“Es ist endgültig zu viel!” sagte Clera.
Die vier Freunde versammelten sich in der Nacht in ihrem Internatszimmer.
“Wie stellst du dir das vor? Willst du etwa einfach herausspazieren? Du weißt, dass die Türen nachts verschlossen sind.” versuchte Abdel ihr einzureden.
“Möchtest du etwa den Rest deines Lebens in dieser Schule verbringen, wenn man das hier überhaupt eine Schule nennen kann? Viel eher ist das ein Gefängnis!” sagte sie. “Ich für meinen Teil habe keine Lust mehr hier drauf! Wozu denkst du, soll [[ Wozu denkst du soll das alles hier überhaupt gut sein? (Experimente erst später erwähnen)]]das alles hier überhaupt gut sein?”
“Ich dachte immer, das wäre der Sinn einer Schule. Um durch Tests zu lernen und naja, Bildung zu kriegen und den Charakter zu formen,” meine Abdel mit Unsicherheit.
“Wie glaubst du, sollen wir durch solche Test wie die hier schlauer oder bessere Menschen werden?”
Wenn er so darüber nachdachte, was Clera sagte, machte das was sie hier tun wirklich nicht viel Sinn. Er begann in letzter Zeit auch zu zweifeln, dass das alles notwendig war, damit sie später Ärzte oder Ingenieure werden konnten. Eine andere Schule als diese hatte er nie besucht, mit Ausnahme der Elementarschule. Und auch da war es nicht anders gewesen. Ansonsten gab es ja auch keine andere.
“Was ist denn dein Plan?” fragte Wes, der sich über das Geländer seines Hochbetts neigte und zu den anderen dreien herabblickte. “Selbst, wenn wir an den Sicherheitsleuten vorbeikommen, wie willst du dann draußen durch das Tor, geschweige denn an den Minenfeldern vorbei? Du…”
“Die Minenfelder sind eine Lüge!” fiel sie Wes ins Wort. Alle schauten sie an. Auch der stille Oliver blickte von seinem Buch über theoretische Physik auf, was nicht häufig vorkam, da er eigentlich immer seine Augen auf irgendeinen Text fixiert hatte.
“W… wie meinst du das, Clera?” fragte Abdel sie.
“Es gibt keine Minen! Genauso wenig wie eine Verseuchung.”
“Komm schon, das glaubst du doch nicht ernsthaft,” sagte Wes. “Jeder weiß, dass da draußen…”
“Warst du denn jemals selber da? Ich für meinen Teil war das. Ich habe das Draußen gesehen! Dort sind Menschen!”
Das Erstaunen wurde noch größer. Wes und Abdel sahen erst sich ungläubig in die Augen und dann Clera, deren Blick jedoch von Überzeugung und Entschlossenheit dominiert war.
“Wie meinst du, Menschen? Soldaten, oder?” fragte Wes.
“Nein. Menschen ganz ohne Militäruniform. Oder Schutzanzüge.”
“Aha. Und wann willst du das Draußen[[ Die Anlage ist unterirdisch]] bitte gesehen haben?”
Clera lächelte schelmisch. “Ich habe von einem Ausbruchsversuch erfahren, den einige Jahre zuvor ein paar ältere Schüler unternommen haben. Angeblich sollen sie einen alten Wartungstunnel gefunden haben, der aus der Zeit stammt, als das hier noch ein Bunker war. Ich habe mich rausgeschlichen um diesen Tunnel zu suchen und tatsächlich gibt es den. Die Tür am Ende ist verbogen und man kann durch einen Spalt nach draußen sehen. Es war ziemlich hell.”
“Bist du verrückt? Das Licht ist doch tödlich, wenn man ohne Schutzanzug nach draußen geht”, meinte Abdel. “Davor haben Sie uns doch gewarnt, wenn wir je versuchen sollten an die Oberfläche zu gehen. Hast du denn gar nicht zugehört?”
“Das hab ich auch nicht sofort getan. Glaub mir, es war nicht so leicht, mich zu überwinden. Zuerst habe ich meine Hand da durchgehalten und als ich nicht direkt gestorben bin, den Oberarm. Ich habe einen Luftzug gespürt. Dann konnte ich nicht mehr und hab versucht, nach draußen zu schauen. Ich weiß, es ist schwer zu glauben und ich kann verstehen, dass ihr mich für verrückt haltet, aber so war es. Und es war wunderschön. Es hat gedauert, bis sich meine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Da draußen gibt es braune Säulen, die aus dem Boden ragen und an denen sind grüne Punkte, die sich bewegt haben.”
“Meinst du etwa ‘Bäume’?” fragte Abdel ungläubig. Nein, das kann nicht. Die sind ausgestorben. Bis auf die Pflanzen, die wir hier unten anbauen, sind alle Bäume doch vernichtet worden.”
“Ja… ja doch, wo du das sagst, sah es ähnlich aus, wie das was wir im Unterricht gesehen haben. Das könnten wirklich Bäume gewesen sein. Sie haben geraschelt, vermutlich durch den Luftzug und sie haben ein Zirpgeräusch gemacht, das man die ganze Zeit hören konnte. Sehr merkwürdig. Darüber haben sie nie etwas gesagt. Nun ja, danach habe ich Schritte gehört, die immer näher kamen. Ich habe Angst bekommen und bin zurückgewichen, dann habe ich mich aber wieder getraut, zu schauen. Es war tatsächlich ein Mensch und er hatte nur ein Unterhemd, lange Unterhosen und merkwürdige blaue Stiefel an, die nur bis zum Knöchel gingen. Kein Schutzanzug! Es könnte eine Frau gewesen sein. Es schien so, als würde sie vor etwas weglaufen und ich bekam wieder Angst. Aber da kam nichts.
“Tss…” sagte Wes und ließ sich wieder in seine Koje fallen. “Du hast mal wieder eine Fantasie.”
“Ich sage die Wahrheit. Es gibt da draußen eine ganz andere Welt.”
“Dr. Jayan sagt, Fantasie und Rebellion sind das, was Menschen schwach und faul macht und was den Krieg ausgelöst hat.” meldete sich der ansonsten stille Oliver zu Wort. Die drei anderen schauten zu ihm. “Die Menschen waren selbstsüchtig und haben nur an das geglaubt was sie wollten. Nur Disziplin und Gehorsam können die… ähm… Nur dadurch können Menschen… also, in Harmonie leben und so.”
“Mit Harmonie kenne ich mich nicht aus, aber zumindest hat er Recht, dass es nicht gut ist, in einer Fantasie zu leben und bloß das zu glauben, was einem passt,” erwiderte Wes.
Clera sah zunehmend wütender aus. Sie wusste, dass es hart werden würde, die drei zu überzeugen. “Heißt das, du willst lieber den Rest deines Lebens hier bleiben und dich Experimenten unterziehen, wenn es da draußen eine andere Welt geben könnte, in der du frei sein würdest?”
“Ich mag es hier auch nicht. Aber es ist nun mal so wie es ist. Es ist besser, das zu akzeptieren und nicht in irgendeiner weit hergeholten Fantasie zu leben so wie du mal wieder,” sagte Wes.
“Es ist keine Fantasie! Das Draußen habe ich wirklich gesehen!” schrie Clera ihn an.
Wes richtete sich erneut auf und blickte zu ihr nach unten. “Selbst wenn das was du erzählst wahr sein sollte und das Draußen wirklich so aussieht, wer sagt denn, dass das Licht nicht doch tödlich ist und es nur etwas länger dauert? Was ist mit der Frau? Vielleicht lief sie ja doch vor etwas fort und du hast es nur nicht gehört.”
“Weil es keinen Sinn macht. Ihre Kleider waren total bunt.”
“Bunt? Ja und?”
“Na denk doch mal nach. Wenn ich in einer gefährlichen Welt mit allerlei mutierten Tieren und Robotern leben würde, die dich töten wollen, würde ich doch versuchen, nicht die Aufmerksamkeit mit bunten Farben auf mich zu ziehen. Ich würde vielleicht eher erdfarbene Kleidung tragen. Außerdem war sie nicht wirklich schnell oder in Panik.”
“Hm… das macht natürlich Sinn,” musste Wes zugeben.
“Nein, das was du da tust ist gefährlich,” sagte Oliver unsicher. “Du spekulierst, das darf man nicht. D… Das ist gegen die Ordnung und Disziplin.”
“Ach zur Hölle mit Ordnung und Disziplin!” sagte Clera energisch. Oliver erschrak, als er das hörte. “Ich will frei sein, ich will Sonnenlicht auf meiner Haut spüren und Luft atmen, die nicht recycelt ist! Ich habe es satt hier.”
“Ich auch,” sagte Wes. Clera sah ihn verblüfft an. “Aber ich glaube nicht, dass ein Ausbruch etwas ändern würde, selbst wenn das Draußen sicher sein sollte. Die fangen dich doch im Nu wieder ein.
“Nicht wenn wir leise sind und unser Verschwinden erst spät auffliegt.”
“Wenn du wirklich ausbrechen willst, versuch es ruhig. Wird dir eh nicht gelingen.”
Clera seufzte enttäuscht. Auch wenn sie wusste, dass sie gegen Wände sprechen würde, hatte sie doch zumindest gehofft, sie ein bisschen überzeugen zu können. “Wie steht’s mit dir, Abdel?”
“Hö? Öhm… ich weiß nicht…” antwortete er kleinlaut, “Ich meine, wo tun wir denn draußen unsere Wäsche hin, wenn sie gebraucht ist?”
“Die Wäsche? Du machst dir ja Gedanken. Was ist mit Essen? Essen kommt aus dem Fabrikator und wächst nicht da draußen einfach,” sagte Wes. “Also echt, wenn du einen Ausbruch planen willst, musst du auch ein bisschen weiter denken.”
“Daran habe ich bereits gedacht. Die Sache ist die, wenn es da draußen Menschen gibt, haben sie sicher auch etwas zu essen. Vielleicht können wir im Gegenzug zu Essen Jobs für sie annehmen. So wie Nachmittagsdienst.”
“Hm, naja, das klingt immerhin besser als die Experimente,” murmelte Wes kaum hörbar vor sich hin.
“Glaubst du, die müssen keine Experimente machen?” fragte Abdel.
“Ich bin überzeugt davon!” sagte Clera.
Zögernd fragte er, “Aber glaubst du denn auch, dass sie draußen auch Matschriegel haben?”
“Ich bin mir sicher, Abdel, dass sie draußen noch etwas viel besseres haben als aus wiederverwertetem Eiweiß und Stärke gepresste Riegel.”
“Aber ich mag Matschriegel.”
Auf diese Bemerkung würgte Wes demonstrativ.
Clera seufzte. “Also schön. Wenn ihr wirklich hierbleiben wollt, tut was ihr wollt. Ich jedenfalls gehe. In etwa drei Stunden haben wir ein Zeitfenster, in dem die Wachen draußen ihre Schicht wechseln. Ab dann bin ich weg.”
“Warte, du willst wirklich ganz alleine gehen?” fragte Abdel.
“Wenn’s sein muss, ja!” sagte sie entschlossen.
“Du meinst das nicht ernst, oder?” fragte Wes, doch Cleras Blick verriet ihm bereits die Antwort.
“Naja, ohne dich ist es hier auch doof,” sagte Abdel. “Wenn du nicht mehr hier bist, will ich auch nicht mehr hier bleiben.”
“Dein Ernst, Abdel?” fragte Wes ungläubig. “Ihr habt echt einen an der Schüssel.”
“Was ist? Bleibst du jetzt hier in diesem Loch oder kommst du mit?” fragte Clera.
Er sprang vom Hochbett herunter.
“Du hast dir mal wieder was in den Kopf gesetzt, Clera. Ich hasse es, wenn das passiert, denn dann kriegst du es echt nie wieder raus. Bei dir ist das wie mit Essensresten, die einem zwischen den Zähnen hängen bleiben.”
“Achso und ich bin eklig weil ich Matschriegel esse. Is klar!” erwiderte Abdel.
Wes seufzte und schüttelte den Kopf. “Dann muss ich wohl mitkommen. Irgendeiner muss auf euch ja aufpassen, damit ihr nicht noch mehr Dummheiten macht.”
Clera lächelte voller Entschlossenheit. “Na gut, dann wärst da nur noch du, Oliver. Was ist?”
Oliver schwieg wie immer. Sein Gesicht war jedoch gesprächiger. Man sah es ihm an, dass er sich mit der Entscheidung schwertat.
"Das ist aber… gegen die Regeln. Wir dürfen nicht nach draußen.”
“Die Regeln sind dazu da, uns einzusperren, Oliver. Und außerdem wurden wir von der Schule angelogen. Warum sollten wir uns dann noch an ihre Regeln halten. Wir sollten lieber abhauen und herausfinden, was sie im Schilde führen,” versuchte Clera ihm weiszumachen.
Oliver begann fast zu schwitzen bei dem was Clera sagte. In seinem Kopf rotierten die Zahnräder. “Hm, ich sehe nicht, wieso sie das tun sollten. Ich meine, hat die Schule uns nicht immer etwas gutes gewollt? Wir haben Essen, Kleidung und Bildung. Außerdem ist es unsere Pflicht als Überlebende, mit daran zu arbeiten äh… die Zivilisation wieder aufzubauen.”
“Dann hätten sie kaum verschwiegen, dass es sicher ist, nach draußen zu gehen,” erwiderte Clera.
“Falls es das überhaupt ist,” warf Wes ein. Sie haute ihm auf die Schulter und sagte ihm mit ihrem Gesichtsausdruck, dass er ruhig sein solle.
“Hm…” er überlegte weiter. “Na gut, ich will zumindest wissen ob es wahr ist, was du sagst. Als Wissenschaftler muss man neue Thesen überprüfen, bevor man sie als wahr akzeptieren kann.”
“Dann ist es beschlossen!” Clera lächelte voller Zufriedenheit und Stolz auf sie selbst. “Packt eure Sachen, aber nehmt nur mit, was ihr wirklich benötigt. Diesen Ort werden wir in ein paar Stunden nie mehr wiedersehen!”
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Später, in etwa zu der Zeit, als die Ausgangssperre begann und die Schicht für die Wachen wechselte, machten sich die vier Kinder auf. Die Korridore waren leer. Das wissenschaftliche Personal hatte seit etwa einer Stunde Feierabend. Um diese Zeit befanden sich die meisten im blauen Sektor, der vom Internatsteil abgetrennt war. Schüler hatten dort keinen Zugang. Die vier haben das Innere des blauen Sektors dementsprechend noch nie gesehen, aber sie vermuteten, dass dort wahrscheinlich Wohn- und Freizeiträume für die Doktoren waren.
Die vier schlichen sich entlang der Gänge, Clera den anderen voran. Sie gingen vorsichtig, damit sie mit ihren Rucksäcken keinen Lärm verursachten. Ein letztes mal würden sie diese Korridore und Räume sehen, die ihnen allzu sehr vertraut waren.
Vor einer Abzweigung stoppte Clera plötzlich. “Verflixt! Was machen die denn noch hier?” flüsterte sie.
Am Ende des Ganges gab es eine weitere Kreuzung, doch aus einem Raum im Gang rechts hörte sie Stimmen. Die eine gehörte Dr. Wang, der bei ihnen unter anderem Geschichte unterrichtete, die zweite konnte sie nicht zuordnen.
“Raum B-12, da müssen wir hin. Aber es scheint so, als hätten noch nicht alle Feierabend. Die machen wohl Überstunden,” sagte Clera. “Ich gehe vor und schaue nach ob die Luft rein ist. Bleibt ihr hier, falls etwas passiert. Wenn die Doktoren hier entlang kommen, versteckt euch in diesem Raum hier.”
Sie zeigte zu einem Raum hinter ihnen, dessen Tür noch offen war. Vermutlich hat jemand vergessen, ihn zuzuschließen. Die drei anderen nickten und Clera schlich los. In etwa fünf Metern ab der Abzweigung befand sich der Raum. Sie spähte vorsichtig hinein und erspähte die weißen Kittel zweier Doktoren, die den Geräuschen nach zu urteilen scheinbar gerade ihre Unterlagen zusammenpackten und sofort losgehen wollten.
Clera reagierte schnell. Rasch schlich sie zurück zu den anderen und gab ihnen das Zeichen, sich zu verstecken. Clera verblieb an der Abzweigung und beobachtete die Doktoren. Glücklicherweise bogen die beiden in die andere Richtung ab, als die von der sie gekommen sind.
“Ich bin sehr zufrieden mit den Ergebnissen. Ich denke, wir können so mit ihm fortfahren. Weitere Tests sollten nicht nötig sein.”
“Ich hoffe die Kollegen in Mandschurien sehen das ähnlich. Wenn sie wieder irgendwelche Änderungen wollen… Irgendwann gehen uns die Testsubjekte aus.”
“Versichern kann ich es nicht, aber das psychologische Profil der neuen Gruppe…” dann verstand man nichts mehr und die Stimmen der beiden wurden leiser.
Als sie schließlich ganz verstummten, wagte Clera wieder einen Blick in den Gang.
“Die Luft ist rein!” flüsterte sie und die anderen drei folgten ihr in den Raum.
Oliver zögerte, bevor er den Raum betrat. “Lasst mich hierbleiben, damit ich aufpassen kann. Falls sie etwas vergessen haben und zurückkommen.” In seiner Stimme schwang Unsicherheit mit.
Die drei nickten und Oliver positionierte sich im Türrahmen. Der schwach erleuchtete Gang war das einzige, was den Raum erhellte.
“Au!” rief Abdel, der mit einem Rolltisch zusammenprallte.
“Sei doch vorsichtig!” flüsterte Wes.
“Ist ja gut, aber ich sehe hier überhaupt nichts.”
“Dann mach deine Leselampe an.”
“Welche Leselampe? Keiner von euch hat gesagt, dass wir Leselampen brauchen.”
“Och Abdel, dein Ernst?” sagte Wes.
“Naja, Clera meinte, draußen sei es hell, also kann man ja auch ohne sie lesen. Wenn mir jemand gesagt hätte, dass wir sie hierfür brauchen…”
Wes rollte die Augen ohne dass man es in der Dunkelheit wahrgenommen hätte. “Wie hast du bessere Noten als ich…” Er seufzte. “Schön. Dann nimm meine. Aber pass auf, dass du nicht aus Versehen noch in den Gang leuchtest. Wir dürfen nicht gesehen werden.”
Clera rief leise von einer Ecke der Wand. “Hier ist er! Hier in dieser Abstellkammer gibt es ein Wandpaneel, das sich abmontieren lässt."
Die beiden Kinder folgten ihr zu dem Ort, an dem sie damals den Schacht entdeckte. Sie forderte Wes auf, ihr zu helfen. Das Wandpaneel ließ sich leicht ausheben und enthüllte die nackte Fels- und Betonwand dahinter. Der Spalt zwischen den Paneelen und der Wand war sehr schmal. Ein erwachsener Mann von schlanker Statur hätte gerade so noch hindurchgepasst, allerdings mit großen Schwierigkeiten. Den Kindern fiel dies zum Glück etwas leichter.
“Bist du sicher, dass das hier richtig ist?” fragte Abdel.
“Er ist da, vertraut mir. Wir müssen uns nur ein paar Meter durchquetschen, dann kommt der Tunnel schon.” Clera ging voran und schob sich durch den Zwischenraum. “Hier! Genau wie vorher.” Clera kletterte in den sich etwa auf Brusthöhe befindlichen Schacht und winkte im Anschluss Abdel, dass er als nächstes kommen solle.
“Geh du lieber als erstes,” sagte dieser zu Wes, welcher resigniert anfing, sich mit seinem Rucksack voran durch den Zwischenraum zu bewegen.
Abdel folgte ihm. Er selbst hatte mit seiner hageren Gestalt wenig Probleme, sich durch den Zwischenraum zu quetschen, allerdings passte sein Rucksack weniger gut durch.
“Was hast du alles eingepackt?” fragte ihn Wes, als er Abdel stöhnend und den Rucksack zwischen den Wänden schaben hörte.
“Nur was ich wirklich benötige,” erwiderte er schnaufend.
“Wenn du stecken bleibst, ziehe ich dich nicht heraus. Tja, Hauptsache keine Lampe dabei. Immerhin war es eine gute Entscheidung, als erstes zu gehen…” sagte Wes.
“Seid ihr zwei mal etwas leiser!” flüsterte Clera scharf.
Abdel erreichte den Tunnel schließlich und Wes half ihm und seinem Rucksack hoch. “Kommst du, Olli?” fragte er. Es kam zuerst keine Antwort. “Olli!” Er hörte kurz danach, wie sich die Tür leise schloss und sich jemand in ihre Richtung bewegte. Unter den dreien machte sich Anspannung breit. Dann sah Abdel jemanden vor dem Zwischenraum. Zum Glück war es dann doch Olli. Abdel atmete erleichtert auf.
“Tut mir leid. Ich habe euch nicht mehr gehört. Die Tür ist zu.”
“Kommt jemand?”
“Nein… hierher kommt keiner” sagte er mit angespanntem Gesichtsausdruck, den Abdel in der Dunkelheit aber nicht erkennen konnte. Die Situation, in der sich Oliver befand, schien ihn zu überfordern.
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“Ein Glück.”
Oliver zögerte.
“Also, was ist?”
Oliver sah ihn einige Zeit mulmig an, aber dann nickte er und schloss zu ihnen auf.
Der Tunnel schien eine Art Kabelschacht oder Belüftungsschacht gewesen zu sein, denn Clera verspürte einen leichten Luftzug, der ihre Aufregung steigerte. Man sagte, diese Anlage sei früher eine Mine gewesen, bevor sie zu einem Bunker wurde und einige alte Strukturen sind überbaut worden, genau so wie diese, wie es scheint.
Alle vier waren im Tunnel und bewegten sich dicht hintereinander mit ihren Rucksäcken vor ihnen hindurch. Der Schacht hatte eine leichte Neigung nach oben und er war breit genug um sich umzudrehen, aber er war nur so hoch, dass sie gerade mal auf allen Vieren hindurchkrabbeln konnten. Für den kleinen Abdel war das kein Problem, aber Wes, der der größte von ihnen war, hatte einige Schwierigkeiten.
“Und mir sagen, ich würde stecken bleiben,” murmelte Abdel, woraufhin Wes leicht nach hinten trat, was aber nur Abdels Rucksack traf.
“Ey!” rief dieser. “Kann ich doch nichts dafür, dass du zu dick hierfür bist.”
“Nenn mich noch einmal dick… Aua!” rief er, als er sich den Kopf an der Tunneldecke stieß.
“Ruhe da hinten!” fauchte Clera. “Wir müssen leise sein! Wer weis, ob man uns durch die Wände hören kann.”
“Wie weit ist es noch?” fragte Wes.
“Wir sind bald da. Ich spüre schon den Luftzug.”
Nach ein paar weiteren Minuten Schmerzlauten von Wes, der noch einige blaue Flecken im Schacht sammelte, konnte Clera im Licht der Taschenlampe ein helles Rechteck ausmachen. “Das ist er! Der Ausgang!” Voller Vorfreude legte Clera einen Zahn zu und erreichte als erstes das Rechteck. Dort angekommen drehte sie sich und sprang mit den Füßen zuerst hinab. Sie stand in einem kleinen Raum, der wie es scheint eine zugemauerte Türöffnung an der selben Wand hatte wie der Schacht, sowie eine richtige Tür aus Metall an der gegenüberliegenden Seite. Und tatsächlich war diese Tür unten leicht verbogen und ließ etwas Licht hindurch. Aus irgendeinem Grund sah sie recht neu aus, abgesehen von der verbogenen Stelle. Das durchscheinende Licht war nicht so hell, wie beim letzten mal als Clera hier war, jedoch war sie nach wie vor davon fasziniert. Sie konnte nicht anders, als hindurchzuschauen. Hinter ihr hörte sie Wes, Abdel und ihre Rucksäcke hinunterplumpsen. Abdel fiel dabei hin und tat sich weh, doch Clera achtete nicht darauf und war einfach nur von der Tür fasziniert. Sie suchte nach einem Weg, sie zu öffnen.
“Komm, Olli” rief Wes ihm entgegen. Er traute sich nicht, nach unten zu springen.
“Ich weis nicht. Ich finde wir sollten lieber zurückgehen, bevor sie uns finden.”
“Dafür ist es jetzt auch zu spät. Ich meine, schau dir mal an, wie wir aussehen. Wir würden ziemlichen Ärger bekommen. Komm runter!”
Oliver starrte die beiden mit einem sehr unwohlen Gefühl an. Doch nach einiger Zeit kletterte er sehr vorsichtig herunter. Er war nicht der dünnste und auch nicht der geschickteste und stellte sich dabei etwas unbeholfen an. Beinahe wäre er auch gestürzt, aber Wes und Abdel fingen ihn auf, bevor er kippte.
Inzwischen versuchte Clera die Tür an der unteren Stelle weiter zu verbiegen, aber das war vergebens.
“Mist!” sagte sie nach diesem Versuch eines Kraftaktes.
“Lass mich mal!” sagte Wes und versuchte dasselbe, aber auch ohne Erfolg.
“Nein, das bringt so nichts. Die Tür ist zu fest um sie zu verbiegen”, sagte Clera.
Abdel schaute sich um. “Wartet, vielleicht können wir das hier benutzen!” Er zeigte auf eine Metallstange, die am Boden lag, die an einer Stelle gebogen war und am Ende in zwei abgeflachten Keilen endete. Könnt ihr euch an den Physikunterricht erinnern? Mechanik?”
“Was willst du tun?” fragte Wes.
“Wir könnten diese Stange hier am Riegel ansetzen und dagegendrücken. Durch die Hebelwirkung könnten wir sie dann aufbrechen.”
“Na ob das funktionieren kann… Aber gut, etwas anderes fällt mir auch nicht ein,” sagte Wes.
Sie setzten die Stange wie Abdel beschrieben hatte, an der Stelle zwischen Tür und Türrahmen an, an der sich normalerweise der Riegel befindet. Clera, Wes und Abdel drückten dagegen. Auch wenn Wes der Stärkste der vier war, war es Clera, die am meisten Kraft beisteuerte. Oliver jedoch stand hinter ihnen und zögerte.
“Ich weis nicht ob das eine gute Idee ist. Wir können doch nicht einfach Eigentum beschädigen. Was, wenn es doch Monster und solche Dinge da draußen gibt oder wir von Strahlung getötet werden und so… Oder erwischt werden…”
“Komm schon, jetzt bist du hier, jetzt hilf uns auch, Olli!” sagte Wes zähneknirschend.
“Hmm…” Er zögerte. Ihm war das ganze zu viel, das sah man ihm an. Er schwitzte sehr stark, was nicht nur der vorherigen körperlichen Anstrengung geschuldet war. Er war nicht sonderlich glücklich mit dem was er getan hatte. Allmählich gab er dann aber doch nach und stellte sich neben die anderen drei, die ihre ganze körperliche Kraft einsetzten.
“Okay. Versuchen wir es noch einmal,” sagte Clera. “Auf drei.”
Alle zusammen riefen “Eins… zwei… drei!” und pressten mit ihrer ganzen Kraft gegen die Stange. Die Tür schien sich leicht zu bewegen und sie ließ mehr Licht durch den Spalt.
“Wir haben es fast. Nochmal auf drei,” rief Clera.
“Eins… zwei… drei!” Erneut drückten sie mit aller Kraft dagegen und schließlich Zack! Die Tür brach auf und die vier schnellten nach vorn, als die Stange nachgab. Der Raum wurde von Licht durchflutet. Sie waren diese Helligkeit nicht gewohnt und wurden geblendet. Clera war die erste, die hinausging, zögernd gefolgt von Wes und Abdel. Sie konnte es kaum glauben. Sie war draußen. Frei! Zum allerersten mal in ihrem Leben. Zuerst machte ihr das warme Licht auf ihrer Haut etwas Angst, aber es fühlte sich wundervoll an. Sie dachte kaum mehr, dass dies tödliche Strahlung sein konnte. Das Licht und der warme Sommerwind umgarnten ihre Haut. Als sich ihre Augen langsam an das Licht gewöhnten und sie etwas mehr sehen konnte, sah sie etwas grünes unter ihnen. Lange Blätter, die aus der Erde kamen, so grün, wie die geleeartigen Mahlzeiten am Mittwoch in der Cafeteria. Gras? Ja! Ja, das war wohl dieses Gras. Und über ihnen bewegte sich ebenfalls etwas Grünes, gestützt von braunen sich gabelnden Säulen. Das mussten diese Bäume sein. Und darüber eine leuchtend blaue Decke. War das der Himmel? Ihr machten die sich im Wind wiegenden Baumkronen etwas Angst, aber die Angst verlor im Kampf gegen die Neugier. Sie standen auf einer Art Gang..? nein… einem Weg mit einem Boden aus Split und Schotter, eingerahmt von Wänden aus Erde und Fels, sowie diesen Bäumen. Und gigantisch waren sie.
Dies konnte nur ein Traum sein, aber nein, es war Wirklichkeit. Sie sah Wes und Abdel an, die ihre neue Umgebung in ähnlicher Faszination betrachteten und dann konnte sie nicht mehr anders. Clera verfiel in Lachen und in Tränen. Die beiden Jungen überkam ebenfalls eine Euphorie. Wes umarmte das Gras auf dem Boden. Clera drehte sich im Kreis und sprang in die Luft, zum ersten mal nicht von einer Decke eingeengt, und Abdel blieb einfach nur stehen, den Kopf nach oben gerichtet und ließ alles in sich aufnehmen.
Nur Oliver kam nicht heraus, sondern blieb im Schatten des Vorraumes. “Kommt zurück!” rief er leise, doch niemand schien ihn zu hören. “Kommt bitte zurück und lasst uns wieder auf unser Zimmer gehen. Ich mag das hier nicht. Was ist, wenn ihr euch doch schadet.” Ohnmächtig sah er zu, wie sich die anderen drei nicht um ihre Sicherheit scherten und laut lachten, ohne dabei zu bedenken, welchen schrecklichen Fehler sie machten.
“Komm raus, Olli! Es ist super hier draußen. Der Wind ist super! Alles ist einfach nur super!” rief ihm Clera lachend zu und hörte dabei nicht auf, sich im Kreis zu drehen, bis sie vor Schwindel ins Gras fiel. Doch Oliver ging nicht nach draußen.
Nach einigen Minuten von euphorischem Toben hörte Oliver etwas anderes neben dem Wind und seinen lachenden Freunden. Zuerst war es nur kaum wahrnehmbar, doch es wurde immer lauter. War das…
“Leute, kommt jetzt endlich rein! Sonst werden wir geschnappt!”
“Was meinst du? Woher sollten sie denn wissen, wo wir sind? Hier ist nirgends ein Wachturm oder ähnliches” sagte Abdel. “Oder meinst du, das mit den Monstern sei immer noch real?”
Die Geräusche wurden lauter. Ein Dröhnen, mehrere aufeinander folgende Trittgeräusche und… war das Hundegebell?
“Jetzt kommt endlich wieder rein! Hört ihr das nicht?”
Die anderen hörten es. Ihre Euphorie hörte abrupt auf und sie blieben still stehen. Nun war es ziemlich deutlich. Es waren Menschen, die scheinbar in ziemlicher Aufregung waren und Hunde. Kämpften sie gegen die Hunde? Es wurde immer lauter. Es hörte sich für die Kinder hier draußen merkwürdig an, ganz anders als in den gewohnten Gängen der Schule. Dumpfer, und viel bedrohlicher.
Oliver rief den dreien zu, aber sie waren wie gebannt. Wes sah den ersten der Menschen. Ein Mann in schwerer Schutzkleidung, dicht gefolgt von einem anderen, der einen wilden Hund an einer Leine trug. Der erste rief den anderen etwas zu, doch Wes verstand nicht, was. Er drehte sich um. Hinter ihnen am anderen Ende des Weges ebenfalls Leute in Schutzkleidung mit Hunden. Sie waren umzingelt! Wes schaltete. Er versuchte Abdel, der noch starr war vor Schreck, mitzunehmen und weckte ihn aus seiner Starre. Die beiden versuchten, zur Tür zurückzuschnellen. Oliver stand starr im Türrahmen. Clera jedoch rührte sich nicht. Einer der Männer kam mit gezogener Waffe auf sie zu. Er packte sie und drückte sie unsanft zu Boden. Zum Glück war das Gras sehr weich, aber sie spürte den Aufprall ohnehin kaum. Gleiches geschah mit Wes und Abdel. Oliver konnte nur zusehen, wie seine Freunde von den Leuten in Schutzkleidung überwältigt und immobilisiert wurden. Er wollte wegrennen, aber dafür war es jetzt auch zu spät. Wes, Abdel und Clera wurden gefesselt und am Boden gehalten. Drei weitere der Menschen umstellten die Tür zum Vorraum und richteten ihre Waffen auf Oliver. Er begann fast zu weinen. Er hörte, wie ein anderer den Soldaten oder was auch immer sie waren, einen Befehl gab, das Feuer einzustellen. Die Männer nahmen ihre Waffen zurück und die Person, die den Befehl gab, kam nun auf ihn zu.
“Es ist okay,” sagte sie beschwichtigend und kniete sich vor Oliver hin.
Ihm war die Stimme bekannt. Im Schutzanzug war Dr. Jayan.
“Das hast du sehr gut gemacht,” sagte der Doktor und klopfte ihm auf die Schulter. Auf diese Distanz konnte Oliver sein Gesicht im Helm sehen, welches ihn zufrieden anlächelte.
Wes, der auf dem Boden gehalten wurde und sich vor Schmerzen krümmte, verwirrte dies. “Was meinen Sie? Was hat er gut gemacht?”
Der Doktor drehte sich kurz zu ihm und wieder zurück, gab ihm aber keine Antwort.
“Oliver…” röchelte Wes. “Oliver, was meint er? Erklär mir gefälligst, was hier abgeht!”
“Es tut mir leid…” erwiderte Oliver den Tränen nahe.
“Nein… nein, das kann nicht! Oliver, sag mir, dass das nicht wahr ist.”
Oliver schwieg.
“Nun, wir sollten schleunigst wieder rein. Ohne Schutzkleidung hier draußen zu sein…” sagte Dr. Jayan und schaute Oliver dabei intensiv an, “… ist schädlich.” Er stand auf und wandte sich zu den anderen Männern. “Die drei kommen sofort in die Dekontamination. Er hier allerdings kommt mit mir.”
Die drei gefangenen Kinder wurden in vorfahrende Fahrzeuge geladen, während Oliver und Dr. Jayan daneben standen und zuschauten.
“WICHSER!” stieß Wes gequält hervor, bevor er verladen wurde.
“Warum, Oliver?” fragte ihn Abdel mit tränenden Augen.
Clera hingegen sagte nichts, sondern starrte ihn nur mit leerem Gesichtsausdruck an. Nachdem auch sie aufgeladen wurde, fuhr der Wagen mit ihnen fort.
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Der Arzt führte eine letzte Untersuchung an Oliver durch. Er sagte, dass diese dazu diente, weil er ja draußen war und es dort gefährlich ist. Allerdings war er nicht ganz draußen gewesen und deswegen hatte er keine Schäden davongetragen. Die Bildschirme zeigten Graphen, wie zum Beispiel ein EKG, den Puls und Blutdruck, sowie Werte verschiedener Stoffe in seinem Blut. Der Arzt klopfte ihm auf die Schulter und sagte ihm, dass er gesund und munter sei. Aber Oliver fühlte sich nicht so. Er fühlte etwas, was nicht auf einem EKG oder EEG dargestellt werden konnte. Nun, wenn der Arzt aber sagt, alles sei in Ordnung mit ihm, dann wird auch alles in Ordnung sein.
Im Nebenraum befand sich Dr. Jayan und unterhielt sich mit Dr. Wang. Oliver konnte halb verstehen, worum es ging und er vermutete, dass es mit dem Vorfall zu tun hatte. Nachdem der Arzt das Zimmer verließ, stand Oliver von der Liege auf und ging zum Nebenzimmer, wo sich die beiden Doktoren unterhielten. Dr. Jayan erblickte den Jungen und das Gespräch pausierte.
“Ähm… tut mir leid, ich wollte sie nicht stören, Doktor.”
Dr. Jayan lächelte. “Ist schon gut. Wenn Sie uns für einen Moment entschuldigen würden?” sagte er zu Dr. Wang, welcher nickte und daraufhin das Zimmer verließ. “Ich hoffe du konntest dich von dem Schock erholen. Der Arzt hat mir bereits alles mitgeteilt. Du hast keine Schäden davongetragen.” Etwas in Oliver bezweifelte das was er sagte. “Wie dem auch sei, was gibt es?” sprach er sanft zu ihm.
“Doktor… Das draußen, ist es wirklich so gefährlich? Es sah eigentlich ganz schön und friedlich aus.”
“Oh, absolut! Es ist sehr gefährlich, auch wenn es nicht den Anschein hat. Du hast ja schon gelernt was Strahlung ist, oder?”
“Ähm, ja.”
“Dann weißt du, dass man die meisten Arten von Strahlung nicht sehen kann. Und draußen ist sie überall. Eine geringe Dosis davon ist noch nicht tödlich, aber ein zu langer Aufenthalt in einem verstrahlten Gebiet kann bleibende Schäden hinterlassen.”
“Ja, das habe ich gelernt.”
“Es ist gut, dass du nicht aus dem Raum gegangen bist. Ansonsten wärst du auch noch verstrahlt worden. Und das Gift, was sich im Boden befindet, hätte dich zusätzlich geschädigt.”
Oliver schwieg für einen Moment, bevor er weiterredete. “Im Unterricht haben wir gelernt, dass man Thesen überprüfen muss. Wenn die These also ist, dass es da draußen nicht gefährlich ist und es tatsächlich keine…”
“Du darfst niemals daran zweifeln, was eine Autoritätsperson dir sagt!” sagte Dr. Jayan und verschärfte seinen Ton mit ihm, woraufhin Oliver erschrak. Dann lächelte er und sprach wieder ruhiger. “Eine Überprüfung der These ist nicht notwendig, da sie bereits mehrfach von uns getestet wurde. Mit positivem Ergebnis. Und dem Urteil der Erwachsenen musst du vertrauen, zu deiner eigenen Sicherheit. Hast du verstanden? Es selbst zu testen wäre zu gefährlich.” sagte er in seinem üblichen sanften Ton. Der Doktor musterte Oliver. “Dieses Mädchen hat dir Flausen in den Kopf gesetzt. Das ist nicht gut.” versuchte er ihm einzureden. “Das hätte sehr schief laufen können. Zum Glück waren wir in der Nähe. Wenn du nicht pflichtbewusst gehandelt hättest und uns nicht kurz zuvor Bescheid gesagt hättest, dann wäre vermutlich noch etwas viel Schlimmeres passiert. Deswegen sehe ich bei dir für dieses mal von einer Strafe ab.”
Oliver sah schweigend zu Boden und fragte leise, “Wo sind meine Freunde jetzt?”
Der Doktor beugte sich leicht zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. “Deine Klassenkameraden sind in Sicherheit. Sei unbesorgt. Sie waren einige Minuten in Kontakt mit den Giften und der Strahlung der Oberfläche und ihre Gesundheit hat darunter gelitten. Sie werden aktuell behandelt, aber sie werden einige Zeit noch in Quarantäne verbringen müssen. Allerdings sind sie stabil und werden wieder gesund.”
Etwas in Oliver sagte ihm, dass das nicht stimmte. Es sagte ihm, dass er seine Freunde vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Vielleicht… nein! Das durfte er nicht denken. Wenn der Doktor sagte, sie wären in Sicherheit, dann muss es stimmen. Er war eine Autoritätsperson. Etwas anderes zu denken, als das was er sagt, war verboten.
“Kann ich sie vielleicht besuchen?” fragte Oliver schüchtern.
“Im Moment ist dies nicht möglich, zu deiner eigenen Sicherheit.” Der Doktor lächelte ihn an. “So, Jetzt aber ab unter die Dusche und dann machst du dich zurück in den Schlafsaal. Das war viel Aufregung für einen Tag. Versuch noch ein bisschen Schlaf zu bekommen. Morgen hast du immerhin Unterricht.”
Oliver nickte und stand auf. Als er zum Ausgang ging, schaute er noch einmal zögernd zu Dr. Jayan, der ihn gar nicht mehr beachtete, sondern dabei war, seine Papiere einzusammeln. Dann drehte er sich um und ging zurück zum Schlafsaal.
Dr. Wang kreuzte seinen Weg auf dem Flur, als er mit zwei Tassen Kaffee wieder in das Zimmer kam. Er blickte dem Jungen hinterher.
“Ich muss zugeben, das ist wirklich ein vielversprechendes Exemplar, Jayan.” sagte er zu ihm. “Ich bin mir sehr sicher, dass die Mandschurier viel mit ihm anfangen können. Er ist begabt und sehr gehorsam. Wenn wir ihn noch etwas brechen, werden die Auftraggeber höchst zufrieden mit unserer Arbeit sein. Sie können wirklich stolz sein auf das was Sie hier geleistet haben.”
Jayan sah jedoch alles andere als das aus. Er blickte mit einer Mischung aus Sorge und Frustration auf den nun leeren Türrahmen. “Wenn Sie sich da sicher sind…”
“Was? Haben Sie Zweifel?”
Jayan seufzte. “Etwas sagt mir, dass wir uns bei ihm noch nicht so sicher sein sollten.”
“Hm, also die Instigatorin war jedenfalls ziemlich stark dieses mal. Ich denke auch, man sollte ein Auge auf dem Jungen behalten, aber auf mich macht er nicht den Eindruck, als wäre noch Rebellion in ihm. Bei den bisher durchgeführten Experimenten war es so gut wie immer so, dass die Petze für den Rest ihres Lebens gehorsam war. Nur selten kam es danach zu Zwischenfällen und die konnten immer gut ausgebügelt werden.”
“Genau das ist es ja, was mich bekümmert. Jedes mal ist es genau dasselbe. Jedes einzelne mal. Irgendwie wünschte ich, es wäre nicht so.”
Wang sah lachend zu ihm. “Haben Sie etwa immer noch die naive Hoffnung, dass ein letzter Funke Rebellion ihn dazu bringen wird, heroisch für altmodische Dinge wie Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen? Lassen Sie mich jetzt nicht an Ihnen zweifeln.”
Jayan sah Wang scharf an. “Welche Hoffnungen ich habe, sollte Sie nicht kümmern.”
“Schon gut. Hätte nie gedacht, dass jemand wie Sie noch an sowas Albernes glaubt. Oder weckt der Junge womöglich väterliche Gefühle in Ihnen?”
“Dr. Wang, ich rate Ihnen, sich besser zurückzuhalten. Wenn Sie sich weiter über Ihren Vorgesetzten lustig machen, veranlasse ich, dass Sie statt dem Jungen an die Mandschurier verkauft werden. Haben Sie mich verstanden?”
Wangs Heiterkeit verflog. Für einige Sekunden starrte er Jayan an und schluckte seine Worte herunter. Dann nickte er und entschuldigte sich.
“Gut,” sagte Jayan. Sein Lächeln war wie so oft kalt und ohne Wohlwollen. “Eine Autoritätsperson hat immer Recht, verstehen Sie?”
Wang nickte. Jayan sagte dies mit einer Mischung aus Ernst und einer ähnlichen Sanftheit, wie die die er Oliver vor einigen Minuten gezeigt hat. Und dies ließ Wang erschaudern.
“Räumen Sie hier auf und machen Sie dann Feierabend,” sagte Jayan, während er seine Mappen zusammenpackte. Dann nahm er sie sowie seine Tasse Kaffee und ließ Dr. Wang in dem Raum allein.