwester erinnern sollte, zeugte von ihrem Trotz und ihrer Auflehnung gegen die drei Schwestern, sondern auch das, was sie hier zwischen ihnen versteckte.
Sie kniete sich zu Betams Füßen nieder und streichelte sanft über eine ihrer Gesichtshälften, eher sie am Kopf vorbei zwischen die Füße zwischen die Wurzeln griff. Langsam tastete sie sich vor, an Zehhen und Knöchel vorbei, ein Stück weiter hoch und dann tiefer in den Stein hinein, verschob ihr Gewicht nach vorne auf die Ballen und schmiegte sich mit dem Gesicht an die Wurzeln, um mit ihrem Arm noch tiefer hineinreichen zu können. Dann berührten ihre Finger etwas kaltes. Behutsam angelte sie weiter bis sie den Gegenstand fest mit der Hand umschließen konnte und zog langsam einen Handspiegel aus aus schwarzem Metall hervor.
Rasch hüllte sie den Spiegel in ihrem Mantel ein, penibel darauf bedacht, der dunklen Spiegelfläche keine Möglichkeit zu geben, mit Licht in Berührung zu kommen. Der Griff und der Rücken waren ebenso wie der Rahmen mit alten, begallischen Runen verziert, die aufleuchteten, sobald sie in Dunkelheit eingelullt wurden.
Sie warf Bokkat einen letzten Blick zu und konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen.
Wenn der Herbst nur wüsste, dass der Winter zu seinen Füßen wartete...
***
Nachdem sie die Fackel gelöscht hatte, lehnte sie nun in völliger Finsternis mit der Hüfte an dem Steinsarg und befreite den Handspiegel behutsam vom mit den Säften der Dornenleshy durchtränkten Samt ihres Umhangs. Mit jeder umgeschlagenen Lage des Stoffs spürte sie ihr Herz ein Stück weiter halsaufwärts schlagen.
Im Schein der bläulich aufleuchteten Runen wirkte ihr Gesicht zunehmend eingefallen und unnatürlich fahl und eine tiefe Falte auf ihrer Stirn verriet ihre Verwirrung.
„Tante.“, sich richtete den Handspiegel nun so aus, dass ihre schwach ausgeleuchtete Reflexion sich in der glatten Ebene ewigen Eises hätte spiegeln müssen. Doch stattdessen starrten Augen zurück, die nicht die ihren waren.
„Roksana, liebes.“, auch wenn sie es noch nicht gänzlich sehen konnte, war sich die Begallin sicher ein falsches Lächeln in der Stimme der anderen Frau wiederzuerkennen. „Es ist eine ganze Weile her.“
„Ich will Mutter sprechen.“
Die andere Begallin wich ein Stück von der anderen Seite des Spiegels zurück. Anders als Roksana war ihre Haut dunkel und wulstig und spannte sich straff um eine Erinnerung an etwas, das einst ein recht hübsches Gesicht gewesen war - jetzt vor ihr jedoch nichts weiter als eine verzerrte Fleischmaske war. Im Zusammenspiel mit dem buckeligen, krummen Zinken in ihrem Gesicht, den hervorstoßenden Wangenknochen und den wulstigen Brauen, gewann sie den Eindruck, man hätte ihrer Tante fest ins Gesicht gegriffen und es mit Gewalt spiralförmig eingedreht. Alles an ihr mangelte an Symmetrie außer der zwei turmalinfarbenen, Hass speienden Augen, die versuchten aus ihren Sockeln zu fliehen.
„Deine Mutter hat keine Zeit für dich, Kindchen.“
Die Worte ihrer Tante schnitten wie scharfe Messer durch die Dunkelheit, doch war das Blut aus dieser Wunde längst versiegt.
„Das sehe ich.“, Roksana legte die Flanke ihres Zeigefingers auf ihre Unterlippe und nickte ihrer Tante zu, „Gut siehst du aus.“
„Spar dir die Floskeln, das hast du nicht nötig.“, die Augen der Begallin näherten sich wieder der Spiegelfläche und Roksana fragte sich in diesem Augenblick, wie es wohl wäre, diese Augen auf einem Dolch aufzuspießen. „Und dein Spott wird dich über kurz oder lang selbst einholen.“, sie machte eine kurze Pause, um ihren folgenden Worten Nachdruck zu verleihen. „Und es freut mich umso mehr, dass dieser Moment stetig näher rückt.“
„Du wirst dramatisch.“, Roksana bemühte sich ruhig und gelassen zu klingen, war es die einzige Möglichkeit, die ungebeten Tante rasend zu machen. „Was treibt Mutter? Hast du was von ihr gehört?“
Das Gesicht der schwarzen Begallin wippte im Spiegel unstet auf und ab als sie versuchte ein sich anbahnendes Husten zu unterdrücken. „Ich wüsste nicht, was dich das anginge. Du zeigst sonst auch kein Interesse an meiner Schwester.“
„Wir hatten es so ausgemacht.“
„Es ist etwas dazwischen gekommen.“, mit einer flachen Hand wischte die Alte das Thema aus der Luft. „Aber es geht ihr gut.“
Roksana versuchte sich die Erleichterung nicht anmerken zu lassen und ihre Finger um den Griff lockerten sich etwas.
„Ist sie zurück in Shivnekh? Die Haubenlerchen warten nur auf mein Zeichen und-“
„-Nein, deine Mutter ist auf direktem Weg nach Ormen. Sie haben dort etwas, das unserer Sache dienlich sein sollte.“
„Ormen?“, damit hatte sie nicht gerechnet, „Was wollen wir in Ormen? Das Städtchen ist klein und unbedeutend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kumowaci sie dort einfach gewähren lassen.“
Ihre Tante grinste.
„Ormen muss fallen, ob das Bogdana oder den Ältesten nun gefällt oder nicht. Wir müssen den Pass in Sicherheit wissen und zu alldem-“, ihre Augen weiteten sich, „schützt der Rat dort in diesem Zyklus die Wetterharfe,“
Früher hätte Roksana ihre Tante und auch ihre Mutter für ihren Glauben an alten Mythen und Sagen verhöhnt, doch seit sie ihr bereits drei Mal die Wahrheit hinter solchen Märchen vor Augen geführt hatten, war auch sie empfänglicher für diese Dinge geworden.
„Wenn sie die Harfe in ihren Besitz bringt, wir Wym toben. Seid Ihr sicher, dass wir den obersten Naturgeist reizen wollen? Wenn der Krieg ausbricht, könnten die Kumowaci nützliche Verbündete sein.“
Aus dem Spiegel drang ein Wutschrei und ein Klirren hervor. „Die Matwa ist alt, die Kumowaci gedeihen im Frieden. Sei nicht töricht, sie würden sich nie auf die Seite des Südens schlagen. Yelizaveta und der Norden haben sie fest in ihrer vermaledeiten Hand.“
Ihre Tante war nie gut auf ihre Lehrmeisterin und die heutige oberste Magystra zu sprechen gewesen. Sie hatte sich aufgrund der Magyster-Abstammung ihres Vaters bei den Magystern in Dhelkin Güür einschleusen und die Honora während des Krieges und dem darauffolgenden Aufbegehren des begallischen Südens mit nützlichen und brisanten Informationen versorgen können.
Roksana nickte. Tatsächlich verstand sie den Einwand ihrer Tante und die militärische Bedeutung des Begallpasses, sollte der Süden die Krieg wie geplant wieder aufleben lassen.
„Was haben du und Mutter geplant? Wenn ich euch irgendwie helfen kann, dann lasst es mich wissen, Tante.“
Die andere Begallin schien ihren Spiegel mit beiden Händen am Rahmen zu greifen und hob ihn über ihren Kopf, sodass Roksana ein wenig in ihre Stube einsehen konnte. Doch der Ort war ihr völlig fremd, was sie jedoch erkannte waren eine Reihe dunkelroter Bänder, mit Kupfer- und Messinggliedern und meitillischen Runen.
„Wo seid ihr?“ - Sie brauchte nicht fragen, sie wusste die Antwort bereits bevor ihre Tante den schiefen Mund mit den krummen Zähnen und der gespatenen Zunge nur einen Spalt weit geöffnet hatte.
„In Mogjang, meine Liebe. Es wird Zeit, dass auch du in unseren Kreis aufgenommen wirst.“, sie löste eine Hand vom Spiegel und schnippte galant mit dem Handgelenk, „Es ist der Wunsch deiner Mutter.“
Roksanas Griff verkrampfte sich erneut.
Ist das dein Ernst Mutter? So muss ich das erfahren? Ausgerechnet von ihr?
Dann nickte sie.
„Gut. Und wann?“
„Schon bald, mein Kind. Die Vorbereitungen laufen auf Hochtouren und Togtuun wird ihr Bestes geben, um alles für deine Ankunft vorzubereiten.“
„Togtuun?“, Roksana war abermals verwirrt, „Ist sie nicht auf dem Weg nach Shiroi?“
Ihre Tante rümpfte die Nase und spuckte in die Dunkelheit. „Unsere Pläne haben sich... geändert. Aber sie zwingen uns zu handeln und da-“, einer ihrer spitzen, überlangen Finger mit einem schwarzen Nagel bohrte sich von Innen in den Spiegel, „-kommst du ins Spiel.“
„Wenn ich schon mein Leben geben soll, könntest du mir wenigstens reinen Wein einschenken.“, Roksana war dieses Machtspielchen leid, Jetzt ging es um ihre Haut und sie sah nicht ein, blindlinks in ihr Verderben zu rennen.
„Die Kingu sind vorerst keines unserer Ziele. Stattdessen werden wir den Westen Neu-Noraniens ins Chaos stürzen, um uns den Osten und die Koydan-Spitze in einem Schlag zurückzuholen. Wenn der Berg wieder unser ist, werden sich Westeroog und die Laubwasser-Inseln dem Süden anschließen und wir holen uns unser Land, unsere Heimat zurück. Du, teure Nichte, wirst den Schlag auf Mogjang ausführen, wenn es soweit ist. Wir verlassen uns darauf, dass du all deine Talente und Fähigkeiten zu Gunsten des Zirkels nutzt.“
„Sie haben Bannbänder.“
„Sie hatten Bannbänder.“, die Häme triefte nur aus ihren Worten. „Und du wirst über alles in der Stadt walten können, wie es dir deine neuen Kräfte belieben.“
Nun grinste auch Roksana. So zuwider ihr der Gedanke daran war, sich ein Messer durch die eigene Kehle zu jagen, umso verlockender war die Versuch im Austausch gegen ihr Opfer und ihr Blut die Macht einer Matrone zu erhalten.
„Ich verstehe. -“
Daher also meine Ausbildung bei den Shikah.
„- Und für wann soll ich alles in die Wege leiten?“
„So schnell wie möglich. Khaliunn wird die Honora-Klans nach Darkhan bestellen, in dieser Zeit musst du zuschlagen. Hast du bereits wen im Auge?“
„Um ehrlich zu sein wüsste ich weitaus mehr als sieben, die ich Deimeter zu Füßen legen wollte.“
„Übernimm dich nicht, Sieben reichen aus. Wenn die sicher sind, kannst du immer noch mehr mit dir zum Kamm bringen.“
Roksana hörte ihre Tante nicht. Vielmehr malte sie sich bereits lebhaft aus, wie die Haubenlerchen um sie herum, ihre goldenen Ritualdolche in die Hälse ihrer Feinde stießen und sie in ihrem Blut ein neues Leben beginnen würde. Ein wenig Bedauern mischte sich dennoch darunter, als ihr dämmerte, dass sie selbst keine dieser Waffen in die Leiber dieses einen verfluchte Laeknir-Inquisitors und der obersten Zoraya-Priesterin treiben würde. Aber die Aussicht darauf, das Licht in ihren Augen erlöschen zu sehen, sollte ihr Abgeltung genug sein.
„Roksana!“
Die Stimme ihrer Tante drang wieder zu ihr durch.
„Hast du verstanden, was ich gesagt habe?“
„Ja.“, Roksana reckte die Brust hervor wie ein stolzer Hahn.
„Und was gedenkst du, diesbezüglich zu unternehmen?“
Sie hatte zu lange gezögert und ehe Roksana etwas erwidern konnte, klebte die verzogene Fratze viel zu dicht an der anderen Seite des Spiegels. „Mit den Hibana ist nicht zu spaßen. Räum sie aus dem Weg.“ Inzwischen sah sie nur ein wirr zuckendes Auge in einer tiefen Höhle, das Roksanas Gesicht prüfend abtastete. „Dauerhaft.“
„Das wird Yirika aber nicht gefallen.“
„Dann such dir einen anderen Sündenbock. Wenn sie Sharyngol betritt, will ich nicht, dass sie es wieder verlässt. Verstanden?“
„Betrachtet das Problem als beseitigt, Matrona.“
Und dieses Mal teilten sie ein Lächeln, das seit Generationen auf der Seite ihrer Mütter an die Töchter weitergegeben wurde.