Die Sonne ging gerade erst auf, als das warme Schnauben von Blackstorm kleine Dunstwolken in den kalten Morgen entließ. Wyatt warf einen langen Blick über Stallion Creek, während er auf dem Rücken seines Hengstes am Rand der Koppel verweilte, die Müdigkeit noch in seinen Knochen. Seine Jungs würden in einer Stunde aufstehen, seine Tochter ein bisschen früher, um das Frühstück vorzubereiten. Doch Wyatt nahm die Ruhe der Landschaft in sich auf, das leise Getrappel der jungen Tiere, die noch verschlafen auf der Koppel langsam in Bewegung kamen. Im sanften Licht der Morgendämmerung ruhte Stallion Creek still und friedlich im zarten Schleier des Nebels. Die weitläufigen Koppeln, die sich über das Land erstreckten, waren von einer feinen Schicht Tau bedeckt, die im ersten Hauch des Tageslichts wie kleine Edelsteine funkelte. Die rustikalen Häuser des kleinen Städtchens, das seinen Namen dem Berg verdankte, standen ruhig da, eingebettet in die Natur, als ob sie schon immer ein Teil davon gewesen wären. Im Osten erhob sich der mächtige Iron Hill, dessen dunkles Profil sich scharf gegen den noch blassen Himmel abzeichnete.
Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne brachen über die Hügel und warfen ein warmes, goldenes Licht über das Land. Sanft tanzten sie über das ruhige Wasser eines kleinen Sees, der unweit der Stadt lag. Die Oberfläche des Wassers schimmerte wie flüssiges Gold, während die Welt um Stallion Creek erwachte. Es war ein Moment der vollkommenen Ruhe, Natur pur, als würde die Zeit für einen Augenblick stillstehen, bevor das Leben im Tal wieder seinen Lauf nahm.
Wyatt verdrängte den Gedanken daran, dass er die Ranch verlieren könnte und ebenso den an den Nachmittag auf dem Friedhof. Die Bilder von der Beerdigung seiner Frau vor über siebzehn Jahren drängten sich ihm auf, doch er schob sie entschieden zurück in den Hintergrund.
Er spürte, dass seine innere Unruhe auf Blackstorm übergriff und klopfte ihm die Flanke.
»Schon gut«, murmelte er mit seiner dunklen Stimme. Während er die Zügel im Cowboy-Stil, im lockeren Neck-Reining, hielt, ritt er entspannt zurück zum Haupthaus.
Durch das große Fenster zur Küche konnte er schon Abigail sehen, die noch verschlafen, mit zerzausten Haaren und im Nachthemd Kaffee aufsetzte. Wyatt lächelte. Seine älteste Tochter sah ihrer Mutter so ähnlich. Er lenkte Blackstorm zurück zum Stall, sattelte sein Pferd ab und versorgte die anderen Tiere mit frischem Heu und Pellets. Ließ frisches Wasser in die Tränken und blickte noch einmal den Gang entlang. Gleichmäßiges Mahlen und Saufen war zu hören. Wyatts Herz erwärmte sich, als er die vertrauten Geräusche wahrnahm. Stallion Creek war seit mehreren Generationen im Besitz der Morgan Familie. Damals war es eine Rinderzucht gewesen, doch als der Reitsport immer beliebter wurde, hatte man schnell auf Pferdezucht umgesattelt, im wahrsten Sinne des Wortes. Dennoch wallte das Blut von echten Cowboys in ihnen.
Die weitläufige Küche mit dem alten Holztisch, der in neuem Glanz erstrahlte, seit Daniel ihn sich vorgenommen hatte, roch intensiv nach frischem Kaffee.
»Morgen Dad«, grummelte Daniel, der eben von der anderen Seite in den Raum trat.
»Hast du hier geschlafen?«, wollte sein Vater wissen. Daniel besaß ein Holzhaus am anderen Ende der Ranch, das er in liebevoller Kleinarbeit immer wieder restaurierte und umbaute.
»Baue gerade eine neue Dusche ein, kein Wasser zu Hause«, grummelte sein Zweitältester. Daniel rieb sich mit der Hand über den dicken Vollbart, der ihn wesentlich älter wirken ließ als 27, und nahm sich eine Tasse des schwarzen Gebräus.
»Ich frage mich wirklich, wann du mal fertig bist mit deinen Umbauten«, scherzte sein Vater und hing den Stetson an den Haken an der Wand, an dem fünf Weitere schon nebeneinander hingen.
»Es wird eine Regenwald-Dusche. Mike hatte im Sheed ein Musterexemplar und es mir überlassen. Er meint, dass wäre nichts für die Landbevölkerung«, erklärte Daniel, dessen zweites Zuhause der Werkzeughandel The Tool Sheed im Ort war. Wenn er nicht gerade an seinem eigenen Haus arbeitete, war er im Dauereinsatz, um die Zäune zu reparieren oder in den Stallungen irgendwelche modernen Errungenschaften einzubauen. Dabei hatte sein Zweitältester ein geschicktes Händchen.
»Steht heute die Südkoppel an?«, wollte in dem Moment Ethan wissen. Seine kurzen Brauen Haare standen in alle Richtungen ab und er trug einen blauen Pyjama.
»Guten Morgen«, nickte Daniel nur und ließ sich, wie gewohnt, direkt gegenüber von seinem Vater nieder. Auch Ethan, sein ältester Sohn, bediente sich nun am Kaffee und gähnte herzhaft.
»Wo ist denn Abby?«, wollte Ethan wissen.
»Wahrscheinlich im Bad«, gähnte nun auch sein jüngster Sohn, von der Tür her.
»Ich hab gehört, wie Cole gegen die Badezimmertür hämmerte. Sag mal Daniel, kannst du ihr nicht ein eigenes Bad bauen?« Troy griff nicht nach dem Kaffee, er mochte keinen. Troy schnappte sich die Milch und goss eine volle Tasse ein, um den Rest über seine Cornflakes zu schütten.
»Verdammt! War das die letzte Flasche?«, er hob die Plastikflasche hoch. Sein Bruder zuckte mit den Schultern.
»Dann wirst du heute nach der Schule bei Humphrey vorbeifahren und Nachschub besorgen«, bestimmte sein Vater.
Er blickte die drei Männer an, die jetzt an dem großen Tisch saßen. Seine Söhne waren tolle Jungs, jeder auf seine eigene Art. Troy, sein Jüngster ging noch zur Schule und er war auch der Einzige, der die blonden Haare seiner Mutter geerbt hatte. Er stach aus den rauen Männern hervor, wir ein Schimmel unter lauter Rappen. Seine sanften Züge und die wachen Augen ließen Wyatt immer etwas traurig werden, erinnerte er ihn doch immer wieder an seine verstorbene Frau. Doch er würde niemals Troy die Schuld an ihrem Tod geben. Es war eine schwere Geburt gewesen und Troy wäre auch beinahe gestorben, doch um nichts in der Welt würde er den Jungen wieder hergeben. Er war nicht nur ein guter Reiter, sanft und aufgeweckt, sondern konnte auch gut mit Zahlen umgehen. Am liebsten würde er ihn auf ein College schicken, doch dafür war leider kein Geld übrig. Troy war gut genug, um ein Stipendium zu bekommen und sie hatten schon oft darüber geredet, wobei sein Jüngster immer klar gemacht hatte, dass er Stallion Creek nicht verlassen würde.
»Ich hab die Bilanz fertig, wir müssen bei den Futtermitteln etwas mehr sparen. Das Zeug hat mindere Qualität und ist sauteuer«, hörte er ihn jetzt sagen.
»Ich dachte mir schon, dass es gepanscht ist. Ich fahr morgen zum Pferdemarkt, da werden wir uns nach einer Alternative umsehen«, erklärte Ethan jetzt. Er war der ruhigste von seinen Söhnen.
»Nimmst du mich mit?«, wollte Abigail in diesem Moment wissen. Ihre braunen Locken zu zwei geflochtenen Zöpfen gebunden, ein schwarzes Kleid an.
»Klar Kleines, warum die schwarze Kluft?«, wollte Ethan wissen.
»Wir gehen heute zu einer verdammten Beerdigung, warum wohl?«, zickte sie los. In dem Moment sahen Daniel, Ethan und Troy an sich herunter. Verständnislos blickten sie auf ihr übliches Outfit, welches aus Jeans und Karohemden bestand.
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»Verdammt, daran habe ich gar nicht mehr gedacht«, murmelte Ethan. Wyatt lächelte wissend. Sie hatten alle daran gedacht, doch keiner wollte daran denken.
»Ich bin auf jeden Fall richtig angezogen«, grinste nun Cole. Er trug ein schwarze Jeans, schwarzes T-Shirt und seine neueste Errungenschaft, die schwarze Lederjacke auf die er fast sechs Monate gespart hatte und das Geld, welches er für kleinere Hilfsarbeiten in der Werkstatt von Fabio bekam, zurückgelegt hatte.
»Du siehst aus, als würdest du zu einem Bikertreff gehen und nicht auf eine Beerdigung«, maulte Daniel.
»In anderen Ländern trägt man Weiß zu Beerdigungen«, warf Troy ein.
»Eure Schwester hat Recht. Zieht euch bitte anständig an. Sheriff Bill hat das nicht verdient, dass ihr so respektlos seid«, warf Wyatt ein, um die Diskussion zu beenden.
Wyatt versuchte, den Vormittag wie jeden anderen zu verbringen. Zusammen mit Daniel überprüfte er die Zäune entlang der Südkoppel, schob schwere Pfähle in den Boden und befestigte das alte Drahtgeflecht. Doch immer wieder schweiften seine Gedanken zurück zum Nachmittag. Während Daniel sprach, über die neue Dusche, die er in seinem Haus einbaute, und die Werkzeuge, die er dafür bei The Tool Sheed gefunden hatte, spürte Wyatt, wie das Unbehagen in ihm wuchs.
Schließlich, als die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte und der Mittag verging, blieb Wyatt für einen Moment still stehen. Er blickte über die Weide, auf die Pferde, die wie immer ruhig grasten. Dann atmete er tief durch und legte Daniel eine Hand auf die Schulter. »Zeit, uns fertigzumachen«, murmelte er. Daniel nickte nur, und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zurück zum Haus, um sich für den Abschied am Nachmittag vorzubereiten.
Wyatt sah die Reihe der Trauergäste entlang. Es waren Farmer aus der gesamten Gegend gekommen. Auch die Besitzer der kleinen Läden, die Iron Hill zu bieten hatte. Cole und Fabio standen neben den Zwillingen Lana und Layla. Er war sich nicht sicher, ob er überhaupt wissen wollte, was seinen zweitjüngsten Sohn mit diesen Mädchen verband. Cole war ein Naturtalent im Sattel und ein Genie an Motoren. Eine Gabe, auf die Wyatt insgeheim stolz war. Ohne ihn und sein Geschick wären einige der Traktoren der Umgebung schon auf dem Schrottplatz gelandet. Doch er war auch ein Rebell, wollte cool und witzig sein, schoss dabei übers Ziel hinaus. Wie oft hatte Sheriff Bill Cole nach einer durchzechten Nacht in die Ausnüchterungszelle gesteckt? Auch Daniel hatte diese Phase durch, nur Ethan war nie mit dem Gesetz aneinandergeraten. Wyatt ließ seinen Blick zu Ethan wandern, dessen Miene ernst und voller Trauer war. Dachte er wie er selbst zurück an die Beerdigung seiner Mutter? Ethan war dreizehn gewesen, als Susan starb. Abigail fünfzehn. Auch sie sah traurig aus. Beide hatten ihre Mutter noch gekannt, waren mit vielen Erinnerungen gesegnet worden, auch Daniel konnte sich noch erinnern, war damals mit zehn aber zu klein gewesen, als dass Wyatt ihn mit zur Beerdigung genommen hatte. Cole und Troy jedoch hatten nur das, was ihnen ihre älteren Geschwister erzählt hatten. Nach Susans Tod war Abby irgendwie in die Rolle der Mutter hineingerutscht – etwas, das Wyatt jedes Mal einen Stich versetzte. Sie war nicht die Mutter der Jungs und sie war auch nicht dafür verantwortlich, dass der Haushalt lief. Er würde seine Jungs daraufhin wieder mal ermahnen, ihrer Schwester gefälligst mehr zu helfen. Und wenn es nur darum ging den Tisch zu decken und den Abwasch zu machen. Abigails dunkle Augen trafen ihn. Liebe und Mitgefühl schwammen in ihnen und Wyatt musste schlucken. Anscheinend war die Rede des Pfarrers vorbei, denn die Menschen bewegten sich nun in einer kleinen Schlange am Sarg entlang und warfen Blumen und Sand auf den Sarg.
»Deprimierende Angelegenheit«, murmelte Cole gerade zu einer der Zwillingsschwestern.
Wyatt funkelte ihn warnend an, und sofort verschwand Coles Grinsen.
»Wyatt?« Einer seiner Nachbarn und ebenfalls Pferdezüchter kam auf ihn zu.
»Hank«, murmelte Wyatt.
»Was machen wir denn nun? Drüben im Tal wurden zwei weitere Pferde gestohlen, top Zuchthengste und wir stehen ohne Sheriff da«, grummelte Hank. Da trat ein uniformierter Mann zu ihnen. Der uniformierte Mann musterte Wyatt mit einem festen Blick. »Sie sind Wyatt Morgan?«, fragte er, seine Stimme kühl und bestimmt.
»Ja, Sir.« Der 54-Jährige tippte sich zur Begrüßung an seine Hutkrempe.
»In den nächsten Tagen wird ein neuer Sheriff hier eintreffen. Ich würde ihnen gern den Schlüssel für das Department in der Stadt geben, damit er es bei ihnen abholen kann. Die Stallion Creek Ranch ist am leichtesten zu finden, wenn man sich hier nicht auskennt«, erklärte der uniformierte Mann. Es schien der County Sheriff zu sein, der in den letzten Wochen für Bill die Aufgaben übernommen hatte, mehr oder eher weniger mehr.
»Wir bekommen also wieder einen Sheriff?«, wollte Hank jetzt neugierig wissen, während Wyatt den großen Schlüsselbund an sich nahm.
»Ja, Holden Dawson ist ein erfahrener Polizeibeamter. Auch wenn er aus der Stadt kommt. Er wird sich schnell einleben. Ich hoffe, sie helfen ihm so gut es geht dabei«, verabschiedete sich der County Sheriff, sichtlich froh darüber, die Verantwortung für das verschlafene Nest Iron Hill abgeben zu können.
»Ein Städter?«, murrte Hank.
»Frischer Wind wird der Stadt gut tun. Wir müssen los Hank«, verabschiedete sich nun auch Wyatt und pfiff, um seine Kinder zum Auto zu rufen, auf seinen Fingern. Wie brave Lämmer kamen sie aus allen Richtungen auf den Geländewagen zugeschlendert, nur Cole fehlte. Der ging zu seinem Motorrad. Er hielt Troy den zweiten Helm hin.
»Darf ich Dad?«, wollte dieser mit leuchtenden Augen wissen. Wyatt hatte immer Angst, wenn seine Söhne mit diesem Ungetüm fuhren.
»Fahr vorsichtig Cole«, ermahnte er und nickte Troy zu, der mit dem schönsten Lächeln, welches der Sonne Konkurrenz machte, hinter seinen Bruder auf das Zweirad glitt und sich den Helm überzog. Daniel brummte leise und verschränkte die Arme vor der Brust. Wie oft hatte er nachts am Bett seines kleinen Bruders gewacht und darauf geachtet, dass alles in Ordnung war?
»Ich mag es gar nicht, wie Cole Troy auf dieser Maschine mitnimmt«, murrte Daniel. Er war derjenige, der sich lange Zeit, vor allem als Troy noch ganz klein war, um ihn gekümmert hatte. Daniel hatte mehr von Troys Windeln gewechselt, als jeder andere in der Familie. Daniel hatte mehr Nächte am Bett von Troy gewacht, als dieser gezahnt hatte und ihn öfter gebadet, als selbst Wyatt es getan hatte. Es war fast, als wäre Daniel Troys Ziehvater gewesen. Kein Wunder, dass er nicht gern sah, wie der Jüngste mit dem rebellischen zweitjüngsten versuchte mitzuhalten.
»Cole würde Troy niemals in Gefahr bringen, das weißt du. Steig ein, alter Brummbär«, grinste Ethan und klopfte seinem Bruder auf die Schulter.
»Wir haben noch viel Arbeit, lasst uns anfangen, eh es zu spät wird«, stimmte auch Wyatt zu und schüttelte das Gefühl von Schuld und Einsamkeit ab. Die Arbeit half ihm, das dumpfe Gefühl in seiner Brust zu ignorieren. Die Leere, die zurückgeblieben war, seit Susan nicht mehr an seiner Seite war. Er wusste, dass es niemanden mehr geben würde, der diese Lücke so füllen konnte wie sie.