Der Tod betrat das Dörfchen in den Stunden vor dem Morgen, den kältesten der Sommernacht. Nebel hielt die Häuser eng umschlungen, die Bäume am Wegesrand, lag wie ein kühler Hauch über den Feldern. Dort am Rande des Waldes, an den Ufern einer kleinen Quelle legte er die Stirn an den Hals seines Pferdes, strich ihm zwei Mal durch die Mähne. Dann gürtete er sich die Messer um, legte den Dolch an die Hüfte und das fast sicherlförmig gebogene Kurzschwert um die Brust, so, dass er es einfach ziehen konnte.
Ohne jede Eile trat er zwischen den Bäumen hervor, und das Licht des Mondes offenbarte sein wahres Gesicht; das einer jungen Frau, das braune Haar zu einem engen Zopf geknotet, den Körper in einen dunklen, ledernen Harnisch gekleidet. Fast geräuschlos folgte sie den Wegen zwischen den Feldern, ließ die reifen Spitzen der Gräser durch ihre Finger laufen. Es war nicht einfach gewesen diesen Ort hier zu finden, so weitab vom Weltgeschehen, von den großen Städten des Reiches befand er sich. Ausgestorben saß das Dorf in einem weiten Tal wie eine Zecke auf nackter Haut. Irgendetwas an den einfachen Hütten weckte Erinnerungen in ihr, alte Erinnerungen, unangenehme Erinnerungen. Ein Schauder fuhr ihren Rücken hinab, doch dann waren sie hinfort, mit dem kühlen Morgenwind fortgeweht.
„Das Haus unter der Linde mit dem Eberkopf über dem Türsturz.“ Leise flüsterte sie, was ihre Nachsuchungen ergeben hatten; es hatte lange gedauert, seine Spur aufzunehmen und ihre eigene zu verwischen. Ihre Anweisungen waren eindeutig, und doch musste sie sicherstellen, dass sie selbst ein Schatten blieb, eine Unbekannte.
Sie fand das Haus am Ende des Dorfes, am Ufer eines kleinen Bachs. Unter dem stolzen Haupt der Dorflinde lag es, höher als die meisten Gebäude in diesem Hinterland, und doch muss es schon lange existiert haben, bevor sein jetziger Bewohner es in Besitz genommen hatte. Knarzend öffnete sich die Türe, offenbarte den einfachen, gestampften Lehmboden im Inneren. Keine Schlösser, nicht einmal ein Riegel versperrten ihr den Weg. Er musste sich sicher fühlen, geglaubt haben, dass ihn hier niemand aufspüren würde.
Reglose Umrisse lagen in der Nähe des Herdfeuers, in der Wärme, die die verbliebene Glut abstahlte. Lautlos trat sie näher, an der Tafel im Zimmerinneren vorbei, und beugte sich über die Gesichter der Schlafenden, zwei Kinder und einen Mann.
Das ist er nicht, dachte sie, er ist zu jung. Wahrscheinlich nur ein Knecht und sein Nachwuchs. Genau so leise wie zuvor zog sie sich zurück, sah sich um. Der Herr des Hauses schlief nicht bei den Bediensteten, er musste sein eigenes Zimmer haben.
Eine Treppe führte hinauf in das obere Stockwerk des Gebäudes, und sachte setzte sie einen Fuß vor den anderen. Nicht ein Knarzen verriet sie, nicht ein Schaben ihrer weichen Schuhe.
Er schlief in einem großen Bett, zugedeckt mit Ziegenfellen, weich und warm. Doch selig schlief er nicht; sie hatte kaum den Raum betreten, als er die Augen aufschlug. Es dauerte eine Weile, bis er sie im Zwielicht erkannte. Gehört hatte er sie sicher nicht, doch sie wusste, dass es Menschen gab, die allein die Anwesenheit anderer spüren konnten, gejagte, getriebene. Menschen, die wussten, dass nach ihnen gesucht wurde.
„Was …“ Es dauerte keine Sekunde nachdem er sie bemerkt hatte, da stand er bereits neben seinem Bett, riss einen Eberspieß aus der Halterung an der Wand. „Wer seid Ihr?“
„Seid Ihr Lex Ostra?“ Nicht einen Zentimeter rührte sie sich, doch ihre Augen folgten beharrlich der metallenen Spitze des Spießes.
„Wer hat Euch geschickt? Wie habt Ihr mich gefunden?“ Brüllend gellten die Rufe des Mannes durch die Nacht, weckten wahrscheinlich die Schlafenden. Sie würde nicht viel Zeit haben, bis das ganze Dorf auf den Beinen war. Sie musste sich beeilen.
„Seid Ihr Lex Ostra?“, wiederholte sie ihre Frage, und ihre Füße begannen wie von selbst ihren Tanz. Langsam und in einem vorsichtigen Kreis begann sie ihr Opfer zu umrunden, neigte ihren Körper leicht zur Seite, bereit, auf jeden Angriff zu reagieren.
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„Die Antwort kennt Ihr bereits.“ Brüllend warf sich Lex Ostra auf sie, holte mit dem Spieß aus, stieß zu. Mühelos drehte sie sich, nur um wenige Zentimeter, und der Schaft des Spießes glitt wirkungslos an ihrem ledernen Harnisch vorbei. Wieder stach Ostra zu, doch schneller als seine Augen folgen konnten hatte sie ihren Dolch gezogen und stieß die Spitze zur Seite.
Indes wurde Lex immer panischer. Eine folge schneller, aber schwacher Stöße gingen wirkungslos ins Leere, bis sie ihren Dolch an dem Spieß entlanggleiten ließ. Kaum hörbar fielen zwei seiner Finger auf die hölzernen Bodendielen, gefolgt von der Waffe des Hausherren.
Schmerzerfüllt wimmernd hielt Lex die Stümpfe seiner verstümmelten Finger umklammert, aus denen im Takt seines rasenden Herzschlages Blut schoss.
„Ihr wisst nicht, was ihr da tut!“ Ein um Erbarmen bittender Blick traf ihre Augen, suchte nach Mitleid. „Ihr wisst nicht, für wen ihr da arbeitet! Ihr wisst nicht, was Ihr anrichtet!“ Langsam kam sie ihrem Opfer näher, und Ostra schob sich verzweifelt weiter, eine Spur aus Blut hinter sich herziehend. „Ihr zerstört unsere letzte Hoffnung!“
„Das stimmt.“ Grob vergrub sie eine Hand in dem halblangen Haar des schreienden Mannes, zog ihn näher ans Fenster, näher in das Licht des Mondes. Flink ließ sie den Dolch in seine Schneide gleiten, zog in einer flüssigen Bewegung das kurze Krummschwert. „Ich weiß nicht, für wen ich arbeite.“
In jenem Moment schlug die Tür des Schlafzimmers gegen die Wand, mit solcher Hast wurde sie aufgestoßen. Kurz ließ sie sich von den entsetzen Blicken des Knechtes und seiner Kinder ablenken, doch dann hatte sie sich wieder gefasst.
Der erste hieb durchtrennte die Halsschlagader Ostras, und mit einem unglücksseligen Gurgeln füllten sich seine Lungen mit Blut. Verzweifelt versuchte er zu Husten, ließ mit jedem Beben seiner Brust einen roten Sprühnebel niedergehen. Drei weitere Hiebe folgten, bis sie Lex Ostras Kopf lose in ihrer Hand hielt, ihre Finger in seinem Haar verkrallt. Mit einem Tritt ließ sie seinen knienden Körper vornüberfallen, auf dem Boden zuckend wie die Puppe eines dementen Marionettenspielers.
Schreie, das Poltern hastiger Schritte, verzweifeltes Schluchzen. Entsetzt flohen die Menschen vor dem Tod, wie immer, wenn sie ihr Werk vor den Augen der Unbefleckten vollbrachte. Ohne jede Eile rieb sie ihr Kurzschwert mit dem Bettzeug des Toten trocken, steckte es zurück in seine Scheide. Dann stemmte sie sich an dem geöffneten Fenster empor, schob vorsichtig ihre Beine durch die Öffnung – und sprang. Geschickt fing sie die Wucht ihres Aufpralls auf, den Schopf des Toten noch immer umklammert. Und dann ging sie los, ging, als wäre nichts gewesen, als schöpfe sie nur am Brunnen das Wasser für den Morgen. Frauen, Männer und Kinder traten aus ihren Häusern, betrachteten mit Entsetzen die blutverschmierte Fremde mit dem Kopf in ihren Händen, doch keiner tat etwas, niemand hielt sie auf. Das taten sie nie, und vielleicht war es auch besser so.
Der Morgen zeigte sein erstes schüchternes Rosa, als sie wieder an die Quelle am Waldesrand trat. Gründlich schrubbte sie ihre Hände, ihre Arme ab; ihr Harnisch hatte wenig von der Blutfontäne ihres Opfers abbekommen. Oft genug hatte sie diese Form der Hinrichtung ausgeübt, um nicht mehr bis zum Hals mit Blut befleckt zu sein. Es dauerte nicht lang, bis niemand ihr mehr ihre Tat ansehen konnte, und doch blieb da dieser Geruch, diese metallische Note, die erst mit der Zeit verblasste.
Zur Begrüßung strich sie ihrem Pferd um den Hals; kurz hob das Tier den Kopf, sah sie an, doch schon wenige Sekunden später war das Gras zu seinen Füßen wieder so viel interessanter. Doch ihr war das einerlei; ihr Auftrag war noch nicht beendet. Mit einem fast stummen Ächzen hob sie den Deckel des Fasses an, das an der Seite ihres Reittieres baumelte. Ohne jedes Zögern griff sie hinein, zog einen der drei Köpfe darin empor, ließ die Pökellacke zurück in das Behältnis tropfen. Prüfend rieb sie ihren Finger an dem rot verfärbten Fleisch am Halsansatz des Toten.
„Keine Verwesung. Kein Gestank. Gut“, sprach sie zu sich selbst, bevor sie den Kopf zurück in sein hölzernes Grab versenkte. Dann hob sie Lex‘ Überreste empor, zog die Zeichnung aus ihrem Gürtel, die man ihr schon vor Wochen hatte zukommen lassen. Älter war er geworden, die Falten um seinen Mund hatten sich tiefer gegraben, das Haar um die Schläfen hatte sich zurückgezogen, doch ohne jeden Zweifel hatte sie den Mann von ihrer Zeichnung vor sich. Mit einem letzten Blick in die qualvoll verzogenen Gesichtszüge Lex Ostras ließ sie sein Haupt zu dem seiner Leidgenossen herab, streute Pökelsalz aus einem Säckchen darüber.
Unbewegt richtete sich der Tod auf, ließ den kühlen Morgenwind um seinen Nacken spielen. Dann schwang er sich auf sein Pferd.
Denn ein Opfer wartete noch auf ihn.