„Haben Sie schon einmal Reich ohne Grenzen gespielt?“, eröffnete der HR-Mitarbeiter mittleren Alters das Vorstellungsgespräch mit ausgerechnet der Frage, die ich am meisten gefürchtet hatte.
Laut Stellenanzeige musste ich unbedingt eine Anforderung erfüllen: Ich durfte das Spiel noch nie gespielt haben. Wenn ich die Frage mit „ja“ beantwortete, würde das Gespräch vermutlich so schnell beendet sein wie es begonnen hatte.
„Spielen Sie irgendwelche anderen bekannten Spiele, äh … Timothy?“, fragte er, nachdem er meinen Namen auf dem Bildschirm vor sich gelesen hatte. Er schien einen langen Tag hinter sich zu haben und war bestimmt müde.
„Ja, natürlich. Ich bin seit ungefähr sechs Jahren ein Gamer. Ich habe ziemlich lange Königreiche der Schwerter und Magie gespielt.“
„Gamer“, murmelte er geringschätzig und runzelte die Stirn. Der umgangssprachliche Ausdruck schien ihm nicht zu gefallen. „Und wie haben Sie sich im Spiel unserer Konkurrenz geschlagen? Haben Sie besondere Leistungen erbracht, Timothy?“
Sollte ich ihm die Wahrheit sagen oder war es unklug, einem Fremden solche Details zu verraten? Trotz meiner Bedenken entschied ich, das Risiko einzugehen.
„In den letzten fünf Jahren war es meine einzige Einkommensquelle. Ich habe natürlich nicht genug für eine Luxusjacht oder eine Villa auf einer tropischen Insel oder so etwas verdient, aber es war mehr als genug, um davon leben und mein Studium bezahlen zu können.“
„Warum sagen Sie ‚natürlich nicht genug für eine Jacht’?“, hakte er nach, ehe er zu meiner Überraschung lachte. „Die Spitzenspieler von Reich ohne Grenzen verdienen ohne große Anstrengung genug für ein seetüchtiges Boot. Doch soweit ich weiß, verstößt das Entnehmen von Spielgeld bei KSM gegen die Regeln. Möchten Sie mir ein bisschen mehr darüber erzählen, Timothy?“
Ich hatte wohl die falsche Entscheidung getroffen. Ich hätte nichts davon erwähnen sollen. War dies das Ende? Würde ich abgelehnt werden? Aber der Mann bestand nicht auf einer Antwort. Stattdessen stellte er eine völlig andere Frage.
„Warum wollen Sie mit KSM aufhören? Doch das können wir wohl überspringen, die Antwort liegt auf der Hand. Die Anzahl der aktiven Spieler ist stark gesunken. Mehr und mehr Leute wechseln zu Reich ohne Grenzen. Es ist schließlich unterhaltsamer und realistischer. Das Geld muss einfach ausgegangen sein.“
Ich nickte nur, denn ich hatte dem nichts hinzuzufügen. Früher hatte unser Clan zwischen fünf- und siebentausend Spieler für PvP-Raids in feindlichen Gebieten oder zur Vernichtung eines Superbosses zusammentrommeln können. Doch diese Zeiten waren lange vorbei. Gestern hatten wir gerade mal fünfzehn Spieler für einen Angriff auf eine feindliche Burg zusammenbringen können und drei davon waren Newbies gewesen, die erst eine Woche im Spiel waren. Aber dennoch … wir hatten die Burg gestürmt! Der einzige Verteidiger des feindlichen Clans, der übrig gewesen war, schien froh zu sein, die Bürde loszuwerden. Er hatte uns viel Glück gewünscht und versucht, uns sein Konto aufzuschwatzen, weil er das Spiel verlassen wollte, um bei Reich ohne Grenzen einzusteigen.
Da beschloss ich, dass es an der Zeit war, das sinkende Schiff zu verlassen, bevor es von der Konkurrenz völlig versenkt wurde. Es war natürlich sehr ärgerlich, all das Geld zu verlieren, das ich in das Spiel gesteckt hatte. Nach dem tragischen Tod meiner Eltern hatte ich ihre Wohnung geerbt, doch ich musste sie verkaufen, um die Arztrechnungen meiner Schwester bezahlen zu können. Danach war noch eine ordentliche Summe übrig gewesen, weshalb ich beschlossen hatte, in eine virtuelle Immobilie in der Nähe einer Hauptstadt in KSM zu investieren. Zu der Zeit war Königreiche der Schwerter und Magie rasant gewachsen und es schien eine gute Anlage zu sein.
Wer hätte ahnen können, dass das bis dahin unbekannte Unternehmen Reich ohne Grenzen nur zwei Wochen nach meiner riskanten Anschaffung seine eigenen Spielserver starten würde? Hätte irgendjemand voraussehen können, dass es in nur drei Jahren zum weltweit größten und reichsten Unternehmen werden sollte, das viele hundert Millionen Spieler weltweit in seine äußerst realistische Welt ziehen würde? Der Wert meiner virtuellen Immobilie in Königreiche war so stark gefallen, dass er nicht einmal mehr die Zeit rechtfertigte, die ich damit verbracht hatte, sie zu bauen.
Der HR-Mitarbeiter verbrachte einige Minuten damit, sich meinen Lebenslauf genauer anzusehen, bevor er mich anblickte und lächelnd sagte: „Ein menschlicher Paladin auf Level 310, ein Dunkelelfen-Bogenschütze auf Level 270, ein Halbelfen-Magier auf Level 190 ... Nicht schlecht, gar nicht schlecht. Timothy. Hat man Sie darauf aufmerksam gemacht, dass Spieler in Reich ohne Grenzen nur einen Charakter haben können, der nicht geändert oder gelöscht werden darf? Auf diese Weise gehen wir sicher, dass unsere Spieler ihre Charaktere wirklich verstehen und eine enge Verbindung zu ihnen aufbauen. Nur dann erleben sie die Spielwelt als echte Realität.”
Ich nickte nur, ohne etwas zu sagen. Natürlich wusste ich das. Es war der Punkt, über den ich mir am meisten Sorgen machte, seitdem ich die Online-Stellenanzeige für Reich ohne Grenzen-Spieltester gesehen hatte. Mein Problem war, dass ich schon einmal versucht hatte, Reich ohne Grenzen zu spielen. Doch das war vor über drei Jahren gewesen. Zu der Zeit war es noch eine offene Beta-Version gewesen, die mir etwas „halbgar” erschien. Es gab weder Übungsszenarien, Anleitungen, noch Ingame-Hinweise. Die Stelle, an der ich gestartet war, hatte grob und unvollständig ausgesehen. Keine „prächtigen, lockenden Horizonte” oder „hinreißend echten Sonnenuntergänge”, wie die Werbung es jetzt versprach. Damals hatte es all das in Reich ohne Grenzen nicht gegeben.
Außerdem hatte ich nur sieben Minuten gespielt. Mein Charakter war ein Level-1-Barbar gewesen, ich hatte eine zweihändige Axt gewählt und den Startbereich verlassen. Gleich neben dem Dorf war ich auf eine Gruppe von Level-70-Vampirfledermäusen getroffen - und eine Sekunde später war ich tot. Als ich die Nachricht erhalten hatte, dass ich eine ganze Stunde warten müsste, um zum Spawnpunkt zurückkehren zu dürfen, hatte ich das unausgereifte, unausgewogene Spiel verflucht und es von meinem Computer gelöscht. Jetzt hoffte ich, dass mich mein früherer, fehlgeschlagener Versuch nicht daran hindern würde, einen Job als „Videospieltester” zu bekommen, wie die Position in der offiziellen Stellenanzeige ausgeschrieben war, um die ich mich in diesem Gespräch bewarb.
„Was gibt es noch zu sagen, Timothy? Sie haben wirklich viel Erfahrung mit Videospielen und keine physischen oder psychischen Probleme. Ich sehe keinen Grund, warum Sie nicht für unser Unternehmen arbeiten sollten”, erklärte der Mann mit einem Lächeln und reichte mir ein Tablet mit einem Fragebogen. Er bat mich, in dem kleinen Nebenzimmer Platz zu nehmen, den Bogen auszufüllen und dann auf den Beginn des Einführungsgesprächs zu warten.
Ich ging in das Zimmer, holte mein Handy heraus und tat so, als ob ich ein Selfie vor dem coolen Poster mit dem blauen Wasserdrachen machen würde, während ich eine Nachricht sendete: Das Vorstellungsgespräch ist gut gelaufen.
Gleich darauf vibrierte mein Handy. Es war die Antwort: Keine Eile, aber was bieten sie dir an? Ich sehe mich mal in den Foren um.
Dann setzte ich mich auf einen Stuhl und begann, auf dem Tablet Kästchen anzukreuzen. Die Fragen konzentrierten sich auf meine Gesundheit, mein Familienleben, Vorstrafen und schlechte Gewohnheiten. Der zweite Teil war völlig anders und zielte darauf ab, herauszufinden, welcher Spielcharakter am besten zu meiner Persönlichkeit passte.
Neben mir saßen andere Jobsucher, die ebenfalls auf ihren Tablets herumtippten. Die meisten der Männer und Frauen waren in meinem Alter, einige waren älter und es waren sogar einige Senioren dabei. Es dauerte nicht lange, bis ich einen Eindruck von meinem zukünftigen Arbeitsumfeld hatte. Da waren Schüler, die wegen Abwesenheit oder schlechten Noten von der Schule verwiesen worden waren, Büroangestellte, deren Stellen abgebaut worden waren, gescheiterte Börsenmakler, hoffnungslose Spielsüchtige und verzweifelte Ruheständler, die es nicht geschafft hatten, eine passendere Arbeit zu finden ... Mit anderen Worten: Die Leute, die um mich herum saßen, waren Verlierer, die keinen Platz in der realen Welt gefunden hatten.
Ich sah mich zwar nicht als Verlierer, doch ich passte trotzdem in diese Gruppe. Ich war schon 22 Jahre alt, hatte aber keinen Job, keine Freundin, kein Geld und keine eigene Wohnung. Ich unterschied mich also nicht viel von den anderen. Ich war nicht dumm, ich besaß einen Abschluss in chemischer Forschung. Ich war in der Lage, eine Unterhaltung zu führen, sah nicht schlecht aus und war einigermaßen sportlich. Es fiel mir auch nicht schwer, mit Frauen zurechtzukommen, doch aus irgendeinem Grund hatten alle meine Freundinnen mich wegen anderer Typen verlassen. Sobald sie herausfanden, dass ich mich um meine gehbehinderte Schwester kümmern musste, machten sie sich aus dem Staub. Das war zwar schade, doch ich würde meine Schwester niemals wegen einer oberflächlichen Beziehung aufgegeben.
Meine Schwester Valeria war zur Zeit des Unfalls 11 Jahre alt gewesen. Mein Vater hatte am Steuer des fliegenden Familienautos gesessen, als es mit dem eines Diebes zusammenstieß, der auf der Flucht vor der Polizei war. Durch den Aufprall und dem daraus resultierenden 30-Meter-tiefen Fall waren meine Mutter und mein Vater sofort getötet worden. Meine jüngere Schwester überlebte, doch sie verlor beide Beine und erlitt schwere Verletzungen und Knochenbrüche. Die Polizei hatte ermittelt, dass mein Vater schuldlos gewesen war, doch das machte die Sache auch nicht leichter. Ich hatte unsere Wohnung in einer guten Gegend der Stadt verkaufen müssen, um Vals Behandlung und andere Rechnungen bezahlen zu können.
Ich wurde Valerias Erziehungsberechtigter, ihr Freund und Psychologe. Ich ersetzte ihr die ganze Welt. Am schwersten war die Zeit gleich nach dem Unfall gewesen. Valeria litt ständig unter starken Schmerzen und sah keinen Grund, weiterzuleben. Sie bat mich oft, ihr eine Handvoll Schlaftabletten zu geben, damit sie nicht mehr aufwachen musste. Ich tat mein Bestes, um meine Schwester zu trösten und sie davon zu überzeugen, keinen Selbstmord zu begehen. Tatsächlich wurde ihr Lebenswille nach und nach stärker. Wir versuchten viele Dinge, um ihre Stimmung zu heben, und es stellte sich heraus, dass Spaziergänge das beste Mittel waren. Wir wohnten neben einem großen, schönen Park, in dem wir uns oft aufhielten. Leider mussten wir bald aus dem Stadtzentrum an den Stadtrand ziehen, weil uns das Geld fehlte. Kurz danach wollte Val keine Spaziergänge mehr machen. Meine Schwester konnte die Witze und das Gelächter der Nachbarskinder nicht aushalten. Sie nannten sie Krüppel und bewarfen sie sogar mit Steinen. Es war einfach zu viel.
Doch dann fand sie eine neue Möglichkeit, ihre Behinderung zu vergessen. In virtuellen Computerspiel-Welten konnte sie sich austoben und wieder schöne Umgebungen genießen. Dieser neue Zeitvertreib brachte uns aber kein Geld ein. Ganz im Gegenteil. Die Situation hatte sich besonders in den letzten Monaten verschlechtert, als deutlich wurde, dass die Spielwelt, die sie einige Jahre zuvor gewählt hatte, Königreiche der Schwerter und Magie, zu Ende zu gehen drohte.
Ich schüttelte den Kopf, um die traurigen Gedanken zu verscheuchen, und kehrte zu dem Fragebogen zurück. Nachdem ich alle Fragen beantwortet hatte, kam ich zum letzten Punkt, der gewünschten Zahlungsart. Es gab zwei Optionen: Ein monatliches Festgehalt oder die Möglichkeit, virtuelle Währung zu entnehmen und sie gegen reales Geld einzutauschen. Wie bei den meisten MMOs war es in Reich ohne Grenzen normalerweise nur erlaubt, Geld einzuzahlen. Man konnte zwar reales Geld ins Spiel investieren, doch es war nicht möglich, es wieder zu entnehmen. Nur für die Angestellten des Unternehmens wurde eine Ausnahme gemacht. Wenn sie wollten, konnten sie anstatt eines realen Gehalts virtuelle Währung aus dem Spiel entnehmen.
Was mich betraf, war das der Grund, warum ich unbedingt für das Unternehmen von Reich ohne Grenzen arbeiten wollte. Keine Firma würde einem der kläglichen Verlierer, die mit mir in diesem Zimmer saßen, ein festes Gehalt zahlen. Doch wenn man Spielgeld auf legale Weise in reales Geld umtauschen könnte ... Die Möglichkeiten waren nicht abzusehen. Mein Charakter könnte im Spiel reich werden und damit meine finanziellen Probleme im realen Leben lösen. Meiner Schwester und mir war natürlich klar, dass auf jeden Spieler, der Glück hatte, Tausende kamen, die die falsche Wahl trafen, hart arbeiteten und höchstwahrscheinlich doch nur den Mindestlohn verdienten. Aber wir hatten unsere Entscheidung gemeinsam und bewusst getroffen.
Die rundliche Frau mittleren Alters, die neben mir saß und den Eindruck einer Buchhalterin vermittelte, stieß mich an. Sie war bei einer Frage über „Charisma” angelangt und fragte ihre Nachbarn nun laut flüsternd, was das Wort bedeutete. Ich konnte nicht verstehen, was der Mann antwortete, der zu ihrer anderen Seite saß, aber er versuchte, eine ernste Miene beizubehalten. Die Frau errötete und trug ihre Antwort mit der Schnelligkeit eines Druckers auf ihrem Tablet ein. Dabei verdeckte sie mit der linken Hand, was sie schrieb. Ich schüttelte den Kopf. Wenn das meine Konkurrenz war ... Ich kreuzte zuversichtlich die Option „Virtuelle Währung entnehmen” an.
Die Entscheidung war getroffen, jetzt gab es kein Zurück mehr. Ich versuchte, das unangenehme Gefühl der Angst loszuwerden, das mich beschlich, wenn ich an mein leeres Bankkonto dachte. Doch das war nicht alles. Da gab es noch den überfälligen Kredit, dessen Zinsen sich langsam, aber sicher anhäuften. Wenn ich in den nächsten Wochen nicht wenigstens einen Teil davon abbezahlen konnte, würde die Bank meine Karte sperren. Außerdem hatten meine Schwester und ich seit drei Monaten keine Miete mehr bezahlt. Unsere Vermieterin hatte bereits damit gedroht, uns rauszuwerfen. Es würde äußerst schwierig sein, ohne festes Gehalt auszukommen.
Trotzdem hatte ich beschlossen, das Risiko einzugehen, genau wie damals, als ich die Ingame-Immobilie in Königreiche der Schwerter und Magie gekauft hatte. Doch dieses Mal setzte ich nicht nur eine Zwei-Zimmer-Wohnung aufs Spiel, sondern alles, was meine Schwester und ich noch besaßen.
***
„Hallo und willkommen!” Ein elegant gekleideter, dunkelhäutiger Mann mit dunklen Locken betrat die kleine Bühne. „Mein Name ist Alexandro Lavrius. Ich bin Direktor der Abteilung Sonderprojekte des Unternehmens von Reich ohne Grenzen. Sie wurden ausgewählt, um unter meiner Leitung als Videospieltester zu arbeiten. Was ist mit dem Mikrofon los?”
Das Mikrofon gab einen lauten Pfeifton von sich, sodass meine Ohren schmerzten. Die junge Assistentin des Direktors sprang schnell auf die Bühne und stellte das Mikrofon ein, das an Alexandros Kragen befestigt war. Der Direktor warf ihr einen unzufriedenen Blick zu, der nichts Gutes versprach, und fuhr fort: „In Ordnung, jetzt sollte es funktionieren. Zuerst eine kurze Einführung. Das virtuelle Reich ohne Grenzen, in dem Sie arbeiten werden, ist sehr groß. Es ist nicht grenzenlos, wie der Name vielleicht vermuten lässt, doch es hat eine beachtliche Größe. Es ist jetzt schon größer als unsere Erde, Sie können also praktisch grenzenlos herumreisen und neue, interessante Orte entdecken. Zurzeit gibt es etwa 240 Millionen Spieler in Reich ohne Grenzen und diese Zahl steigt pro Monat um etwa zwei bis drei Millionen. Man könnte meinen, unser Unternehmen wäre stolz darauf, würde sich auf seinen Lorbeeren ausruhen und das Geld einfahren. Das ist aber nicht der Fall. Unser Management lässt sich ständig neue, noch grandiosere Pläne einfallen, die Entwicklung des Spiels ist nach wie vor in vollem Gange. Die Planungsabteilung sieht jedoch bestimmte Risiken für die mittelfristige Zukunft und die Direktoren sind der Meinung, dass eine reale Gefahr besteht.
Wir sehen zwei Hauptprobleme. Erstens: Trotz der vielen verschiedenen Völker und ihren einzigartigen Charakteristiken in Reich ohne Grenzen wollen 78 Prozent der Spieler als Menschen spielen. Das ist eine deutliche Unausgewogenheit. Wenn wir außerdem in Betracht ziehen, dass 17 Prozent als verschiedene Arten von Elfen- und Halbelfen spielen und drei Prozent als Zwerge, kommen wir direkt zur Wurzel des Problems. Nur zwei Prozent wählen ein anderes Volk aus den über 100 verfügbaren Möglichkeiten.
Es gibt vielfältige Gründe für dieses Ungleichgewicht. Vor allem haben potenzielle neue Spieler praktisch keine positiven Gamer-Vorbilder, die weniger beliebte Völker gewählt haben. Die Spielforen sind voll von detaillierten Anleitungen über menschliche Paladine, Waldelfen-Bogenschützen und Halbelfen-Assassinen. Daher ist es keine Überraschung, dass neue Spieler Angst haben, einen unbekannten Pfad zu wählen. Weil sie nur einen Charakter haben können, wollen sie kein Risiko eingehen. Das Ergebnis ist, dass sie menschliche Paladine, Elfen-Bogenschützen und Dunkelelfen-Nekromanten erstellen, die es in unserer Welt schon im Überfluss gibt. Unsere bisherigen Nutzer verlieren zu Recht ihr Gefühl der Einzigartigkeit und ihr Interesse am Spiel, weil sie jeden Tag mehrere exakte Ebenbilder von sich selbst treffen.
Das zweite Problem betrifft die Wahl der Wohnorte. Vor unseren Spielern erstreckt sich ein wahres Reich ohne Grenzen, das sich nach Bedarf erweitern lässt. Trotzdem wird die momentan existierende Karte kaum genutzt. Neunzig Prozent der Spieler leben in einer der wenigen Megastädte oder in deren unmittelbarer Nähe. Zu dieser Überbevölkerung kommt es vor allem aus wirtschaftlichen Gründen. Städte verfügen über Ressourcen, dort zirkuliert das Geld und es gibt Banken, bei denen die Spieler ihren Besitz sicher verwahren können. Darum wollen Spieler trotz der hohen Preise für Immobilien und Ressourcen immer noch in diesen Städten leben. Millionen wunderschöner Orte, die von talentierten Designern gestaltet wurden und in denen es einzigartige Missionen und Einheimische gibt, bleiben ungenutzt. Außerdem bemerken wir wachsenden Unmut bei den Spielern, die das Gefühl haben, es gäbe nichts mehr zu entdecken und es werde langsam langweilig.
Warum erzähle ich Ihnen das alles? Wie Sie wahrscheinlich schon erraten haben, darf niemand von Ihnen menschliche oder elfische Charaktere wählen und niemand wird ein weiterer Ritter oder Bogenschütze. Das würde unserem Unternehmen ganz und gar nicht gefallen. Sie beginnen das Spiel in weit entfernten Wildnissen, von denen aus es äußerst schwierig sein wird, dicht besiedelte Orte zu erreichen. Sie starten das Spiel alle an einer anderen Stelle und werden mit größter Gewissheit Gefahren und Problemen begegnen. Das ist kein Zufall. Die Testgruppen haben gezeigt, dass die Herausforderung, schwierige Situationen erfolgreich zu bewältigen, der Faktor ist, der unsere Spieler in der Spielwelt hält.
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Wir hoffen, dass mit der Zeit alle Newbies an solchen Orten beginnen werden, weshalb eine Ihrer Missionen darin besteht, zu testen, ob Ihr Charakter unter diesen schwierigen Bedingungen überleben und leveln kann.
Ihre Gruppe ist eine von mehreren, die in den vergangenen Wochen ausgewählt wurden, um neue, ungewöhnliche Volk- und Klassenkombinationen auszuprobieren, nicht ohne dabei einige blaue Flecken davonzutragen. Sie werden interessante Wegbereiter sein, die die Vorteile Ihrer ungewöhnlichen Völker, Klassen und Berufe eloquent beschreiben sollen. Ein Wort zur Warnung: Nur wenige von Ihnen werden die Probezeit bestehen und fest angestellt werden, da unser Unternehmen nur Persönlichkeiten und Geschichten braucht, die bei bestehenden und potenziellen Spielern großes Interesse finden. Doch auch wenn Sie die Probezeit nicht bestehen, gewinnen Sie unschätzbare Erfahrungen im Bereich der Videospiele und erhalten eine ausgezeichnete Gelegenheit, durch modernste Technologie mit all Ihren Sinnen in Reich ohne Grenzen einzutauchen.
Jetzt erhalten Sie die Charakterkarten, die Ihnen aufgrund Ihrer heutigen Testergebnisse automatisch vom System zugewiesen wurden. Dann haben Sie die Möglichkeit, meiner Assistentin Fragen zu stellen. Danach sollten Sie vor Ende des Geschäftstages zur HR-Abteilung gehen, um Ihren Vertrag zu unterzeichnen, damit Sie morgen Ihre Arbeit beginnen können.”
„Können wir heute schon anfangen zu spielen?”, fragte ein rundlicher, junger Mann. Sein blasses Gesicht war von Pickeln übersät.
Alexandro Lavrius sah über uns hinweg auf die Uhr an der Wand, fragte seine Assistentin leise etwas und antwortete dann: „Sie können erst anfangen, wenn Sie den Vertrag unterschrieben haben. Denken Sie daran, dass es in Reich ohne Grenzen jetzt etwa 16 Uhr ist und dass es um 21 Uhr dunkel wird. Nach dieser Einführung gehen Sie zur HR-Abteilung, dann zeigt man Ihnen Ihren Arbeitsplatz und erklärt Ihnen, wie die virtuelle Realitätskapsel benutzt wird. Anschließend müssen Sie einen Charakter erstellen, die Übungsmission beginnen und einen sicheren Ort finden, an dem Sie die Nacht verbringen können. Die Nächte außerhalb der Städte und anderer sicherer Orte sind in Reich ohne Grenzen äußerst hart und gefährlich. Höchstwahrscheinlich werden Sie von Monstern gefressen. Sollte das passieren, verlieren Sie einige Erfahrungspunkte und eine ganze Stunde, bevor Sie respawnen können. Falls Sie es trotzdem riskieren wollen, heute anzufangen, spricht nichts dagegen. Falls Sie die erste Nacht überleben, wird es eine nützliche Erfahrung sein und sich positiv auf Ihre weitere Karriere als Tester auswirken.”
***
Ein Goblin-Kräutersammler??? Verständnislos starrte ich auf meine Charakterkarte. Ich holte mein Handy heraus, um nach Informationen über Goblins in Reich ohne Grenzen zu suchen. Der erste Link belohnte mich mit folgendem Text aus einem Forum:
Goblins sind hinterlistige Mistkerle, die gemeine Streiche spielen, Gemüse aus Gärten stehlen und Reisende angreifen, die allein unterwegs sind. Zum Glück sind Goblins schwach, daher kann sogar ein totaler Newbie mit ihnen fertig werden. Manchmal findet man ganze Goblindörfer. Mit ihnen lässt sich gut Erfahrung sammeln, sodass Anfänger leicht leveln können. Ich weiß nicht warum, aber die Entwickler haben dieses NPC-Volk für Spieler verfügbar gemacht. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, dass jemand dumm genug wäre, dieses grüne Gräuel zu wählen, besonders in Anbetracht der restriktiven Strafen auf Intelligenz und Stärke, die es für einen Goblin fast unmöglich machen, ein guter Magier zu werden oder eine Kampfklasse zu wählen. Rein theoretisch könnte ich mir einen Goblin-Spieler wegen seiner Boni in Beweglichkeit und Wahrnehmung als Bogen- oder Armbrustschützen vorstellen. Aber ich habe noch niemanden getroffen, der gestört genug wäre, es zu versuchen, denn alle Elfenarten haben bei diesen Attributen noch größere Boni. Ach ja, diese grünen Freaks erhalten auch schwere Strafen auf Beziehung zu Menschen und können standardmäßig keine normalen Spielorte aufsuchen.
Kein Wunder, dass niemand als Goblin spielen wollte. Selbst jemand, der bei der Erstellung seines Charakters einen Goblin in Betracht gezogen hatte, würde nach der Lektüre dieser Beschreibung schnell seine Meinung ändern. Was hatten sich die Entwickler von Reich ohne Grenzen nur dabei gedacht?!
Der Text stammte von jemandem namens Verwilderter Waldbursche. Laut seines Forums spielte er als menschlicher Druide auf Level 204. Aus Neugier las ich auch die nächsten sieben Links, die die Suchmaschine gefunden hatte, doch überall bekam ich die gleichen unangenehmen Informationen. Ich schickte meiner Schwester eine Nachricht über den Charakter, den ich spielen musste, und studierte weiter die Anleitungen zu Goblins und Kräuterkunde.
Als mich laute Stimmen vom Lesen ablenkten, hob ich den Kopf. Der Direktor war schon lange gegangen und jetzt stritt sich die rundliche Frau, die nach der Bedeutung des Wortes Charisma gefragt hatte, mit seiner Assistentin.
„Stimmt etwas nicht mit Ihrem zugewiesenen Charakter?”, fragte die Assistentin in eisigem Ton.
„Das kann man wohl sagen! Ich soll eine Dryadentänzerin spielen! In den Foren habe ich gesehen, dass Dryaden keine Kleidung tragen! Ich bitte Sie! Ich dachte, ich bewerbe mich um einen Bürojob. Die Arbeitszeiten sind vielleicht etwas ungewöhnlich, aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich als Stripperin arbeiten soll!”
Die Assistentin des Direktors war wegen des Vorfalls mit dem Mikrofon schon gereizt, daher konnte man leichten Ärger in ihrem Ton vernehmen. „Das System hat ermittelt, dass diese Kombination von Volk und Klasse optimal für Sie ist. Wenn es Ihnen nicht gefällt, muss ich Ihnen leider sagen, dass Sie die Probezeit nicht bestanden haben und die erste Teilnehmerin sind, die die Gruppe verlassen muss ...”
Auf dem Gesicht des Mannes, der ihr vorher erklärt hatte, was Charisma bedeutete, bemerkte ich ein höhnisches Grinsen. Die bizarre Kombination war vom System wahrscheinlich aufgrund seiner irreführenden Erklärung gewählt worden.
Die Assistentin streckte ihre Hand aus, um die Charakterkarte der Frau zurückzunehmen, als eine junge Frau aus der hinteren Reihe rief: „Warten Sie! Könnte ich den Charakter mit ihr tauschen?” Eine hübsche, junge Frau mit guter Figur, die ihr kastanienbraunes Haar in einem langen Zopf trug, der ihr bis zum Gürtel reichte, stand auf und kam zur Bühne.
„Ich habe mir die einleitenden Informationen über Dryaden angesehen. Es stimmt, ihre einzigen Ausrüstungsplätze sind für Ringe und Armbänder vorgesehen, aber das wird durch ihre Volksboni ausgeglichen. Außerdem ist die Tänzerklasse ausgezeichnet für Dryaden geeignet. Sie haben schließlich Boni für Attraktivität, Charme und die Reaktion aller Mitglieder des anderen Geschlechts.”
Die Assistentin stimmte ihr zu. „Richtig. Es ist eine gute Rolle. Mit diesem Charakter kann man leicht Erfahrung sammeln. Außerdem ist der Pfad der Dryadentänzerin sehr ungewöhnlich. Es gibt keine einzige Anleitung. Mit einem solchen Charakter zu leveln ist praktisch eine Garantie dafür, die Probezeit zu bestehen.”
Die biedere Buchhalterin schauderte und murmelte unglücklich: „Mal sehen, welchen Schweinkram sie Ihnen aufdrücken wollen ... Schlimmer als eine Stripteasetänzerin kann es ja kaum sein.” Sie nahm der jungen Frau die Karte aus der Hand und las sie. „Oh! Ja! Eine Gremlin-Bankerin! Davon habe ich mein ganzes Leben lang geträumt!”
Die Frau mittleren Alters hätte die junge Frau fast geküsst, die die Karte mit ihr tauschte. Danach hörte ich überall um mich herum Leute rufen:
„Wer möchte gegen einen Troll-Kannibalen tauschen?”
„Ich tausche einen Kobold-Betrüger gegen jede andere Klasse!”
„Will jemand einen Ork-Astrologen? Ich tausche gegen jede Art von Nahkämpfer!”
Ich hatte keine Lust, auf das Ende dieser Freakshow zu warten und stand auf, um mich auf den Weg zur HR-Abteilung zu machen. Der Goblin-Kräutersammler erschien mir nicht mehr so schlimm, ich war mit meinem Los jetzt völlig zufrieden.
***
Obwohl ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, beeindruckte mich der Reichtum und Luxus, den das Unternehmen von Reich ohne Grenzen zur Schau stellte. Es besaß einen riesigen Wolkenkratzer, in dem es auch viele unterirdische Etagen gab. Als ich mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr, bemerkte ich, dass es für einige Etagen, die ich durch die Glastüren sehen konnte, keine Knöpfe gab. Die Wachleute auf diesen Etagen waren mit Waffen ausgerüstet und trugen Schutzwesten und Gasmasken.
Der nette Techniker Arthur führte mich zu meinem Arbeitsplatz und erklärte, dass es den normal Sterblichen verboten war, diese unterirdischen Etagen zu betreten. Dort befand sich „das Allerheiligste” des Unternehmens, die Spielserver. Es war einfacher, in einen Banktresor voller Gold hineinzukommen, als sich Zutritt zu diesen Etagen zu verschaffen. Die Stockwerke, auf denen sich die gesamte technische Ausrüstung befand, waren mit zahllosen Sicherheitssystemen und Giftgas ausgestattet, damit Kriminelle nicht einmal daran dachten, einzubrechen.
Ohne anzuhalten kamen wir an der unterirdischen Parkrampe vorbei, auf der viele Luxusautos und fliegende Autos standen. Dann öffnete sich die Fahrstuhltür auf der Etage der Testabteilung und ich sah ES: Ein riesiger Raum, der sich bis ins Endlose erstreckte. Er hatte sehr viele hohe Gänge, die von identischen kleinen Kabinen gesäumt waren. Arthur und ich gingen eine der langen Plattformen hinunter und hielten vor einer durchsichtigen Tür an. Ich blickte ausdruckslos auf ein Schild: 4-16A.
„Vierte Etage, Seite A, Kabine 16. Hier werden Sie arbeiten. Gehen Sie hinein, ziehen Sie Ihre Jacke aus und machen Sie sich mit Ihrer Kabine vertraut”, sagte er und zeigte auf den Stuhl und den Bügel an der Wand. Er blieb jedoch draußen stehen. „Jede Kabine hat einen ausziehbaren Schreibtisch und einen eingebauten Kühlschrank, in dem Sie Lebensmittel aufbewahren oder vor der Arbeit einen Imbiss zu sich nehmen können. Es gibt einen Toilettenraum für je 50 Kabinen und an jedem Ende der Gänge befinden sich Duschen. Aber denken Sie daran, jeder Gang hat 300 Kabinen, darum sind die Duschen abends, wenn die Schicht endet, oft besetzt. Also gut, dann wünsche ich Ihnen viel Glück!”
Während Arthur den Satz äußerte, wandte sich sein Blick von mir ab. Seine Augen folgten einer wunderschönen, fast glamourösen Frau mit prächtigen roten Haaren und stolzem Gesichtsausdruck, die an meiner Kabine vorbeiging. Sie trug ein langes, smaragdgrünes Kleid, hochhackige Schuhe und einen Hut mit breitem Rand. An ihren Fingern steckten mit Edelsteinen besetzte Ringe, die mir durch ihr Schimmern ins Auge fielen. Die Frau sah Arthur nicht an und schien mich nicht einmal zu bemerken. Sie ging noch ein paar Meter weiter, bis sie vor einer Tür anhielt, die genauso aussah wie meine. Es piepte, als die geheimnisvolle Frau die Tür mit ihrem elektronischen Schlüssel öffnete und ihre Kabine betrat.
„Wer war das?”, fragte ich den erstarrten Techniker mit halblauter Stimme.
Arthur zuckte zusammen und war wieder zurück in der Realität. „Woher soll ich das wissen? Sie arbeitet hier. Sie kommt abends und geht erst wieder am nächsten Morgen. Sie muss einen Nachtcharakter spielen. Offensichtlich ist sie eine gute Spielerin und verdient viel Geld. Ich habe sie einmal in der unterirdischen Parkgarage gesehen. Sie fährt einen tollen Luxussportwagen, den ich mir nie leisten könnte, selbst wenn ich bis zu meinem Lebensende sparen würde. Aber ich habe keine Ahnung, wer sie im Spiel ist. Wir können Ihre Avatare nicht sehen, wir helfen Ihnen nur, Ihre Ausrüstung einzurichten. Normalerweise erhalten Spitzenspieler ihre eigenen Büros auf den oberen Etagen des Gebäudes, doch sie muss es aus praktischen Gründen vorziehen, vom Parkplatz aus gleich hier herunter zu kommen. Aber ich schweife ab. Legen Sie die Kleidung ab, ich werde Ihre Maße für einen Sensoranzug und -helm nehmen.”
Nachdem sich die Tür hinter Arthur geschlossen hatte, holte ich mein Handy heraus und teilte meiner Schwester mit, dass ich bereit war.
Ruf die Konsole auf und gib mir die Nummer deiner virtuellen Realitätskapsel und Spielsitzung. Ich versuche, mich zu verbinden.
Ich tippte einen technischen Befehl auf dem Keyboard und machte mit der Kamera meines Handys ein Foto davon.
Warte fünf Minuten, damit wir zur gleichen Zeit anfangen können.
Ich zog den Anzug an, der mit Elektroden besetzt war, und legte mich in die virtuelle Realitätskapsel. Ich beobachtete den Timer auf dem kleinen Monitor, wartete fünf Minuten und schloss dann den Deckel der Kapsel. Jetzt war ich von der realen Welt abgeschottet. Vor mir leuchtete der Bildschirm auf ...
***
Erlittener Schaden: 2757 (Biss einer verfluchten Fledermaus)
Du bist tot.
***
Was zum Teufel war das?! Die Meldung kam herein, sobald der Bildschirm geladen war. Das Bild verblasste langsam und ich war von Dunkelheit umgeben. Eine Minute verging, dann eine zweite und noch ein paar mehr. Nichts passierte. War es für mich vorbei? Es gab kein Spiel-Interface oder irgendwelche andere Menüfester, nur pechschwarze Dunkelheit. Irgendetwas musste falsch gelaufen sein. Fledermäuse! Richtig! Sie waren das Letzte, das ich in meinem kurzen Spiel als Barbar gesehen hatte. Jetzt würde ich bestimmt gleich aus meiner Kapsel geholt und gefeuert, weil ich beim Vorstellungsgespräch gelogen hatte.
Plötzlich wurde die Welt um mich herum wieder hell und das Fenster für die Charaktererstellung erschien auf dem Bildschirm. Puh, ich hatte es gerade so geschafft. Was sah ich vor mir? Einen Goblin-Kräutersammler auf Level 1. Das Volk oder die Klasse konnte ich nicht verändern.
Charaktername: Amra
Mir brach noch einmal kalter Schweiß aus. Als ich meinen Barbaren erstellt hatte, war mein erster Schritt gewesen, ihn zu Ehren des berühmten Barbaren aus dem Fernsehen „Conan” zu nennen, doch der Name war vergeben. Dann hatte ich einen anderen Namen ausprobiert, den der berühmte Held benutzte: Amra.
Ich hatte Glück, auch jetzt war er frei. So weit ich sehen konnte, hatten sich die Spielregeln in den letzten drei Jahren geändert. Die Namen der Charaktere mussten nun aus zwei Worten bestehen, zum Beispiel Tony Schwarzherz, Ahmed Schleichende_Schlange oder Ellie Sehr_Hübsch. Doch mein Name bestand nur aus einem Wort und hatte außerdem nur vier Buchstaben ...
Ein Newbie mit einem Einwort-Namen? Es konnte mir helfen, zu verbergen, dass ich für das Unternehmen arbeitete. Ich hatte wirklich nichts dagegen, es war schön, etwas Besonderes zu sein. Nun war es an der Zeit, mich mit meiner Erscheinung und den Attributen zu beschäftigen.
Ein grünes Gesicht starrte mir entgegen, aus dem zwei riesige Augen hervorstachen, und die Ohren waren überdimensional groß. Das System schlug vor, ich sollte etwas mit den Einstellungen herumspielen, um diesen gewöhnlichen Goblin individuell nach meinem Geschmack zu gestalten, doch ich beschloss, noch damit zu warten. In einem Hinweis las ich, dass ich die Erscheinung meines Charakters bis Level 10 kostenlos verändern konnte, darum beschloss ich, diesen Schritt fürs Erste zu überspringen. Etwas anderes bereitete mir mehr Sorgen: Alexandro Lavrius hatte gesagt, dass nicht mehr viel Zeit bis zum Einbruch der Nacht war, darum durfte ich keine Sekunde verschwenden.
Vor allem wollte ich mir die Boni und Strafen für Goblins ansehen. Leider hatte Verwilderter Waldbursche in Bezug auf die Strafen nicht gelogen:
50% Strafe auf Intelligenzsteigerungsrate
50% Strafe auf Stärkesteigerungsrate
- 20 Strafe auf Beziehungen zu folgenden Völkern: Menschen, Elfen, Zwerge, Gnome, Drachen
20% Strafe auf verdiente Erfahrung
Die Strafen waren eine bittere Pille. Besonders unzufrieden war ich mit der Strafe auf die verdiente Erfahrung. Die negativen Charakteristiken der Goblins wurden durch die Boni kaum aufgewogen:
30% Bonus auf Bewegungssteigerungsrate
30% Bonus auf Wahrnehmungssteigerungsrate
+ 20 Bonus auf Beziehungen zu folgenden Völkern: Goblins, Orks, Kobolde, Oger, Riesen
+ 30 Bonus auf die Reaktion von Wald- und Sumpfkreaturen
30% Bonus auf Bewegungsgeschwindigkeit in Wald- und Sumpfgebieten
Schließlich kam ich zu den Hauptattributen meines segelohrigen Goblins. Jeder Charakter in Reich ohne Grenzen, egal ob NPC oder eine reale Person, hatte nur sechs Hauptattribute: Stärke, Beweglichkeit, Intelligenz, Konstitution, Wahrnehmung und Charisma. Das war Standard und leicht zu verstehen. Stärke bestimmte den Schaden, den man mit Handwaffen verursachen konnte, und das Höchstgewicht, das man tragen konnte. Beweglichkeit war wichtig für Fernwaffen und zum Ausweichen. Intelligenz ermöglichte einem Charakter, die Eigenschaften von Gegenständen zu verstehen und bestimmte die Mana-Menge, über die ein magischer Charakter verfügte, sowie die Wirksamkeit seiner Zauber. Konstitution beeinflusste die Anzahl der Treffer- und Ausdauerpunkte. Wahrnehmung wirkte sich auf die Sehkraft, den Geruchssinn und das Gehör aus und gab einem Charakter außerdem eine größere Chance, verborgene Gegenstände zu entdecken. Und schließlich Charisma: Dieses Attribut definierte das Verhältnis anderer Charaktere zu einem selbst.
Es gab verschiedene Möglichkeiten, die Grundattribute zu verbessern. Man konnte ihnen auf jedem Level eine gewisse Anzahl neuer Attributpunkte zuweisen, in Hauptfertigkeiten leveln oder magische Gegenstände zum Verbessern einsetzen.
Name
Amra
Volk
Goblin
Klasse
Kräutersammler
Erfahrung
0 von 100
Charakterlevel
1
Trefferpunkte
15/15
Ausdauerpunkte
15/15
Attribute
Stärke (Str)
2
Beweglichkeit (Bew)
2
Intelligenz (Int)
2
Konstitution (Kon)
2
Wahrnehmung (Wah)
2
Charisma (Cha)
2
Unbenutzte Punkte
3
Hauptfertigkeiten (2von 4 gewählt)
Kräuterkunde (Wah, Bew)
1
Handel (Cha, Int)
1
Nebenfertigkeiten (0 von 4 gewählt)
Die Entwickler hatten meinem Charakter standardgemäß zwei Hauptfertigkeiten zugewiesen: Kräuterkunde und Handel. Die erste war leicht nachzuvollziehen, ein Kräutersammler, der sich nicht mit Kräutern auskannte, ergab wenig Sinn. Doch Handel verwirrte mich etwas. Ich konnte die Fertigkeit nicht löschen, die Entwickler sahen mich als kleinen Goblin, der durch die Wälder trottete, eine Unmenge Pflanzen sammelte und sie einheimischen Händlern verkaufte. Ich brauchte die Handelsfertigkeit also, damit ich von skrupellosen Schwindlern nicht übers Ohr gehauen wurde. Mein Charakter besaß die Intelligenz eines Stuhls. Ohne die besondere Fertigkeit des Verhandelns würde ich ständig um mein Geld betrogen werden.
Die Buchstaben in Klammern hinter den Fertigkeiten verwirrten mich zuerst ebenfalls, doch ich fand schnell heraus, dass es sich um die Attribute handelte, die der Charakter nach und nach durch das Benutzen der Fertigkeiten verbesserte.
Drei freie Attributpunkte waren nicht gerade viel! Nachdem ich etwas mit den Parametern herumgespielt und ihre Beschreibung gelesen hatte, stellte sich heraus, dass Trefferpunkte und Ausdauerpunkte ausschließlich von der Konstitution abhingen, darum wies ich diesem Attribut gleich einen Punkt zu. Daraufhin erhöhten sich meine Trefferpunkte auf 21 und meine Ausdauer auf 20.
Als Nächstes war Beweglichkeit an der Reihe. Wenn ich die Anleitung des Verwilderten Waldburschen und meine Volksboni richtig verstanden hatte, hing der Erfolg meines segelohrigen Charakters von seiner Beweglichkeit ab. Ich wies dem Attribut 2 Punkte zu und erhöhte es damit auf 4. Das war alles, obwohl ... Im letzten Moment, bevor ich mit dem Spiel beginnen wollte, beschloss ich, dass die niedrige Intelligenz meines Goblins nicht akzeptabel war. In der Beschreibung des Attributs hieß es, dass ich mit einer Punktzahl unter 3 nicht richtig sprechen oder andere verstehen konnte. Das bedeutete, ich würde mich weder mit anderen Spielern oder NPCs unterhalten, noch Missionen und Hinweise verstehen können. Ich reduzierte Charisma auf das Minimum und wies den Punkt Intelligenz zu. Mein Goblin war sowieso keine Schönheit gewesen, doch nun wurde er regelrecht zu einem Monstrum.
Jetzt war ich bereit. Es war Zeit, ins Spiel einzusteigen!