Die weiße Frau hatte gehofft mit Ragana sprechen zu können, doch stattdessen hatte ihre Tante ihrem Ruf geantwortet. Jetzt lag der kleine, silberne Handspiegel mit seinem Rücken nach oben neben ihr auf dem kalten Stein des Sargs, gegen den sie lehnte. Missbilligend beäugte sie das alte Stück handwerklicher Meisterleistung und strich sich eine lose Strähne weißen Haares aus dem ebenso blassen Gesicht. Sie konnte es nicht leiden, wenn sie ihren Willen nicht bekam.
Mit einem Seufzen ließ sie sich von der letzten Ruhestätte der Frau gleiten, die sie geboren hatte, und strich mit einem einzelnen Finger die tiefen Kerben im Deckel entlang als könne der Körper darunter diese Berührung spüren. Ihre Mutter war schon deutlich länger tot als ihre Gebeine – zumindest für sie – aber dennoch fand sie sich immer wieder an diesem Ort ein, wenn ihre Pflicht rief.
Ihre Tante hatte sie abermals daran erinnert, welche Rolle sie im kommenden Krieg zu spielen hatte und davor gewarnt, wer auf dem Weg in die Stadt sei. Eine junge Buran war das, was sie, ihre Cousine und Ragana derzeit am meisten fürchteten. Und es lag an ihr, sie zu beseitigen.
Darin war sie gut – schon immer gewesen. Damals als ihre Mutter sie in die Obhut der Shika gegeben hatte, hatte man schnell ihr Talent in Umgang mit Waffen und Feuer bemerkt und gefördert. Sie war eine herausragende Leibwächterin gewesen, die die Honora bis aufs Blut verteidigt hatte. Doch als die ersten Gesänge der Haubenlerchen lauter wurden, stellte man sie zu den gewöhnlichen Stadtwachen ab. Zwar war sie schnell zur Kommandantin aufgestiegen, aber nichts langweilte sie mehr als die Schwachen und Feigen zu beschützen.
Beiläufig ergriff sie beim Umschlendern des Sargs den Spiegel, wohl bedacht darum dem Spiegel selber so wenig wie möglich von den Räumlichkeiten zu zeigen. Niemand, auch nicht ihre Tante, sollte wissen, wo sie die leblosen Überreste ihrer Mutter zusammen mit denen ihr anvertrauten Waffen versteckte. Sie hob den Handspiegel hoch an die Brust und presste ihn mit der freien Hand deutlich fester an sich als es hätte sein müssen. Aber sicher war sicher.
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Erst als sie an der zerschlagenen Statue der Zoraya ankam lockerte sich ihr Griff als sie vor den drei Schwestern in die Knie ging und den Spiegel in einen Spalt zwischen Sockel und Bodenplatte steckte, ehe sie letzten dann mit dem abgeschlagenen Kopf Bokkats verdeckte.
Noch während sie gedankenverloren in der Hocke verweilte, wurde sich vom Geräusch kleiner Kiesel auf den großen Bodenplatten aufgeschreckt und wirbelte herum.
Bevor die kleine Pflanzenkreatur, die mehr aus Wurzeln als aus Blättern oder Blüten bestand, sich gänzlich aus dem Schatten gelöst hatte, hatte die weiße Frau ihr ohne zu zögern mit ausgestreckten Fingern eine kleine Flamme entgegen geschleudert, die sie unmittelbar in Brand gesteckt hatte. Während die Leshy noch versuchte ihr Heil in der Flucht zu suchen, beobachtete sie die Begallin mit absoluter Gleichgültigkeit dabei, wie sie mit jedem weiteren Schritt auseinanderfiel und nur wenige Augenblicke später rauchend und stumm in sich zusammensackte.
Diese Kreaturen waren ihr ein Dorn im Auge seit sie immer tiefer in die Ruinen vordrangen. Zwar waren die meisten von ihnen nicht intelligenter als Tiere, aber es waren auch nur die meisten und nicht alle. Eine tote Leshy mehr oder weniger kümmerte sie wenig - sie würde nur darauf Acht geben müssen, dass die Kumowaci nichts davon erführen. Das brächte ihr nur unnötig Ärger. Und Ärger gehörte vermieden.
Langsam richtete sie sich wieder auf, ging herüber zu ihrer Tasche, warf sich diese um und ließ ohne ein Wort das Grab ihrer Mutter hinter sich.
Wenn sie verhindern wollte, dass die Enkelin dieser Wüsten-Hexe hier herumschnüffelte, musste sie sie loswerden. Und da kam es ihr nur recht, dass die Oberste Magystra erst vor kurzem der meitillischen Inquisition Grenzen und Türen geöffnet hatte. Mit einem stummen, breiten Grinsen schritt die weiße Frau durch die Gänge und Tunnel von Alt-Sharyngol. Es war an der Zeit die fremde Hexe auf einem Scheiterhaufen brennen zu sehen. Und mit den Gedanken an die verzweifelten Schreie kehrte nun endlich die Vorfreude und Erregung ein, die ihr die Leshys nicht geben konnten...