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Kapitel 1

„Schon wieder eine Black Box.“ Leise Worte, die über die zusammengepressten Lippen des WSA kamen. Es war wohl die Dritte, die der Angestellte der Regierung diese Woche schon finden konnte. Über die drei Monitore hinweg, die sich über seiner Augenhöhe aneinanderreihten, leuchteten auf dem durchsichtigen Hologramm-Bildschirm­ in fett gedruckten Lettern Anubis Corporation. Darunter, auf dem Monitor zu seiner linken, lief ein alter Cartoon, den man im besten Falle noch als Retro bezeichnen konnte, stumm geschalten, um die Konzentration nicht zu gefährden.

Auf dem Hologramm-Bildschirm zur Rechten reihten sich Zahlen und Buchstaben unübersichtlich aneinander, ergaben irgendeine Information, die jemand, der nicht als WSA tätig war, kaum rauslesen konnte. Die Augen des mageren alten Mannes fixierten den mittleren Bildschirm, der auf seiner durchsichtig wirkenden Oberfläche ein simples Browserfenster von Anubis zeigte ohne Auffälligkeiten – nicht zu diesem Zeitpunkt zumindest.

Natürlich war es Arthurs Arbeit das überwachte Netz nach Black Boxen abzusuchen. Gefühlt vermehrten sie sich aber von Tag zu Tag und es erschien ihm mit jedem Atemzug schwieriger sie einfach aus dem Script der Seiten zu entfernen, ohne sich der Versuchung hinzugeben sie zu öffnen. Er wusste, dass er als einfacher Web Security Assistant nicht dazu befugt war solche Informationen einzusehen – aber er machte diesen Job schon so lange, manchmal war man dazu geneigt, schwach zu werden, um diesem Mysterium nachzugehen.

Nach einer gefühlten Ewigkeit des Verharrens öffnete Arthur das Protokollprogramm, um seinen Fund für die Obrigkeit zu protokollieren, bevor die Aufmerksamkeit zum rechten Bildschirm wanderte, so, dass er sich der Aufgabe zuwenden konnte den Störenfried aus dem Netz zu entfernen.

Das erste Mal als Arthur einer Black Box begegnet war, war in seiner frühen Jugend. Wie es normal war für seine Generation und die vor ihm, war er mit Elektronik und Gadgets im Kinderzimmer aufgewachsen. Es war normal bereits mit 10 das neuste vom neusten Handy zu besitzen, genau so normal wie die Implantate, die man seinen Kindern seit Jahrzehnten eingesetzt hatte, um durch ihre Augen hindurch beobachten zu können was sie gerade sahen, wo sie sich aufhielten, was sie unternahmen.

Es war nicht abwegig in dieser Gesellschaft, viel eher galt man damals als Rabeneltern, wenn man diese Überwachung und die somit vermittelte Obhut als Eltern nicht ausführte. So wie Arthurs Eltern, die sich nie Gedanken darum gemacht hatten welche Vorteile ein Implantat haben könnte. Sie waren alteingesessen, die Technik ging ihnen zu schnell und in einer Welt wie dieser war es für Arthur damals wenig positiv gewesen.

Er hatte nie dazugehört, weder in der Schule noch privat – seine Welt waren Computer und Spiele gewesen, und das schier unendliche Wissen auf das er Zugriff gehabt hatte.

Es war an diesem einen Abend, an dem seine Eltern nicht Zuhause gewesen waren und er das Internet nach Geheimnissen durchforstet hatte. Kinder und Jugendliche hatten ihre Gerüchte, es war manchmal viel zu verlockend sich hinzusetzen und zu versuchen der ganzen Sache auf den Grund zu gehen. Er wusste nicht mehr wirklich was er getan hatte, welche Begriffe er gesucht hatte, aber was sich öffnete, war eine schwarze Website die keine Adressleiste mehr aufwies, keinen Zurückbutton, kein Interface.

Auf dem schwarzen Hintergrund reihten sich 36 rote Punkte aneinander, in jeweils 4 Zeilen worauf zwei Zeilen blaue Punkte folgten – 18 Punkte insgesamt. Arthur hatte gesehen wie diese Punkte immer wieder im gleichen Takt aufleuchteten, fasziniert davon, was er entdeckt hatte. Er hatte es die ganze Nacht lang versucht zu entschlüsseln, bis seine Eltern Nachhause kamen am frühen Morgen und ihren Sohn vollends übermüdet vorfanden.

Arthur runzelte die Stirn. Was war danach passiert? Er erinnerte sich nicht. Er wurde ins Bett geschickt, ganz bestimmt, weil er niemals so lange hätte wach bleiben dürfen. Aber die Reaktionen, die Worte, die ganze Situation, alles fehlte. Es war als würde er sich nur noch an das Ergebnis erinnern, nicht mehr an das Ereignis das zu diesem Ergebnis geführt hatte.

Das Ergebnis war zugegeben, dass er nun hier war. Diese Faszination hatte ihn nie wirklich losgelassen, er hatte sich für diesen Berufszweig entschieden, weil er dem Geheimnis auf den Grund gehen wollte. Aber seit er seinen Job vor 30 Jahren hier begonnen hatte, war er kein Stück in diesem Vorhaben vorangekommen.

Es war ihnen nicht gestattet, sogenannte Black Boxen zu öffnen. Sie infizierten das System mit Viren, zurückzuführen auf eine Hackergruppe die in einem Zeitalter der digitalen Überwachung und Zensur versucht Daten auszulesen und an Grosskonzerne zu verkaufen, um diesen einen Datensatz zu liefern mit dem sie es gegen die Anubis Corporation aufnehmen konnten, bevor sie von Anubis konsumiert wurden.

Zugegeben, so schnell würde kein anderer Konzern Anubis das Wasser reichen können. Anubis war der grösste Konzern weltweit. Es gab nichts, was nicht über Anubis lief, nichts, was nicht von Anubis kontrolliert wurde, nichts, was nicht von Anubis überwacht wurde. Keine Information die nicht über Anubis verwaltet wurde. Eine Black Box in diesem System zu öffnen, hätte schwere Konsequenzen haben können, zumindest sagte man ihnen das.

Arthur war davon überzeugt, dass ein so grosser, wichtiger Konzern kaum derartig einfach zu infiltrieren war. Es gab andere Gründe. Vor 30 Jahren hatte er noch danach gesucht, nach dem Grund, aber inzwischen hatte er sich dem Strom angepasst. Er schwamm in die gleiche Richtung wie jeder andere unwichtige Fisch in diesem riesigen Komplex auch.

„Arthur! Feierabend. Lass uns einen trinken gehen!“ Die Stimme eines Arbeitskollegen erreichte ihn ohne Verzögerung. Mit wenigen Klicks startete er im Programm noch den Prozess, um die eben bereinigte Website wieder aufzusetzen, wobei er dem System den Befehl gab, runterzufahren, sobald der Neustart der Website erfolgt war, ehe er sich erhob. Kurz betrachtete er die halb leere Kaffeetasse, liess sie dann aber stehen. Am Morgen würde sein Arbeitsplatz auf ihn warten wie er es immer tat: sauber, aufgeräumt und geordnet. So funktionierte diese Welt in der die Technik bereits die Kinderzimmer regierte.

„Gehört? Wir kriegen einen Neuen.“

„Schon wieder?“

Arthur schien wenig begeistert über diese Information. Leute kamen und gingen hier fast täglich. Viele stellten sich die Arbeit anders vor, so wie er am Anfang, aber die wenigsten blieben. Die Aufnahmebedingungen waren härter geworden in den letzten Jahren und Arthur war sich nicht sicher, ob er in der heutigen Zeit noch eine Chance gehabt hätte hier eine Stelle zu bekommen.

Das war der Grund warum fast täglich neue Gesichter erschienen und wieder verschwanden. Eine lange und harte Ausbildung führte zu dem Wunsch, im idealen Umfeld arbeiten zu können. Wenn ein Arbeitsplatz dieser Vorstellung nicht entsprach, wurde so lange wie möglich nach dem Richtigen gesucht. Schlussendlich würden aber all die Träumer da landen, wo sie unglücklich waren – in irgendeinem kleinen Büro, für irgendeine kleine Firma, die nach nur kurzem Bestand die weisse Flagge hissen müsste, sobald sie irgendetwas vermarkten oder hervorbringen würde, was Anubis an sich reissen wollte.

Jede Geschichte endete irgendwie gleich. Sobald Arthur keinen Nutzen mehr einbringen würde, würde man ihn abschieben, in ein kleines Apartment mit dem Wichtigsten was er brauchte, um halbwegs vernünftig zu leben während er sich mit stumpfen E-Books oder dem immer gleichbleibenden Air-Programm die Langeweile vertreiben würde.

Als er klein war, hatte er die Vision irgendwohin auszuwandern, aber was hatte die Welt noch zu bieten in der heutigen Zeit? Nichts. Nichts, was er nicht schon irgendwie gesehen hätte, nichts Aussergewöhnliches.

Die wirklich interessanten Dinge lagen ausserhalb der Quarantänezone, hinter den Kuppeln die die Städte einzäunten. Vorbei an den künstlichen Bäumen, die nicht einmal mehr wie Bäume aussahen, vorbei an den Betonwäldern die sich Wohngebiete nannten, vorbei an den unfruchtbaren Böden, weit hinter den künstlich generierten Flüssen. Irgendwo da draussen, da lag noch das wirklich Interessante, etwas, was man nicht erreichen konnte.

„In letzter Zeit kommen sehr viele Neue, die nach nur einem oder zwei Tagen wieder verschwinden. Ich frag mich, wie sich die Jugend ihre Zukunft vorstellt. Irgendwann sind die Erzieher nicht mehr da um sie zu behüten.“

Ein Einwurf Arthurs während er nachdenklich den Boden musterte, auf dem Weg zu den Quartieren. Anubis besass hier einen der grössten Gebäudekomplexe weltweit. Sie wohnten nicht nur alle hier, Tür an Tür wie in einem Wohnblock, der Weg von dem Hauptgebäude bis zu den Wohnquartieren war mit Einkaufsmöglichkeiten gesäumt. Manchmal verliess er diesen Komplex für Wochen nicht, es gab aber auch nichts was das Leben ausserhalb Anubis bereichern würde.

Im Vergleich war es hier drin doch eigentlich sehr luxuriös. Es fehlte Arthur an nichts und er musste sich nicht mit Fremden abgeben. Nicht, dass er jedes Gesicht hier gekannt hätte, geschweigedenn jeden Namen – aber Anubis liess nicht irgendjemanden in ihre Mauern, und das generierte ein gewisses Grundvertrauen das die Mitarbeiter zueinander hegten, selbst dann, wenn man sich noch nie begegnet war. Hier geschah nie etwas, es war immer der gleiche Trott, tagein und tagaus.

„Erzieher, hm? Und ich dachte altes Eisen wie du gewöhnt sich nicht mehr so schnell um. Du hattest noch Eltern, nicht wahr?“

„Das klingt als wäre ich 100 Jahre alt. Aber ja, ich war noch eine der letzten Generationen, die mit dem Konzept von Eltern aufgewachsen sind. Schon seltsam, der Gedanke daran… Habe ich inzwischen doch kaum mehr einen Bezug zu ihnen.“

„Leben sie noch?“

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Arthur hob die Schultern unwissend an, diese Frage konnte er nicht beantworten, selbst wenn er gewollt hätte nicht.

„Ich weiss es nicht. Ich bin im Norden aufgewachsen, kam vor 30 Jahren ganz alleine hier hin. Sie waren nie sehr Technik begeistert, anfangs hatten sie noch versucht mit mir zu airen, aber irgendwann verlief es sich im Sand.“

Der doch etwas jüngere Kollege fuhr sich mit einer Hand durch das kurze, schwarze Haar, schien es doch befremdend zu sein jemanden über Eltern sprechen zu hören, die noch einen Bezug zu ihrem Spross gehabt hatten. Für die Generation nach Arthur war das kein Thema mehr. Menschen kamen zusammen um ein Kind zu zeugen, basierend auf ihren Qualitäten, um nur das Beste beider Seiten weiter zu geben.

Das daraus resultierende Kind kam zu Erziehern, Menschen, die eine lange Ausbildung genossen hatten, um die Kinder in die Richtung zu erziehen in der die Gesellschaft sie brauchte, runtergemünzt auf die rohen Fähigkeiten und genetischen Veranlagungen eines jeden Kindes. Es brachte nichts, ein physisch schwaches Kind in eine verteidigende Position zu zwingen.

Arthur hatte damals noch Entscheidungsfreiheit gehabt. Er hatte sich für den technikversierten Weg entschlossen, weil er nie sonderlich sportlich oder ausdauernd gewesen war, schlussendlich hätte er aber auch die Option gehabt sich einem physischen Werdegang der Web Security anzuschliessen. Das hätte aus ihm heute keinen Assistant gemacht, sondern vielleicht einen Observer oder Defender. Wer wusste das schon so genau. Er hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht, ihm war schon immer bewusst gewesen, dass er nicht mit seinem Körper, sondern mit seinem Kopf arbeiten wollte.

Die Kinder heutzutage hatten zwar die Wahl in welche Richtung ihr beruflicher Weg sie führen sollte, aber ob sie ihren Alltag an einen Bürostuhl gefesselt oder in einer Uniform draussen auf den Strassen bewältigten, entschieden sie nicht mehr selbst. Vielleicht war das mitunter ein Grund, warum so viele Jugendliche und junge Erwachsene hin und her pendelten, um den einen Job zu finden in dem sie sich halbwegs wohl fühlten.

„Das klingt so utopisch. Eltern. Hm. Man kann es sich kaum vorstellen in meiner Position. Erzieher sind halt Erzieher, am Ende des Tages auch nur Menschen die einen weiter bringen im Leben.“

Arthur nickte nur, er hatte den Bezug zu seinen Eltern so sehr verloren, dass das neue Konzept von Erziehern, das sich in den letzten 20 Jahren eingeschlichen hatte, nicht so befremdend war, wie er selbst immer vermutet hatte. Ob er sich wirklich jemals viel darüber nachgedacht hatte?

Wirklich erinnern konnte er sich nicht, oder vielleicht wollte er es auch nicht. Wenn man immer den Kopf gegen Veränderungen stierte, fehlte am Ende doch nur die Zeit und man verpasste jede Chance irgendwie noch mit der Geschwindigkeit der Technik mitzuhalten. Er hatte sich mit seinem Platz in der Gesellschaft abgefunden und trotz seiner Intelligenz und seinem Fachwissen, war man nie an ihn herangetreten, um seine Gene weiterzuvererben. Vielleicht war es ihm auch genau deswegen so egal, wie die Dinge sich ergaben. Wäre er Vater geworden, hätte er Kinder gehabt, es wäre ihm vermutlich nicht so egal gewesen, dass sie sich von ihm hätten entfremden müssen. Der Gedanke, dass er als Vater, der das Konzept eines richtigen Vaters noch kannte, diese Position hätte abtreten müssen, sein Kind einem Erzieher hätte überlassen müssen…

Aber hier war er: Ledig, alt und ohne Kinder. Es gab nichts was man ihm wegnehmen konnte, es gab keine Vorstellung die er vertreten musste, nichts was er noch gelernt hatte und an seine Nachkommen weitergeben wollte. Er wollte einfach nur in Ruhe existieren.

„Zeiten ändern sich. Wer weiss, wie es sich in den nächsten 20 Jahren weiterentwickeln wird. Aber das werde ich kaum noch aktiv miterleben.“

„Nun klingst du wirklich als wärst du 100 Jahre alt.“

„Ich meine nur, in 20 Jahren sitze ich in einem kleinen Apartment und geniesse die Ruhe. In 10 Jahren habe ich 40 Jahre bei Anubis gearbeitet, das wird mir eine gute Rente einbringen mit der ich das Alter geniessen kann und alles was sich noch ändert, wird die neuen Generationen betreffen, nicht mich.“

„Ist es nicht irgendwie eigenartig? Ich meine, du weisst ja nicht mal wann du sterben willst, oder? Die Aussicht eine unbestimmte Anzahl an Tagen einfach da zu sitzen und nichts zu tun zu haben…“

„Was wirst du tun, wenn du in Rente gehst? Anders leben, nur, weil du weisst, wie viele Tage du noch leben wirst?“

Arthurs Kollege zog die Schultern leicht hoch ehe er schmunzeln musste. Es war wohl eine schwierige Frage zu beantworten, wenn sich zwei Menschen gegenüberstanden die sich das jeweilig andere Leben nicht vorstellen konnten. Menschen die in der Generation nach Arthur geboren waren, hatten eine Art Ablaufdatum. Jeder wusste wie viele Jahre und sogar Tage er noch leben würde. Die neuste Generation wusste sogar, zu welcher Stunde sie sterben würde. Aber sterben war lange keine Tragik mehr. Man hatte zwar zwischenmenschliche Beziehungen, Freunde und Bekannte, die man zurückliess, aber schlussendlich schloss man auch nur einen weiteren Lebensabschnitt ab.

Es gab keinen Himmel und keine Hölle, so was wie Religion kannte Arthur noch – Menschen die an Gott glaubten oder höhere Mächte – aber selbst das war schon lange kein Thema mehr. Draussen, irgendwo in den riesigen Betonblöcken, lebten sicher noch Menschen die an eine Art Gott glaubten, aber es war eher eine Tradition, an der Menschen noch versuchten fest zu halten weil ihre Eltern oder Grosseltern noch daran geglaubt hatten. Nostalgie, nicht wirklicher Glaube.

Nein, wenn man starb, war einfach ende. Da wartete nichts auf niemanden. Wenn der Tag und die Stunde kam, legte man sich einfach hin, schlief ein und das war‘s. Kein helles Licht am Ende des Tunnels, kein Leben das an einem vorbeizog.

Es gab bei der Generation die nach Arthurs kam keine Altersschwäche. Die Menschen wurden durchschnittlich älter. Er würde irgendwann merken, dass er alt und schwach wurde und sich vermutlich die Spritze geben lassen, sein Leben mit Würde beenden, bevor er irgendwelche Gebrechen aufweisen würde die ihm das Leben erschwerten. Etwas, was die jüngeren Generationen nicht zu befürchten hatten.

Der Mensch wurde gezüchtet um lange und gesund zu leben, um bis ins hohe Alter Höchstleistung zu erbringen und dann irgendwann einzuschlafen. So einfach war es heutzutage. Kein Wunder also, konnte sich sein Mitarbeiter nicht vorstellen, wie es sein würde alt zu werden und das Alter auch zu spüren.

Der moderne Mensch der neuen Generation hatte ein Ablaufdatum. Etwas, was Arthur schon immer verwerflich fand, vor allem als dieses Projekt noch in Kinderschuhen steckte und der Gesellschaft vorgestellt wurde. Aber Meinungen wie die seine gehörten zu der Minderheit. Der Grossteil der Menschheit war begeistert. Die Angst vor dem Tod war die Einzige Angst, die viele noch geplagt hatte, und auch wenn es keine Möglichkeit gab sich im Nachhinein noch derartig modifizieren zu lassen, so beruhigte es doch viele werdende Eltern, dass ihr Kind ein langes, und bis ans Ende gesundes, Leben führen würde.

Wenn es einem Mann und einer Frau gesellschaftlich und von der Regierung erlaubt wurde, sich fortzupflanzen, blieb das Kind nicht bei der Mutter. Es wuchs nicht mehr im Bauch einer Frau heran, es wurde mit den Genen der Eltern schon im Reagenzglas gezüchtet. Die ersten Versuche waren kaum befriedigend gewesen, diese Menschen wiesen immer noch Fehler auf, sie waren nicht perfekt.

Perfekt. Für Arthur war perfekt schon immer ein seltsames Wort gewesen, lag Perfektion doch immer im Auge des Betrachters. Aber perfekt hiess für die neue Generation, dass sie lang leben würde, gesund sein würde und ihre Gene sie genau dahin führen würden, wo die Regierung sie brauchte. Die Jugend würde immer erkunden, den idealen Arbeitsort suchen, vielleicht für eine Weile in einer kleinen Firma, die noch nicht zu Anubis gehörte, eine Anstellung finden – aber am Ende würde jeder Mensch den Weg dahin finden, wo man ihn haben wollte, während er glaubte aus freiem Willen sich dafür entschieden zu haben.

„Wer weiss, vielleicht gibt es keine Rente mehr, sobald ich in das Alter kommen würde, in dem sie mir zustehen würde.“

Arthurs Mundwinkel zuckten dezent hoch und er linste zu seinem Arbeitskollegen als dieser diese Worte äusserte, während sie eine kleine Bar betraten. Alles war steril, gut beleuchtet, Teil des Komplexes in dem sie lebten. Sowas wie Pubs, irgendwo versteckt in kleinen Seitengassen, gab es schon lange nicht mehr.

“Das wäre nicht mal unwahrscheinlich. Die Zeit ist so schnelllebig. Zudem wirst du vermutlich doppelt so alt werden wie ich, wenn nicht noch älter.”

“Mein Todesdatum liegt noch 110 Jahre in der Zukunft.”

“Siehst du? Aber mich alt schimpfen.”

Arthurs Arbeitskollege schnaubte leise und amüsiert auf. Für ihn war Alter eben nur eine Zahl. Ab einem gewissen Zeitpunkt, dann wenn das körperliche Wachstum beendet war, fühlte sich die Zeit anders an. Natürlich wurde man älter aber man wurde gesund älter: Man sah mit 70 aus wie 40, und fühlte sich immer noch wie Mitte 20. Es war für diese Generation nicht wie für Arthur, der jedes Jährchen mehr auf dem Buckel deutlich spürte.

Kaum an einen Tisch gesetzt, leuchtete auf diesem das kleine Interface auf über das sie ihre Getränke bestellten. Eine Routine. Arthur konnte sich kaum mehr daran erinnern wie faszinierend das alles gewesen war als er diese Stadt erreicht hatte. Alles war so gross, geladen mit Technik und Fortschritt. Fast schon überwältigend. Aber mit der Zeit war es normal geworden und jede weitere Entwicklung hatte er einfach angenommen.

Rückblickend war das Einzige, worüber er sich ab und an Gedanken machte, die Erinnerung, dass er früher deutlich mehr Menschen hier gesehen hatte. Mit der Modernisierung kam die Automatisierung, so wie auch nun ihre Getränke den Weg zu ihnen fanden, ohne, dass jemand in Frage gestellt hätte wie oder woher. Sie bestellten und sie tranken als gäbe es dazwischen keinen Prozess, der abgewickelt werden musste. Und auch das war etwas worüber Arthur sich keine Gedanken mehr machte.

“Wie ist das eigentlich mit Aphin? Spürst du irgendwelche Nebenwirkungen? Also ich weiss, das klingt irgendwie dämlich, aber deine DNA ist ja nicht darauf ausgelegt.”

“Ich vergesse immer wieder, dass deine Generation den Ursprung von Aphin gar nicht mehr kennt.”

Nun war es an Arthur amüsiert zu schnauben, bevor er einen Schluck von seinem Getränk zu sich nahm, für einen Moment einfach der Stille verfallend, während neugierige Augen auf ihm ruhten.

“Stimmt, du bist alt genug um die Pandemie noch miterlebt zu haben, nicht?”

“Ja. Ich war noch sehr klein, ich erinnere mich nicht wirklich daran, oder an die Weltlage damals. Auch nicht ob ich mit Nebenwirkungen zu kämpfen hatte. Vermutlich schon. Aber Aphin hat sich weiterentwickelt seit damals. Wir hatten anfänglich alle damit zu kämpfen.”

Die Pandemie, die Weltenseuche, die zu Aphin geführt hatte, einem Medikament das vermutlich so ziemlich jeder Mensch seit der Katastrophe einnehmen musste, da sie es in all der Zeit nicht geschafft hatten, die Werte in der Luft zu senken. Sie war und blieb toxisch. Mitunter ein Grund warum viel zu viele Tiere in den letzten Jahrzehnten ausgestorben sind. Heutzutage fand man keine echten Tiere mehr, vielleicht irgendwo in einem geheimen Labor in dem man versuchte sie wieder heran zu züchten, aber das entzog sich nun wirklich Arthurs Kenntnissen. Er konnte nur mutmassen.

“Schon seltsam. Wir arbeiten seit Jahren zusammen aber irgendwie haben wir nie über solche Dinge geredet.”

Arthur lehnte sich gemütlich zurück als sein Gegenüber diese Worte an ihn richtete. Stimmt, er hatte selten viel mit Arbeitskollegen über persönliche Dinge geredet. Man ging immer wieder mal zusammen nach Feierabend trinken, um gemütlich zu plaudern und sich auszutauschen, aber selten drehten sich die Gespräche um solche Themen. Und falls doch hielt er sich meistens raus. Der Unterschied war wohl, dass sie nur zu zweit und nicht in einer Gruppe unterwegs waren, was eine Konversation doch deutlich ruhiger und fokussierter gestaltete.

“Stimmt. Sollten wir vielleicht öfters tun. Wer weiss, wie lange ich noch lebe, um meine Erfahrungen weiter zu erzählen.”

“Gute Idee. Auf uns, altes Haus. Und auf das was der Morgen bringt.”

Arthur nickte und hob das eigene Glas an, um mit seinem Arbeitskollegen anzustossen. Ja, auf das was der Morgen bringen würde.

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