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Der Weg eines NPCs: Toter Schurke von Pavel Kornev
Kapitel Eins. Eine pestverseuchte Leiche

Kapitel Eins. Eine pestverseuchte Leiche

1

DIE FUSSFESSEL WAR ZWAR MIT hypoallergenem Kunststoff überzogen, aber dennoch juckte die Haut darunter wie verrückt. Ich zog das Ortungsgerät so weit wie möglich vom Knöchel weg, damit ich mich richtig kratzen konnte. Das Gerät reagierte mit Vibrieren und Summen.

„Ganz ruhig, Genosse Major“, sagte ich schnell. „Im Westen nichts Neues!“

In dem Ortungsgerät, das Straftäter unter Hausarrest kontrollieren sollte, steckten so viele elektronische Module, darunter GPS, GLONASS, Wi-Fi, GSM und sogar ein Höhenmesser, dass ganz sicher auch ein einfaches Mikrofon darin zu finden war. Welchen Rang der für mich zuständige Kontrollbeamte tatsächlich hatte, war dabei ziemlich egal — etwas Anteilnahme zeigt oft große Wirkung. Zumindest hatte ich jemanden, mit dem ich reden konnte …

Ich stand schon im zweiten Monat unter Hausarrest und vermisste den normalen Kontakt zu anderen Menschen allmählich sehr. Schließlich war ich kein abgebrühter Verbrecher oder Soziopath — ich war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen.

Genauer gesagt hatte ich einen Job am falschen Ort gehabt.

Dabei hatte alles so gut angefangen! Mein Gehalt war nicht schlecht, es gab eine Reihe von verlockenden Nebenleistungen und hervorragende Aufstiegschancen. All das ging allerdings den Bach runter, als der Geschäftsführer der Bank wegen Geldwäsche hinter Gittern landete! Mit den illegalen Machenschaften hatte ich nie etwas zu tun gehabt, doch da der Großteil der Zahlungen über meine Abteilung gelaufen war, konnte mein Verteidiger nicht viel mehr für mich herausholen als das Zugeständnis, dass ich unter Hausarrest gestellt wurde. Immerhin besser als Gefängnis.

Aha, wenn man vom Teufel sprach ...

Ich griff zu meinem summenden Smartphone, das nur Anrufe von einer einzigen Nummer entgegennehmen konnte, und hielt es mir ans Ohr.

„Guten Abend, Jan!“, begrüßte ein heller Bariton mich.

„Hallo, Boris!“

„Jan, ich habe gute Nachrichten!“

„Im Ernst?“

In letzter Zeit hatte ich nur selten gute Nachrichten gehört. Mein Leben glich vielmehr dem Gefühl, mit einem gewaltigen Hammer bearbeitet zu werden.

„Wieso sollte ich lügen? Es gab heute Abend einen Störfall im Datenzentrum, und angeblich sind die Aufzeichnungen zu einigen besonders dubiosen Transaktionen deiner Abteilung verloren gegangen. Ich weiß nicht, ob das stimmt oder nicht, aber die Staatsanwaltschaft ist endlich bereit, sich auf einen Deal einzulassen. Wenn du Beweise gegen Kogan lieferst, wirst du im Gegenzug als Zeuge eingestuft und nicht mehr als Angeklagter und bekommst komplette Immunität vor Strafverfolgung.“

„Einverstanden!“, erwiderte ich ohne das leistete Zögern, denn ich hatte nicht die geringste Absicht, den ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Bank zu decken.

„Das habe ich mir gedacht!“, lachte Boris. „Den Deal haben wir in der Tasche, aber jetzt darfst du auf keinen Fall Dummheiten machen. Entspann dich. Hör Musik, sieh fern, steig in deine Gaming-Box ...“

„Ich dachte, ich darf das Internet nicht benutzen?“, fragte ich überrascht und warf einen Blick auf die Virtual-Reality-Kapsel.

„Das ist ein ganz anderes System. Ich sage dir als dein Anwalt: Das gilt nicht als Verstoß gegen deine Auflagen. Morgen wird kein leichter Tag, deshalb würde ich dir dringend raten, beziehungsweise sogar darauf bestehen, dass du dich entspannst und ausruhst. Die nächste Zeit wird sicher sehr nervenaufreibend und wir müssen bis zum Ende stark bleiben.“

Der Anwalt legte auf, also warf ich das Smartphone aufs Sofa und ging zu der Kapsel, die ich von der Bank als Prämie für einen meiner Geschäftsabschlüsse bekommen hatte. Bislang hatte ich nie die Zeit für ein längeres Virtual-Reality-Abenteuer gefunden, sondern hatte mich nur ein wenig im Startbereich umgesehen, den erfahrene Spieler abschätzig als „Laufstall“ bezeichneten. Trotzdem war es mir immerhin gelungen, mit meinem Schurken Level 9 zu erreichen. Noch ein Level, dann könnte ich in die Hauptwelt.

Wieso also nicht?

Zumindest würde mich das ablenken und ein bisschen entspannen…

DAS HAUPTMENÜ von Türme der Macht empfing mich mit dem stummen Glanz einer Palasthalle. Mein Schurke tauchte wenige Meter über dem Steinboden auf und landete geschickt ohne das leiseste Geräusch. Ich war es, der sich von dort aufrichtete.

John Shadow, Schurke. Level 9

Stärke: 9

Beweglichkeit: 14

Konstitution: 11

Intelligenz: 10

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Wahrnehmung: 11

Gesundheit: 99

Ausdauer: 103

Energie: 94

Schaden: 6-10

Tarnung: +9

Kritische Schäden bei Angriffen im Tarn-Modus, Hinterhalten oder Angriffen auf ein gelähmtes Ziel.

Manche Werte ließen sich im Zuge der Charakterentwicklung auf Kosten anderer erhöhen, aber davon hielt ich nichts. Zehn Punkte galten als Minimum und alles, was darunter lag, hatte erhebliche Einschränkungen zur Folge. Reduzierte man die Wahrnehmung, wurde man ein halbblinder Maulwurf, der nicht genau zielen konnte und nie im Leben einen kritischen Treffer landen würde, bei reduzierter Intelligenz konnte man nicht einmal die simpelsten Schlösser öffnen. Ein Schurke zeichnete sich nicht nur durch heimliche Angriffe aus, sondern war ein sehr vielseitiger Charakter. Genau das, was man brauchte, wenn man keine Freunde unter den Spielern und keinen Clan hatte.

Auf dem Boden leuchtete ein rotes Pentagramm. Ich trat hinein und fiel durch die Steine auf das unebene Pflaster des Platzes, in dessen Mitte der anmutige Turm der Macht in den Himmel aufragte.

Im Spiel war es später Abend. Über Old Gardens, der kleinen Stadt für neue Spieler, senkte sich rasch die Nacht. Das war gut, denn ein Schurke wie ich, dem es auf Tarnung ankam, konnte nichts besser gebrauchen als Dunkelheit.

Ich rückte meinen schweren Waffengurt zurecht, an dem ein Kurzschwert und ein Dolch hingen, und marschierte eine schmale Seitenstraße hinunter, die vom Platz wegführte. Der Ausgangsort war nicht besonders groß — für Neulinge interessant waren lediglich der Stadtpark mit seinen beiden Verliesen, der sumpfige Fluss und die Katakomben unter dem Kloster. Man konnte einige Quests für die Charaktere erledigen, die in der Stadt wohnten, doch für mich waren sie im Augenblick nicht von Interesse. Ich wollte nur etwas abschalten.

Im Laufen rupfte ich ein hellgrünes Blatt von einem Baum und zerrieb es zwischen den Fingern. Als ich daran schnupperte, stieg mir ein extravaganter, angenehmer Duft in die Nase. Alles in diesem Spiel wirkte vollkommen real, aber das überraschte mich nicht besonders — daran war ich gewöhnt. Türme der Macht verwendete anders als die Konkurrenzprodukte wie Schwerter & Feuer oder Distant Space eine patentierte Technologie, mit der die Spieler Informationen über die virtuelle Welt erfassen und kleinere Details selbst ergänzen konnten. Das Gehirn diente also im Prinzip als dedizierter Server, der die Prozessleistung der Gaming-Hardware verstärkte.

War der Duft von den Erschaffern der Spiels programmiert oder hatte ich ihn mir selbst ausgedacht?

Wer konnte das schon sagen?

Aber es spielte auch keine Rolle …

AUF DEM PLATZ vor dem Kloster waren ungewöhnlich viele Menschen versammelt und ein Mönch mit einem Stück Pergament in der Hand trat aus einer Gasse.

„Könnte der edle Herr den Stadtpark von dem Untoten befreien?“, fragte er mich, während er mir eine Karte entgegenstreckte.

Möchtest du die Quest „Boshafte Leiche“ annehmen?

[Ja /Nein]

Ich willigte ein, nahm die Karte und sah mir die Ziele genau an. Einfacher ging es kaum — ich musste lediglich die langsam umherwankende Leiche beseitigen, die ich auch ohne spezielle Quest schon häufiger in Stücke gehackt hatte.

Auf der Karte erschien ein grüner Punkt, der die Höhle markierte, die ich aufsuchen sollte, und ich machte mich auf den Weg in den Park. Der Mönch bat keine anderen Spieler um Hilfe, sondern kehrte zu meiner großen Erleichterung zurück in die Gasse.

Eine persönliche Quest? Das war einfach großartig!

Mir fehlten nur noch wenige Erfahrungspunkte, um Level 10 zu erreichen. Also hieß es, den Zombie zu erledigen, und dann nichts wie raus aus der Stadt, damit ich mich ausruhen konnte.

DER PARK WAR GROSS und ungepflegt. Ringsherum verlief ein heruntergekommener Zaun, in dem magische Kristalle mit gelbem Licht funkelten. Neben der Höhle mit dem einsamen Zombie gab es irgendwo zwischen den Bäumen den Eingang zu einem viel größeren Verlies, doch der Herrscher der Skelette, der tief darin hauste, konnte nur von einer großen Spielergruppe besiegt werden. Dort wagte ich mich niemals hin, sondern jagte lieber nur Füchse, Wölfe und gelegentlich einen Untoten.

Nachdem ich eine Steinbrücke über den ruhigen, kleinen Fluss mit seinem sumpfigen Ufer überquert hatte, aktivierte ich den Tarn-Modus und verschmolz mit den Schatten. Meine Energieanzeige bewegte sich sofort abwärts, und ich war froh, dass ich Intelligenz und Wahrnehmung nicht reduziert hatte, denn das hätte sich auf diesen Wert ausgewirkt.

Die Markierung auf der Karte führte direkt zu meinem Ziel, sodass ich nicht über die dunklen Wege wandern musste. Ich bog nur ein einziges Mal ab, als ich ein Kaninchen unter einem Baum entdeckte.

Dank meiner Tarnung konnte ich mich ganz dicht an das Tier anschleichen. Ich durchbohrte ihm mit dem Schwert das Rückgrat und tötete es mit dem ersten Angriff.

Kritischer Treffer! Schaden: 20

Das Kaninchen wurde getötet!

Erfahrung: +5 [1658/1730]

Zu schade, dass das bei Wölfen längst nicht immer klappte — Gehör und Geruchssinn waren bei diesen Raubtieren so gut, dass sie mich viel zu früh bemerkten.

Ich wartete kurz, tauchte dann wieder in den Schatten ein und bewegte mich durch das dichte Gebüsch unterhalb des Hügels auf das Verlies zu. Vorsichtig betrat ich den leeren Eingang zur Höhle und machte mich im schwachen Schein des Schimmels, der die Wände bedeckte, auf die Suche nach dem Kadaver.

Hier roch es ... ziemlich schlecht. Der Gestank von totem Fleisch und Verwesung stieg mir in die Nase.

In meiner Kehle regte sich ein unangenehmes Gefühl, doch ich konnte die Übelkeit schnell unterdrücken und stieg vorsichtig weiter über die menschlichen Knochen, die hier und da verstreut lagen. Ich durfte kein Geräusch verursachen.

Die wandelnde Leiche befand sich in einer entlegenen Ecke des Verlieses. Dick und aufgequollen stand sie neben einer versiegelten Kiste, in abgerissenen Lumpen, die ihre pustelnübersäte Haut nicht verbergen konnten.

Erneute brach eine Welle fauligen Gestanks über mich herein. Ich hielt den Atem an und schlich mit gezogenen Klingen in beiden Händen um die Leiche herum. Der leuchtende Schleim an den Wänden gab nicht genug Licht ab, doch meine Sinne waren so scharf, dass ich die weißen Knochen in der Dunkelheit schimmern sah und ihnen ausweichen konnte.

Die Leiche nahm mich nicht wahr und ich griff sie hinterrücks an, indem ich erst mit dem Schwert zustieß und direkt danach mit dem Dolch.

Die wandelnde Leiche wurde getötet!

Die Quest „Boshafte Leiche“ ist abgeschlossen!

Erfahrung: +350 [2008/2070]

Du steigst ein Level auf!

Ich entschied mich gegen neue Fähigkeiten, sondern erhöhte meine Beweglichkeit sowie meine Tarnung. Dann öffnete ich den hölzernen Deckel der Kiste. Plötzlich schnappten die Schatten des Verlieses als stählerne Fallen zu.

Schattenfallen: Du bist gelähmt!

Erlittener Schaden: 37 [73/110]

Ich versuchte, mich loszureißen, doch mein Körper gehorchte mir nicht.

„Viele Grüße von Kogan!“, flüsterte es hinter mir.

Erlittener Schaden: 37 [36/110]

„Du hättest den Mund halten sollen!“

Erlittener Schaden: 37 [0/110]

Du bist gestorben!

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